Stimmungen, »kaltblau«
Judith Hermann stellte ihr neues Buch vor: »Nichts als Gespenster«
Selten wurde ein Werk mit so viel Spannung und Ungeduld erwartet, wie Judith Hermanns Erzählungsband »Nichts als Gespenster«. Selten wird Literatur so viel Aufmerksamkeit zuteil. Vor noch nicht einmal zwei Wochen ist das Buch erschienen, schon ist es in aller Hände und Munde. Bereits vor Beginn der ausverkauften Lesung in den Berliner Sophiensælen am Montagabend wurde im Publikum ausgiebig über Hermanns neue Erzählungen diskutiert. Ein Großteil der Besucher schien das Buch zu kennen, man sprach darüber wie über einen Klassiker, den jeder gelesen haben muss.
Seit Judith Hermann mit ihrem Debütband »Sommerhaus, später« im August 1998 einen der größten Bucherfolge des vergangenen Jahrzehnts landete, gilt die 1970 geborene Schriftstellerin als Hoffnungsträgerin der deutschsprachigen Literatur. Doch Hermann ließ sich Zeit. Im Gegensatz zu anderen Nachwuchsautoren, deren Erstveröffentlichungen bald zweite und dritte Bücher hinterhergeschoben werden, die sich oft genug nicht an der eigenen Vorlage messen können, erlaubten die Vorschusslorbeeren es Judith Hermann, viereinhalb Jahre verstreichen zu lassen, ohne dass ihr Name im schnelllebigen Literaturbetrieb in Vergessenheit geraten wäre. Dass diese Zeit ihren Erzählungen gut getan hat, beweist sie mit ihrem neuen Buch.
In »Nichts als Gespenster« knüpft Judith Hermann an den sprachintensiven, melancholischen Erzählstil an, der schon »Sommerhaus, später« kennzeichnete. Aber diesmal ist der Ton noch unaufgeregter, flüssiger. Was an den Geschichten fasziniert, ist nicht die Spannung ihrer Handlung. Eine Handlung im klassischen Sinne haben sie kaum. Es ist das bloße Beschreiben von schicksalhaften Momenten, von scheinbar zufälligen Fügungen, von meist kalten Natur- und Seelenlandschaften, von Menschen, die stets Gefahr laufen, sich in ihrer unbegrenzten Lebenswelt zu verirren. Literarischer Impressionismus, nahtlos aneinandergetupfte Eindrücke, Stimmungen. Gerade das fehlende Pathos und die Unbemühtheit um plakativ in eine Story verpackte Aussagen sind es, die an den Texten begeistern. In der besten Geschichte des Buches, »Kaltblau« betitelt, lässt Hermann eine der Figuren einen Wunsch äußern, den die Autorin selbst ihren Lesern meisterhaft erfüllt: »Und wenn man sich so verständigen könnte, denkt Jonina. Wenn man sich so verständigen könnte, ganz genau so. Er erzählt eine Geschichte, und ich höre ihm zu, und dann sehen wir uns an und wir wissen ganz genau, worum es eigentlich geht, wir wissen es, ohne dass wir es aussprechen müssten.«
Judith Hermanns literarische Figuren sind um die 30 und weit davon entfernt, einen festen Platz im Leben gefunden zu haben. Ohne ein Ziel vor Augen sind sie ständig unterwegs, getrieben meist von äußeren Kräften, nicht aus eigenem Willen. Alle sieben Geschichten in »Nichts als Gespenster« erzählen von Reisen: nach Island, Italien, Tschechien, Amerika oder Norwegen, egal. Es kommt nicht darauf an, wie die Orte heißen. Die Reisen werden nicht unternommen, um einen bestimmten Punkt zu erreichen, sie geschehen einfach. Geschehen aus einer unbestimmten Sehnsucht heraus, ungehindert von geografischen, politischen oder finanziellen Grenzen. In der Titelgeschichte treffen Felix und Ellen in einer Hotelbar in Nevada auf einen Einheimischen, der seinen Geburtsort zeitlebens nicht verlassen hat und das unlustig umherziehende Paar durch diese Gebundenheit an Heimat, an Familie fasziniert. »Er wollte wissen, was für ein Leben sie führen würden, zu Hause in Deutschland, es müsse "ein ungewöhnliches Leben sein". "Es ist nicht ungewöhnlich", sagte Ellen. "Viele Leute leben so. Sie reisen und sehen sich die Welt an, und dann kommen sie zurück und arbeiten, und wenn sie genug Geld verdient haben, fahren sie wieder los, woanders hin. Die meisten. Die meisten Leute leben so."«
Die Ungebundenheit der Personen in Hermanns Geschichten spiegelt das Gefühl einer utopielosen Generation, spiegelt auch den Zustand einer Gesellschaft, in der es kein verlässliches oder erstrebenswertes Morgen gibt. Gänzlich unkritisch, ironielos erzählt Judith Hermann von Menschen, die keiner festen Arbeit, keiner Ehe, keinem Ideal und keiner unumstößlichen Moral verpflichtet sind und diese Haltlosigkeit weder genießen, noch daran verzweifeln, sondern sie einfach hinnehmen. Wie Atome schließen sie sich hier zu einem Molekül zusammen, um von äußeren Energiequellen aus dieser kurzzeitigen Bindung gelöst zu werden und woanders neue Konstellationen einzugehen. Der Augenblick des Glücks, den sie empfinden, liegt im Bewusstwerden ihrer ewigen Verwandlungsfähigkeit. Es sind diese fotografischen Erinnerungsblitze, die bei Judith Hermann die Pointen einer herkömmlichen Erzählung ersetzen.
Ist es möglich, auf solch labyrinthischen Wegen durch ein ganzes Leben zu gehen? Oder sind Hermanns literarische Fantasien Ausdruck einer weiter und weiter in die Länge gezogenen Jugend, die irgendwann auf ihre natürlichen Grenzen stößt? Dass Judith Hermanns Figuren sich nach Stetigkeit sehnen, wird immer wieder deutlich. Wenn auch meistens versteckt, verschlüsselt. Der Satz »I love you«, gesagt nach einem Kuss, zu einem fremden Norweger, dessen Ehefrau die Szene ohne sichtbare Emotion verfolgt, löst am Morgen nach der Party bei einem Freund ungezügeltes Kichern aus, obwohl er für den Moment so wahr und ehrlich war, wie kaum etwas. »Er konnte sich nicht beruhigen, er war so erheitert darüber, und ich war das auch, grenzenlos erheitert, und darunter war etwas, das vollständig traurig war.«
Eine gute Stunde dauerte die Lesung der Erzählung »Die Liebe zu Ari Oskarson« in den Sophiensælen. Judith Hermann beginnt sichtlich nervös, mit geröteten Wangen, nach einem Halt suchenden Händen und viel zu schnell, aber fehlerfrei zu lesen. Sie sieht nicht von ihrem Buch auf, sucht den Blickkontakt zum Publikum nicht. Nur an manchen Stellen, an denen sie eine Person oder Situation so treffend beschreibt, dass die ausgelösten Assoziationen die Zuhörer unweigerlich zum Auflachen bringen, huscht ein Lächeln über ihr Gesicht. Einmal muss sie sogar mitlachen. Als sie fertig ist, bedankt sie sich kurz und bahnt sich durch den tosenden Applaus den Weg zum Büchertisch, wo sie noch lange signieren muss. Man spürt, dass Judith Hermann die Öffentlichkeit scheut. Ihre Texte sind beständiger als die impulsiven ...
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