Neun Kilometer zwischen zwei Welten

Fernöstliche Grenzüberschreitung: von Sabaikalsk nach Manzhouli

  • Sören Urbansky
  • Lesedauer: 5 Min.
Tausende Kilometer Land durchquert das Auge und meint, alles zu kennen. Die gespeicherten Bilder werden nur abgerufen, immer wieder. Monokultur Sibirien. Städte, selbst Dörfer sind austauschbar - zumindest für den Zugreisenden. Bahnhöfe unterscheiden sich oft nur in ihren Namen. Manchmal tragen sie gar nur Kilometerangaben. Alles eins.
Nur einmal pro Woche passiert der internationale Zug Moskau - Peking die Grenze bei Sabaikalsk. Fahrkarten sind Wochen vorher ausverkauft. Viele Reisende fahren deshalb s peresadkami, sie müssen umsteigen. Allein für die 462 Kilometer zwischen Tschita und Sabaikalsk braucht der Zug 16 Stunden. Güter haben Vorfahrt. Holz und Öl rollen Richtung China. Im Zug wird schon Chinesisch gesprochen. Nur wenige Mitreisende sind Russen. Russland löst sich bereits vor der Grenze auf. Chinesische Händler allenthalben. In den Abteilen wird überall Karten gespielt, die Schaffnerin kann das Rauchverbot nicht durchsetzen. Es ist kurz nach neun Uhr am Morgen, als der Zug in Sabaikalsk (»jenseits des Baikals«) einfährt, fast unbemerkt. Man nimmt die Stadt kaum wahr. Die Menschen überqueren die Gleise vor der Lok, der Zug fährt sowieso nicht weiter. Russland ist hier zu Ende - und wird noch einmal beschworen. Alle russischen Farben werden ein letztes Mal dekliniert: hellgelbe Bahnhofsfassade, grüntürkise Ölfarbe im Wartesaal, rote Gitter. Häuser wie in Podolsk oder Puschkino in der Nähe von Moskau. Einzig die Chinesen wollen nicht recht ins Bild einer russischen Provinzstadt passen. Morgens, wenn die Chinesen kommen, ist Sabaikalsk eine Stadt ohne Russen. Vor dem Bahnhof verläuft eine kleine Straße. Busse, Linientaxis, Kleinwagen; jeder versperrt jedem den Weg. In manchen Wagen klemmen Pappzettel hinter der Windschutzscheibe. Manzhouli steht auf Russisch und Chinesisch darauf geschrieben. Gepäck wird verladen. Noch neun Kilometer sind es bis in eine andere Welt. Als Grenzstadt spürt Sabaikalsk deutlich das Klima zwischen Moskau und Peking. Mehrere Eiszeiten verfrachteten den Ort ins Abseits, verdammt zu einer Soldatenhochburg in den 60er und 70er Jahren. In den 80ern besserte sich die Situation. Mit der Normalisierung der chinesisch-russischen Beziehungen und der Öffnung der Volksrepublik kam der Warenaustausch wieder in Gang. Waggons rollten wieder. Besonders in den vergangenen Jahren entwickelte sich der Handel rasant. 1999 verließen 1623 Züge den Sabaikalsker Bahnhof in Richtung China, im Jahre 2001 waren es schon 2382. 142973 Tonnen Ware rollten 2001 über die Gleise nach Osten, fünfmal mehr als 1999. Die Menschen weichen auf die Straße aus. Seit 1989 gibt es die Verbindung zwischen Sabaikalsk und Manzhouli. Auf halbem Weg liegt die Abfertigungsanlage auf einer Anhöhe. Weit reicht der Blick, Steppenlandschaft der Inneren Mongolei. Ethnisch getrennt passieren Russen und Chinesen die Grenze. Russen benutzen russische Vehikel, Chinesen chinesische. Andere Nationalitäten sind nicht eingeplant, schaffen Verwirrung, verzögern die Abfertigung. Fahrzeuge stauen sich in Dreierreihen, pulkweise werden sie in den abgeriegelten Bereich gewinkt. Noch einmal russische Strenge, Milchglas und Misstrauen. Die gleichen Fragen, der gleiche Blick wie in Scheremetjewo oder Pulkowo, zigtausend Kilometer währende Uniformität. Weder ein Hochgebirge noch ein breiter Strom bildet die Grenze, keinerlei natürliche Hindernisse, nicht einmal die Chinesische Mauer. Es gibt nur diesen roten Strich auf der Landkarte, sonst nichts. Gerade das macht diese Grenze zu einer deutlichen Trennlinie. Mit einem Mal ist alles anders. Es bleibt keine Zeit sich umzustellen. Man ist da. Auch in China muss gestempelt, ausgefüllt, unterschrieben und beglaubigt werden. Immigration Card, immerhin auf Englisch. Doch Nachfragen erfolgen auf Chinesisch. Freundliche Hilflosigkeit, zehn Beamte kümmern sich um jene zwei, die weder Russen noch Chinesen sind und aus der Reihe tanzen. Misstraut wird hier weniger offensichtlich als bei den Russen. Die Halle ist groß und weiß, an den Wänden Parolen und wie überall in China: die Tafel mit Namen und Fotos der Angestellten. Überall neue, nicht-russische Farben. Ein Soldat hebt den Schlagbaum. Er trägt weiße Handschuhe. Die Zone ist verlassen, nach zwei Stunden Ausreise und Einreise ist China erreicht. Innerhalb weniger Minuten ist das Zentrum von Manzhouli erreicht. Selbst Reisende, die gleich zum Zug nach Harbin oder Peking eilen, müssen erst die Stadt passieren. Manzhouli gibt sich als weltoffener, moderner Handelsplatz, eine Karawanserei des 21. Jahrhunderts. Hier, nicht in Sabaikalsk, rasten die Händler: im Manzhouli International Hotel, im Xiyuan oder im Beijing Hotel. Ganze Straßenzüge tragen Aufschriften wie International Travel Economic & Technology Cooperative Company oder Tourist Vehicle Company. Manzhouli lebt vom Handel und von der Grenze: Eine Million Menschen passierten 2001 die Grenze, eine Million, von denen ein großer Teil in Manzhouli übernachtet, gegessen, eingekauft hat. Geschäfte werben mit kyrillischen Aufschriften. Straßenblock für Straßenblock pflanzt die Stadt sich fort und nähert sich der Grenze zu Russland. Auf Stadtplänen sind schon Straßen verzeichnet, an denen noch keine Häuser gebaut sind. Aber das ist nur eine Frage der Zeit. Mit derzeit 120000 Einwohnern ist Manzhouli eine der größten Grenzstädte des Landes. Überall entstehen neue Gebäude, die mit ihren Spiegelglas- und Edelstahlverkleidungen das moderne China propagieren. Manzhouli ist kein Zufallsprodukt. Überall im Reich der Mitte wachsen Retortenstädte wie Pilze aus dem Boden. Alte Städte weichen neuen, einzig der Name bleibt. Gerade hier, an der Grenze zu Russland, wird deutlich, dass sie sich lossagen von Traditionen, dass sie Geschichte ignorieren: freche, respektlose Agglomerationen von Bürgern des neuen China. Menschen in diesen Städten bleibt keine Zeit für Geschichte. Hier ist Zeit Geld. Neben dem neuen Bahnhofsgebäude steht verlassen die alte Halle, so als sei für den Abriss keine Zeit geblieben. Das Bahnhofsareal ist sehr weitläufig. Zig Gleise nebeneinander, auf der Fußgängerüberführung fahren Mofas. Zum Schieben ist die Brücke zu lang. Warten müssen jetzt die Güterzüge. Zug K 492 verlässt pünktlich 17.08 Uhr den Bahnhof. Er wird seltener halten als der russische Zug Nr. 650 Tschita - Sabaikalsk. In 13 Stunden soll der Express bereits in Harbin ankommen, etwa 1000 Kilometer südöstlich. Im Zug sitzend, nach einem halben Tag Sabaikalsk - Manzhouli, nach neun Kilometern, hat der Reisende eine Grenze passiert. Er hat keine Bergpässe und keine Flussbrücken überquert. Doch was sind Flüsse und Berge gegen die vierte Dimension: die Zeit.
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