Der »Winterkampf« begann im März
Eine Ausstellung zeigt, wie in der DDR darum gerungen wurde, die Lichter nicht ausgehen zu lassen
Nie ist Braunkohle so gefragt wie im Winter. Nie wird sie aber auch unter so widrigen Bedingungen gefördert. In der DDR musste der Kälte jedes Kilowatt abgetrotzt werden, wie eine Ausstellung zum »Winterkampf« in der Energiewirtschaft zeigt.
Eisig liegt der Winter über der Lausitz. Die felsenfest gefrorene Erde knirscht unter den Schritten. Wie ein dünnes Laken überzieht der Schnee die Böschungen der Kohlegruben. Trotz strahlenden Sonnenscheins zeichnen sich die Bagger und Förderbrücken nur schemenhaft in der trüben Eisluft ab. Über den Kraftwerken aber scheinen die schlohweißen Dampfsäulen noch höher in den fahlblauen Himmel zu steigen als sonst. Keine Jahreszeit ist für die Braunkohleindustrie einträglicher als der Winter. Keine Jahreszeit aber macht es auch schwerer, den Betrieb am Laufen zu halten.»Der Braunkohlen-Bergbau hat vier Feinde«, sagt Dieter Baumann: »Frühling, Sommer, Herbst und Winter.« Den offenen Braunkohle-Gruben geschuldet, kann jede Wetterkapriole die Arbeitsabläufe durcheinander bringen. Hauptfeind indes ist für die Kumpel die kalte Jahreszeit - wobei der derzeitige arktische Winter noch als halbwegs erträglich gilt: »Wir haben uns immer 20Zentimeter Schnee im November und dann fünf Grad Frost bis zum März gewünscht«, sagt Baumann, der 45Jahre lang in der ostdeutschen Braunkohle-Wirtschaft gearbeitet hat.
Morast und Kälte, Schnee und Schlamm
Meist kommt es anders: Tauender Schnee verwandelt Tagebaue in morastige Gruben; Eisregen hüllt elektrische Leitungen in dicke Panzer; Kälte lässt Abraum und Kohle zu kompakten Brocken frieren. Um so beruhigender ist es für Großstädter in ihren geheizten, hell erleuchteten Wohnungen, wenn die Förderbänder laufen. »Trotz Schnee, Kälte und Schlamm«, titelte eine Leipziger Regionalzeitung erst unlängst, sei die »kontinuierliche Versorgung der Kraftwerke« gesichert.
Indes: Von »Winterkampf« ist bei den Braunkohleförderern in der Lausitz und im Leipziger Revier heute keine Rede mehr. Vielen Ostdeutschen klingt der heroische Begriff jedoch noch im Ohr. Jahr für Jahr wurden bei Einbruch des Winters enorme Kräfte mobilisiert, um die Energiewirtschaft des Landes am Laufen zu halten. »Wenn auf dem Berliner Alexanderplatz die erste Schneeflocke hochkant stand«, sagt Baumann, der mit 14 Jahren in die Kohle ging und es bis 1980 zum stellvertretenden Direktor eines Braunkohle-Kombinates gebracht hatte, »dann gingen bei uns die Alarmglocken los.«
»Winterkampf« - das hieß nicht nur rollende Schichten für die Beschäftigten der Kohlebetriebe. Sobald die ersten Schneestürme über die Lausitz hinwegfegten, wurden ganze Bataillone der Nationalen Volksarmee, Studenten, Beschäftigte aus der Landwirtschaft und anderen Betrieben in die Kohle geschickt - nach Lageplänen, mit deren Ausarbeitung bereits im Frühling begonnen wurde: »Der Winterkampf begann im März«, heißt es in einer Ausstellung zum Thema, die derzeit im sehenswerten Bergbaumuseum in Knappenrode bei Hoyerswerda zu besuchen ist.
»Ran musste jeder«, wird dort ein Vermessungsingenieur aus dem Tagebau Welzow-Süd zitiert: »Der Facharbeiter und der Diplomingenieur, die Frau am Reißbrett und der Chef aus der Planung. Das waren dann die Leute, die vor Ort die Weichen oder Gleise freimachen mussten.« Bis zu 70000 Menschen zusätzlich arbeiteten in den Wintermonaten daran, die DDR-Energieversorgung aufrecht zu erhalten. Das Ziel formuliert ein schon 1963 gedrehter DEFA-Dokumentarfilm eindringlich: Der menschliche Einsatz entscheide, »ob der Winter uns in die Knie zwingt oder wir ihn«.
Ins Stocken durften die Kohlezüge nicht geraten, denn die DDR-Energiewirtschaft verfügte über keinerlei Reserven. Noch Anfang der 70er Jahre hatten die Verantwortlichen gehofft, umfangreiche Lieferverträge für sowjetisches Erdöl abschließen und die Braunkohle-Förderung drastisch zurückfahren zu können. Doch die Kontrakte kamen nicht zustande. 1975 wurde die Braunkohle per Politbüro-Beschluss zum Haupt-Energieträger erklärt - eine gewagte Entscheidung. Die gesamte Volkswirtschaft, die überdies sehr energiaufwändig war, hing fortan vom kontinuierlichen Betrieb der vielen Tagebaue und Kraftwerke zwischen Zeitz und Cottbus ab.
Es war ein Ringen um jedes Kilowatt. Denn während Industriestaaten üblicherweise über Stromreserven von einem Drittel verfügen, lag die gesamte installierte Kraftwerksleistung in der DDR bei 22000 Megawatt - bei einem Bedarf, der schon in einem normalen Winter die Marke von 21000 Megawatt überschritt. Eine »katastrophale energetische Situation«, sagt Baumann: »Wir sind immer auf dem Strich gefahren.«
Kohleversorgung war die Achillesferse
Schon das längere Anhalten eines einzelnen Förderbandes konnte daher katastrophale Folgen haben. Im Viertelstundentakt mussten die Kohlezüge die Großkraftwerke in Schwarze Pumpe, Jänschwalde oder Boxberg anfahren und in dieser Zeit auch ausgeladen werden. Ab bestimmten Minusgraden war das einfach nicht mehr zu schaffen. Die Reserven in den Bunkern reichten für höchstens acht Stunden. Um Pannen zu vermeiden, wurden daher alle Hebel in Bewegung gesetzt. Als in einem strengen Winter das Schaufelrad-Lager an einem der großen Kohlebagger brach, wurde eine Interflug-Sondermaschine nach Japan geschickt, um Ersatz zu beschaffen, erinnert sich Baumann. Ungeachtet solcher, aus heutiger Sicht eher amüsanten Anekdoten sieht der Ex-Direktor in den unterlassenen Investitionen und mangelhaften Möglichkeiten zur Instandhaltung ein »wirtschaftliches Verbrechen«. Die Energiewirtschaft der DDR, die sich gern als zehntgrößte Industrienation feiern ließ, habe »auf tönernen Füßen« gestanden. Den Verantwortlichen in den Tagebauen und Kraftwerken ist das durchaus bewusst gewesen. In den Winterplänen war folgerichtig festgeschrieben, wo bei Bedarf die Elektrizität abgeschaltet wird: Zuerst wurden Karbochemie und Stahlindustrie heruntergefahren, dann sollte die Frequenz im gesamten Netz reduziert werden. Festgelegt war auch, wo der Strom auf keinen Fall ausbleiben durfte. »Die größte Sorge war, dass in Berlin das Licht ausgeht«, zitiert die Ausstellung einen Ökonomen aus dem Gaskombinat Schwarze Pumpe: »Unter allen Bedingungen« hätte das Regierungsviertel versorgt werden müssen; und auch für Westberlin waren Abschaltungen zu vermeiden - eine solche Blöße durfte sich die DDR nicht geben.
Gewonnen wurde der »Winterkampf« nicht in jedem Fall. Neben dem harten Winter 1963 hatte vor allem ein dramatischer Wetterumschwung in der Silvesternacht 1978/79 katastrophale Folgen. Ein Blizzard, der die Temperaturen binnen weniger Stunden um 25 Grad in den Keller schickte, ließ die Tagebaue »mitten im Betrieb« einfrieren, heißt es: Der Witterungseinbruch habe wie »Schockfrosten« gewirkt. Binnen kurzem mussten großflächig Strom und Heizung abgeschaltet werden; selbst in Großstädten wie Dresden blieben in der Neujahrsnacht ab halb zwei die Lampen dunkel. Neben Einschränkungen für die Bevölkerung konstatierten Fachleute erhebliche volkswirtschaftliche Schäden.
Regelmäßige Suche nach Sündenböcken
Anschließend wurden Sündenböcke gesucht: Der zuständige stellvertretende Minister, der über Silvester in Moçambique geweilt hatte, wurde beurlaubt. Völliger Unfug war das gewesen, erregt sich Baumann noch heute darüber, wie »Notsituationen immer wieder personifiziert« worden seien. Das Gegenbild waren die regelmäßigen »motivierenden« Besuche hoher Funktionäre bei den Kohlekumpels, die in der Ausstellung ebenfalls belegt sind. So vermerkt die Betriebszeitung des Kombinats Schwarze Pumpe am 26. Januar 1987 eine Visite des 1. Sekretärs der SED-Bezirksleitung bei den Winterkämpfern.
Deren Anstrengungen wurden immer wieder ideologisch überfrachtet: »Jetzt den Winter vorbereiten!«, lautet die auf einem Foto von 1973 dokumentierte Losung an einem Tagebaufahrzeug: »Wir kämpfen um die Erfüllung des Klassenauftrages, für 21 Tage Rohkohle freizulegen.« Dieter Baumann, der eine Zeitlang auch als Parteisekretär in einem Kohlekombinat eingesetzt war, ist sich indes sicher, dass die meisten Kumpel vorwiegend von ihrer Bergmannsehre angetrieben wurden: »Sie haben nicht für das Manifest so hart gearbeitet, sondern weil sie wussten: Wenn wir nachlassen, geht irgendwo das Licht aus.«
Inzwischen ist die letzte Winterschlacht längst geschlagen. Havarien und Defekte haben heute weit weniger gravierende Folgen. Die Mitteldeutsche Braunkohlen AG (Mibrag) etwa hat für besonders widrige Witterungsbedingungen einen Vorrat von bis zu 200000 Tonnen gelagert. Zudem haben die ostdeutschen Kohleunternehmen in den letzten Jahren in robuste Gerätetechnik investiert und halten Austausch-Baugruppen für Havariefälle bereit. Vor allem aber würden Ausfälle bei der Kohleverstromung durch andere Kraftwerke kompensiert, sagt Baumann, der bis zu seiner Pensionierung als Pressesprecher bei der Lausitzer Braunkohlen AG (Laubag) gearbeitet hat: »Die Konkurrenz wartet nur darauf, dass sie in die Bresche springen kann.«
Leichter ist die Arbeit in den eisigen Kohlegruben deshalb aber nur bedingt geworden. Auch unter marktwirtschaftlichen Bedingungen lässt klirrende Kälte die Schienen der Großbagger spröde wie Glas werden. Eine der Losungen, mit denen der »Winterkampf« propagandistisch begleitet wurde, behält deshalb unbedingte Gültigkeit: »Spart Energie!«
»Winterkampf«. Ausstellung im Lausitzer Bergbaumuseum Knappenrode. Bis 27.März, Dienstag bis Freitag 9 bis 15 Uhr, Samstag/Sonntag 10 bis 17 Uhr, www.saechs...
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