Der geleugnete Tod des Michael Bittner

Am 24. November 1986 wurde ein 25-jähriger Berliner Maurer beim Fluchtversuch an der Mauer erschossen

Wenn an der Grenze der DDR zu Westberlin oder zur Bundesrepublik geschossen wurde, weil anders eine »Republikflucht« nicht zu verhindern war, setzte sich sofort auch eine bürokratische Maschinerie in Gang, um militärische Vorgesetzte sowie die Partei- und Staatsführung zu informieren und um den unliebsamen Vorfall aufzuklären. Letzteres war Sache der Staatssicherheit. Auch in der Nacht vom 23. zum 24. November 1986, als zwei Posten der 3.Kompanie des Grenzregimentes 38 mit ihren Kalaschnikows schossen, um einen Mann zu stoppen, der versuchte, die Mauer zum Westberliner Ortsteil Frohnau zu überwinden, waren MfS-Leute sofort zur Stelle. In der Bezirksverwaltung Potsdam tippte Major Moder die »Information Nr.: 1847« in ein Formular: »Versuchter ungesetzlicher Grenzübertritt in Glienicke Nordbahn/ORG durch eine Person aus Berlin«. Der weitere Text ist lakonisch, doch scheint präzise zu sein: »Am 24.11.86 gegen 01.38 Uhr wurde in Glienicke Nordbahn/ORG, im Bereich der Nohlstraße, der B i t t n e r, Michael geb. 31.08.61 wh.: Berlin/Rosenthal, Friedrich-Engels-Str. 148 (nähere Angaben z.Z. nicht bekannt) durch Angehörige der Grenztruppen nach Anwendung der Schußwaffe schwerverletzt festgenommen. Der B. hatte mit Hilfe einer mitgeführten Holzleiter den Hinterlandzaun überwunden und bewegte sich im Handlungsraum der Grenztruppen in Richtung Staatsgrenze. Gegen 01.50 Uhr ist der B. am Festnahmeort seinen Verletzungen erlegen.« Unter »Maßnahmen« wurde noch festgehalten, dass die »Grenzvariante "Sandkrug"« ausgelöst wurde. Sandkrug - das klingt fast wie eine Anspielung auf die unglaubliche Verschleierungsaktion, durch die der Tod Michael Bittners bis zum Fall der Mauer geleugnet wurde und dessen Hintergründe bis heute nicht zweifelsfrei geklärt sind. Schon die zitierte MfS-Information weist Merkwürdigkeiten auf. Laut Formular wurde sie 1.45 Uhr entgegengenommen, vermerkt aber schon das angeblich erst fünf Minuten später eingetretene Ableben Bittners. Neben seinem Namen steht »erfasst: KD Pankow«. Der Maurer war in der für seinen Wohnort zuständigen MfS-Dienststelle in der Tat bekannt, denn er hatte - vergeblich - schon 1984 einen Ausreiseantrag gestellt und hielt daran fest. Doch woher wussten das die MfS-Leute am Tatort? Hatten sie etwa dort auf ihn gewartet? Dass er wenige Tage vor seinem Fluchtversuch die Gegend ausgekundschaftet hatte, steht sogar in den Akten der Westberliner Polizei, die wegen der Schüsse und der Aussage eines Augenzeugen des tödlichen Vorfalls ermittelte... Doch die Öffentlichkeit erfuhr nichts davon. Selbst in Westberlin, wo Schüsse an der Mauer stets Schlagzeilen machten, blieb es diesmal merkwürdig ruhig. Der Mutter und den Geschwistern des Erschossenen, die wegen seines Verschwindens in großer Sorge waren und sich schließlich selbst an die Volkspolizei wandten, wurde vorgegaukelt, Michael Bittner sei die Flucht gelungen. Am Tag nach seinem Tode verfügte MfS-Generalmajor Fister sogar die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen ihn. Begründung: Verdacht landesverräterischer Agententätigkeit und - gelungener - »ungesetzlicher Grenzübertritt«! Dabei befindet sich in den Justizakten auch eine »Ergänzung« der zitierten MfS-Information. Danach hielt am Tag der gescheiterten Flucht, angeblich schon um 7.35 Uhr, ein Major Kutter unter Berufung auf Oberstleutnant Lehmann von der Abteilung IX nicht nur fest, dass die Grenzposten insgesamt 32 Schuss abgegeben hatten und die Leiche zur Obduktion ins Armeekrankenhaus Bad Saarow überführt wurde. Auch deren Ergebnis habe so früh am Morgen schon vorgelegen: »Zwei Durchschüsse (Leberruptur und Herzmuskelzerreißung), hätten unabhängig voneinander zum Tode geführt.« Merkwürdig: Was soll dieser Konjunktiv in einer MfS-Meldung? Und was soll der letzte Vermerk auf dem Formular, »Bearbeitung erfolgt durch die HA IX«, bedeuten? Wenn Michael Bittner in jener Nacht ums Leben kam, war das Verfahren gegen ihn bloße Fiktion. Irmgard Bittner, seine Mutter, wollte viele Jahre nicht glauben, dass ihr Zweitältester tot ist. Obwohl alle Nachforschungen, die sie - auch mit Hilfe Bekannter in Westberlin - unternahm, ergebnislos blieben. Andererseits hat die Frau weder einen Totenschein ihres Sohnes, noch weiß sie, ob und - wenn ja - wo er begraben wurde. Sind knapp zwölf Jahre nach dem Fall der Mauer, noch immer Zweifel erlaubt? Am Tod des Maurers , der sich nicht in der DDR einmauern lassen wollte, wohl nicht. Aber dessen Umstände werfen nach wie vor viele Fragen auf. Und das, obwohl wegen der Schüsse auf Michael Bittner nicht nur die beiden Grenzposten jener Nacht und der Vize-Kompaniechef, der sie vergattert hatte, sondern auch hohe Grenzoffiziere und NVA-Generale bis zum Minister als Totschläger verurteilt wurden, Egon Krenz, letzter SED- Generalsekretär, immer noch seine sechseinhalbjährige Haftstrafe verbüßt. Außer den zitierten MfS-Informationen gibt es nur Aussagen der verurteilten Grenzer und diverser Zeugen. Danach haben der damals 20-jährige Postenführer Hartmut B. und der zehn Jahre ältere Olaf N. aus rund 150 Metern Entfernung in Richtung des Flüchtenden geschossen, der seine Leiter an die Mauer gelehnt und hochzuklettern begonnen hatte, ersterer mit Dauer-, letzterer mit Einzelfeuer, »wobei beide die Bereiche unmittelbar rechts, links und oberhalb von Michael Bittner anvisierten«, wie es im Urteil des Politbüroprozesses heißt. Ausdrücklich attestierten die Richter den DDR-Grenzern, dass sie den Tod des Flüchtlings nicht anstrebten, urteilten freilich, sie hätten sich mit dieser Folge abgefunden. Das vermag das groß angelegte Täuschungsmanöver des MfS, zu dem auch eine am 28. 11. 1986 eingeleitete Operative Personenkontrolle gegen Irmgard Bittner gehörte, in deren Rahmen Dutzende Verwandte und Bekannte erfasst und überwacht wurden, schon gar nicht zu erklären. Deshalb suchten während des Prozesses gegen B. und N. die Anwälte, die Irmgard Bittner und ihre Tochter als Nebenklägerinnen vertraten, nach anderen Erklärungen. Eine lautete: Michael Bittner sei nicht unabsichtlich aus großer Entfernung und von hinten tödlich getroffen, sondern »von den Angeklagten aus nächster Entfernung von vorne durch mehr als drei Schüsse in den Bauchbereich (Einschüsse) erschossen« worden. Beweise? Keine. Nur die vage Hypothese, die Schützen hätten Bittner für einen Angehörigen der Grenztruppen gehalten und deshalb befehlsgemäß das Feuer auf ihn sofort, ohne Warnung eröffnet. Für solch einen »Schießbefehl« gibt es aber nicht mal Indizien, es sei denn, man interpretiert die Tatsache so, dass bis heute Totenschein und Obduktionsbericht unauffindbar geblieben sind, MfS-Leute selbst das Sektionsbuch manipuliert hatten: Der Eintrag zur fraglichen Obduktion wurde herausgetrennt. Und auch zum Verbleib der Leiche existiert nur ein vager Hinweis: MfS-Leute hätten sie abgeholt, »mit einem gelb-braunen B-1000-Bus«. Warum dieser schier unvorstellbare Aufwand? Weil der Tod Michael Bittners auch aus Sicht des MfS absolut »nicht in die politische Landschaft passte«, wenige Tage vor dem 40. Jahrestag der DDR-Grenztruppen und im Vorfeld des damals mit Kohl schon fest verabredeten Honecker-Besuchs in Bonn? Auch darauf verwiesen die Nebenklage-Vertreter nachdrücklich und stellten Beweisanträge, um das Einvernehmen zwischen DDR- sowie bundesdeutschen und Westberliner Politikern zu belegen, Michael Bittner buchstäblich totzuschweigen. So lud der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) den Augenzeugen der Todesschüsse, der nicht nur bei der Polizei, sondern auch in der SFB-Abendschau darüber berichtet hatte, zu sich ein und versicherte ihn, er habe dennoch bei Verwandtenbesuchen im Osten nichts zu befürchten. Woher wusste Diepgen das, wenn nicht direkt aus der Hauptstadt der DDR... Zur Aufklärung solcher Fragen kam es nie. Die speziell für DDR-Unrecht gebildete Sonderstaatsanwaltschaft mühte sich nach Kräften, das zu verhindern. Schließlich brach das Gericht im Frühjahr 1993 die Hauptverhandlung ab, wegen Überlastung. Bei der Neuauflage im Herbst 1997 gab's dann einen »kurzen Prozess«. B. und N. erhielten Strafen von je 15 Monaten auf Bewährung. Der eigentliche Zweck des Prozesses gegen sie, die Verurteilung von Spitzenpolitikern und -militärs der DDR wegen Totschlags »als Täter hinter dem Täter« und die pauschale »Delegitimierung« der ...

Wenn Sie ein Abo haben, loggen Sie sich ein:

Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.

Bitte aktivieren Sie Cookies, um sich einloggen zu können.