Wenn das Schicksal eines Großseglers von einer einzigen Stelle abhängt

Das »Wappen von Ueckermünde« und andere Merkwürdigkeiten in einer gebeutelten Region

  • Wolfgang Rex
  • Lesedauer: 7 Min.
An der Wand hängt ein Foto. Sieht aus wie eine Grönland-Expedition. Eisberge im Hintergrund, vorn ein paar Kanus in einer schmalen Fahrrinne. Das war am 25. April 1996 am Stettiner Haff. In diesem Jahr haben wir wieder einen großen Winter, das Haff vor Ueckermünde ist Anfang März noch zugefroren. Horst Gollatz ist in Sorge. Er weiß nicht, wann sein Großsegler aus dem benachbarten polnischen Szczecin nach Ueckermünde geschleppt werden kann. Hier in Ueckermünde soll das Schiff zum ersten rollstuhlgerechten Großsegler der Bundesrepublik ausgebaut werden und wenn möglich den Namen »Wappen von Ueckermünde« erhalten. Das wäre ein Name, der für die Stadt werben könnte, meint Gollatz.
Der Mann hat bereits eine lange Geschichte rund um das Schiff hinter sich. Gollatz ist Chef bei ZERUM, einem »Zentrum für Erlebnispädagogik und Umweltbildung«. Überwiegend kämen geistig behinderte Kinder in das Haus am Stettiner Haff, so Gollatz. Natürlich werden Projekte für Behinderte gefördert: vom Land, vom Bund oder von der Europäischen Union. Wer aber Fördergelder beantragen will, der muss einen Eigenbeitrag dazu leisten. Den hatte ZERUM für den Großsegler nicht. Gollatz redete aber so lange mit den Leuten im Ueckermünder Rathaus, bis die 60000 Euro herausrückten. Damit konnte er das Schiff in Polen kaufen. Das wird, sobald das Haff eisfrei ist, bis zum ZERUM-Haus in Ueckermünde geschleppt. Für diesen Tag hat sich das ZDF angekündigt, das braucht Bilder für die Aktion Mensch wie die Lotterie Aktion Sorgenkind heute heißt. Gollatz erhofft sich einträgliche Reklame für ZERUM.

Vielleicht bringt Reklame das Geld zur Arbeit

Die Reklame braucht er. Mit dem Umzug ans andere Haff-Ufer kommt der Großsegler immer noch nicht in den Ausbau. Es fehlt ein Projektleiter, den Horst Gollatz gern über ABM finanziert hätte. Aber gerade in diesem Jahr lässt die Bundesregierung alle Programme für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen rigoros zusammenstreichen. Das trifft auch Mecklenburg-Vorpommern. Nach Angaben des Schweriner Arbeitsministeriums sank die Zahl der ABM-Stellen in Mecklenburg-Vorpommern von 35436 im Herbst 1998 auf derzeit rund 10000. In diesem Jahr wurden dem Ministerium die Mittel für die so genannte aktive Arbeitsmarktpolitik um 140 Millionen Euro gekürzt.
Ueckermünde liegt im Uecker-Randow-Kreis, der Region mit der zweithöchsten Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik. An der Spitze dieser Tabelle steht der benachbarte Landkreis Demmin. Die Statistik weist für die Stadt Ueckermünde eine Arbeitslosenquote von 26,6 Prozent aus, jeder vierte ist hier ohne Arbeit.
Arbeitskräfte wären vorhanden, Gollatz braucht nur einen Sponsor, der ihm einen Projektleiter für den rollstuhlgerechten Schiffsausbau bezahlt. Die Handwerkerarbeiten würden von 30 Azubis geleistet. Die Azubis lernen gerade in einem überbetrieblichen Berufsfortbildungszentrum und könnten im und am Schiff praktisch arbeiten. Bisher lebte ZERUM mit acht ABM-Stellen, das sind Leute, die mit behinderten Kindern arbeiten, am Haff einen Naturerlebnispfad anlegten oder auf dem Grundstück bauen. Im Sommer laufen die Stellen aus. Keine ABM mehr, auch keine für einen einzigen Projektleiter?
Der Versicherungsmakler Hans-Peter Papenfuß hat eine eigene Statistik zur Misere in der Region. Seit Oktober hätten bei ihm 15 Kunden die Lebensversicherung gekündigt. Das sei neu. In den acht Jahren vor diesem Oktober sei bei ihm nicht eine Lebensversicherung vorzeitig aufgegeben worden. Die Leute brauchen dringend Geld, um mit ihren Firmen zu überleben, sagt Papenfuß. Ein Malermeister arbeitete nach der Wende mit acht Angestellten, inzwischen habe der Mann allen gekündigt. Jetzt brauche er auch noch das Geld seiner Versicherung, Einzelhändler sitzen bei Papenfuß im Zimmer und holen die Reserven ab, um im schwierigen Jahr 2003 zu überleben. Der Versicherungsmann schätzt, dass ein Drittel der Betriebe in der Region in den Winterschlaf gegangen sind. Bei einem Teil dieser Unternehmen arbeite die Ehefrau (beispielsweise als Lehrerin) und sichere so das Geld für das tägliche Leben.
Gert Zweigler (PDS) ist Bürgermeister im Dörfchen Glasow mit 220 Einwohnern. Zweigler unterschrieb gerade einen Brief an Bundeskanzler Schröder. Der habe auch mit Stimmen aus dem Dorf Glasow bei Pasewalk die letzte Bundestagswahl gewonnen, sagt der Bürgermeister. Gemeinsam mit anderen Bürgermeistern aus der Region verlangt Zweigler in dem Brief, dass der Osten stärker gefördert wird. Der Abbau von ABM sei ein Schritt in die falsche Richtung. Ein paar Arbeitsplätze im Dorf Glasow biete die Agrar AG, eine Baufirma beschäftigt drei Leute: »Die jungen Leute gehen weg und bleiben weg«, erklärt Zweigler seine Sorgen und zitiert einen Bonner Forschungsbericht. In dem habe er gelesen: »Keine Zukunft für die Dörfer in der Uckermark.«
Der Landtagsabgeordnete Gerd Walther (PDS) bringt die Nachricht nach Glasow mit, dass die Bundesregierung womöglich mehrere Milliarden Euro für die ärmsten Regionen der Republik bereitstellt. »Wo hat das gestanden, etwa in der Bildzeitung?«, fragt der Bürgermeister nach. Walther nennt eine andere Quelle. Die Freude des Bürgermeisters ist auch mit dem Einwand nicht zu bremsen, dass mehrere Milliarden Euro auf alle Armenhäuser Deutschlands verteilt, nicht viel Geld für jedes einzelne bringe. Zweigler meint, dass nach dem Einkommen seiner Bürger der Uecker-Randow-Kreis mit Portugal vergleichbar wäre, also auf jeden Fall besonders zu fördern sei.
Das im Sommer landschaftlich reizvolle Uecker-Randow-Gebiet stieg im vorigen Herbst während der Landtagswahl zu einer PDS-Hochburg auf. Während im Landesdurchschnitt die PDS Mecklenburg-Vorpommerns acht Prozent ihrer Stimmen verlor, erzielte Gerhard Meistring, Bürgermeister von Löcknitz, in einem der beiden Uecker-Randow-Wahlkreise mit 25,9 Prozent das beste Ergebnis aller PDS-Direktkandidaten. Gerd Walther kam als Neueinsteiger im anderen Uecker-Randow-Wahlkreis über die 20-Prozent-Marke. Während Walther mit dem Glasower Bürgermeister über ABM diskutiert, vergleicht er dessen Sorgen mit den eigenen in Vogelsang-Warsin. Da ist er selbst Bürgermeister und hat vier ABM-Stellen, die ebenfalls auslaufen sollen.
Pasewalk ist der behördliche Mittelpunkt des Uecker-Randow-Kreises. In der Kreisstadt stieg die Arbeitslosenquote auf 27,5 Prozent. Gerda Striecker stellt sich als Vorsitzende des lokalen Arbeitslosenverbandes vor. Der Verband betreibt auch eine Schuldnerberatung in Pasewalk und Ueckermünde. Waren es 1993 nur 432 Bürger aus beiden Städten, die sich wegen nicht mehr zu bezahlender Schulden beraten ließen, stieg deren Zahl im Vorjahr auf 1832. Die Schuldensumme wuchs von 742000 Mark (1993) auf 3023700 Euro im Vorjahr. Jahr für Jahr musste die größte Gruppe solcher Schuldner von Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe leben. Im Vorjahr kam nur ein Selbstständiger wegen Überschuldung zu Gerda Striecker.
Die CDU-Frau kann auch mit ihrer Suppenbörse die soziale Misere in Pasewalk belegen. 1999 wurden 11869 Essenportionen ausgegeben, 2001 schon 13579. Es gibt Frühstück, Mittagessen mit Nachtisch und Nachmittagskaffee für einen geringen Eigenbeitrag. Finanziert wird das Unternehmen mit »guten Partnern« (Sport- und andere Vereine), von lokalen Betrieben und mit Fördergeldern. Auf die Frage, warum sie sich engagiere, antwortet Gerda Striecker: »Ich bin nun mal sozial angezogen.«

Erfolg für ein paar junge Pasewalker in Hamburg

Ach ja, es gibt auch mal kleine Erfolge. Friedrich Busch ist der Chef der Pasewalker Beschäftigungsgesellschaft DUBS. Die organisierte eine ABM gemeinsam mit den Hamburger Airbus-Werken. Maler wurden zu Flugzeuglackierern umgeschult. Die Hamburger waren besonders von den tüchtigen Mädchen aus Pasewalk angetan und stellten drei ein, fünf Lackierer fanden Arbeit bei der Lufthansa, derzeit haben alle zwölf ABM-Teilnehmer eine Arbeitsstelle. Die Hamburger fragten, so Friedrich Busch, sogar in Pasewalk nach, ob vielleicht noch ein paar junge Leute zum Umschulen an die Nordseeküste geschickt werden könnten.
Das Pasewalker Arbeitsamt hatte einmal pro Jahr 16 Millionen Mark für ABM zu vergeben, in diesem Jahr sind es gerade mal 744000 Euro. Von den Euro, die für die Beschäftigungsgesellschaft DUBS übrig bleiben, könnte Friedrich Busch 33 Arbeitskräfte für ein ganzes Jahr anstellen. Er will 66 Plätze schaffen und erst im Sommer damit anfangen, wenn die derzeitigen Stellen auslaufen. Das ist trotzdem ein großer Einbruch, in guten Zeiten hat DUBS 384 Leute beschäftigt, davon 235 über Arbeitsbeschaffung und 145 über Strukturanpassungsmaßnahmen.
Im Kreis Uecker-Randow arbeiten derzeit vier Beschäftigungsgesellschaften. Die Zukunft wird so sein, meint Friedrich Busch, dass sich je zwei Gesellschaften zusammenschließen und versuchen, mit weniger Geld und unter neuen Gesetzen zu arbeiten. Irgendwann brechen hier ganze Strukturen zusammen, prophezeit der Chef der Pasewalker Gesellschaft.

Am heutigen Aschermittwoch will der Arbeitslosenverband Mecklenburg-Vorpommerns in Schwerin dagegen protestieren, dass das neue Jahr zwar neue Gesetze, aber keine neuen Arbeitsplätze gebracht habe.
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