Eure Armut kotzt mich an!
Arbeitslosigkeit auf Rekordniveau - die Parks werden langsam voll
Berlin-Friedrichshain, Boxhagener Platz: Auf der Parkbank sitzt eine junge Frau, mit der einen Hand versucht sie ihren etwa zwei Jahre alten Sohn in den Kinderwagen zu drücken, in der anderen jongliert sie eine Bierdose. Der Junge wehrt sich, möchte herumtoben, spielen. Es ist Montag, 11 Uhr. Als die Frau bemerkt, dass ich sie anstarre, drehe ich mich weg. Was ich 20 Meter entfernt sehe, stimmt schon fröhlicher. Ein Spielplatz, darauf Kinder, Eltern, Fröhlichkeit, das überbordende Leben eben.
Die Frau mit der Bierdose möchte ich lieber nicht mehr sehen. Am liebsten wäre es mir, sie verschwände. Kann sich eigentlich niemand um diese Tristesse kümmern? Wo ist der Staat, wo sind die Sozialarbeiter. Der Junge tut mir Leid - wer schon so früh an seiner Entfaltung gehindert wird, kann sich motorisch und damit auch kognitiv nicht entwickeln. Asozialität kann eben doch vererbt werden. In 20 Jahren wird er den Platz auf der Parkbank mit seiner Mutter tauschen. Dort haben sie sich versammelt, die unteren Zehntausend der Gesellschaft, die Ausgestoßenen, das Lumpenproletariat, die, die mit uns saturierten Bürgern nicht zurechtkommen - und wir nicht mit ihnen. Sie haben den größten Teil des Platzes okkupiert und uns auf das kleine Areal des Spielplatzes abgedrängt. Ihre Armut kotzt mich an! Sie scheinen das zu wissen und lassen deshalb ihre Hunde den Platz zukoten.
Halt, so darf ich nicht reden. Schließlich haben wir es hier mit den Folgen einer Wirtschaftskrise und einer unsozialen Politik zu tun. Einer Politik, die die Solidarität gegenüber ihren schwächsten Gliedern aufgekündigt hat. Außerdem sind doch nicht alle so. Mein Widerwillen, die Parkbänke auf dem Platz in einem Abstand von weniger als 50 Metern zu passieren, kann durch diese politische Einsicht allerdings nicht besänftigt werden. Diese Menschen sind laut und sie lallen in alkoholisiertem Zustand meinen vierjährigen Sohn an. Der fragt mich nachher, was diese komischen Leute denn von ihm gewollt hätten. Es macht mich wütend, dass ich ihm darauf keine befriedigende Antwort geben kann. Sind es böse Menschen, fragt mich mein Sohn? Nein, böse sind sie nicht, eigentlich. Aber sie stinken? Ja, sie sind übel riechend. Armut ist nichts Heldenhaftes. Armut stinkt, Armut ist eine Schande! Solidarität wird auf eine harte Probe gestellt, wenn bereits die kindliche Nase den sozialen Unterschied registriert. Warum soll ich mich ihnen gegenüber solidarisch zeigen, wenn ich lese, dass vor einigen Monaten einige von ihnen in einem Park auf einer Versammlung im Stadtteil Prenzlauer Berg das Recht eingefordert haben, ihre Hunde überall hinscheißen lassen zu dürfen? »Lein doch dein Kind an«, bekam meine Frau einmal zur Antwort, als sie einen Hundebesitzer fragte, ob er nicht seinen Hund an die Leine nehmen könne, da sich unser Sohn fürchte.
Du musst gerecht bleiben, weil das arme Menschen sind, flüstert mir mein linkes Gewissen zu. Die Schere zwischen Arm und Reich geht in Deutschland immer weiter auseinander, viele Haushalte sind überschuldet, und hast Du nicht auch davon gehört, dass gerade in Berlin der Zusammenhang zwischen Armut und Alkoholabhängigkeit besonders deutlich ist, dass in den Bezirken Kreuzberg und Wedding besonders viele Menschen vor Erreichen des 65. Lebensjahres sterben, dass fast 30 Prozent der allein erziehenden Frauen und ihrer Kinder auf Sozialhilfe angewiesen sind, dass es - bezogen auf die Kinderzahl - im reichen Zehlendorf rund 50 Prozent mehr Kinderärzte gibt als in Kreuzberg? Weißt du nicht, fährt mein Gewissen fort, dass Langzeitarbeitslosigkeit depressiv macht, dass der Hund oft das einzige Wesen ist, mit dem sich diese Menschen noch unterhalten können, weil er ihnen zuhört, ohne Fragen zu stellen? Eine Studie der Deutschen Angestellten-Krankenkasse zeigt, dass immer mehr Menschen in Berlin unter Depressionen leiden. Zehn Prozent sollen es sein - deutlich mehr als im Bundesdurchschnitt. Das Sein bestimmt das Bewusstsein.
Armut ist keine Ausrede für asoziales Verhalten, entgegne ich meinem Gewissen trotzig. Einige der Eltern auf dem Spielplatz leben auch von Sozialhilfe, doch sie ziehen nicht mit verlausten Kötern durch die Straßen, sondern gehen mit ihnen beispielsweise zum Familienfrühstück ins evangelische Nachbarschaftszentrum, besuchen Baby-Kurse, machen sich Gedanken über ihre und die Zukunft ihrer Kinder. Die wissen, wie man sich benehmen muss.
Woher wissen die das, fragt mich mein Gewissen? Ich zucke mit den Schultern. Vielleicht ist das alles Erziehungssache, vielleicht auch der Glücksfall, im richtigen Moment am richtigen Ort die richtigen Entscheidungen für sein Leben getroffen zu haben. Möglicherweise gibt es für jeden Menschen nur einen solchen Moment, und wer den verpasst hat, hat eben sein Leben verpasst. Dabei will diese Stadt doch alles andere sein als ein Ort der verpassten Lebenschancen. Hunderttausende kamen nach der Wende nach Berlin, auch, um der dörflichen oder kleinstädtischen Enge zu entfliehen. Was sie gefunden haben, ist eine andere Form der Einengung. Nirgendwo sonst ist der Mensch so sehr graue Masse wie in dieser Stadt. Soziale Regeln sind hier zu Ausnahmebestimmungen erklärt worden, an die man sich nur hält, wenn es dem Augenblicksvorteil dient. Tempo-30-Schilder werden geflissentlich übersehen, die Gehwege werden zugeparkt und die Polizei tut nichts dagegen. Verbotsschilder sind im Straßenverkehr Dekoration, sie simulieren staatliche Autorität nur. Berliner Behörden haben ein merkwürdiges Verhältnis zur Autorität: sie wollen sie absolut durchsetzen und weil das immer weniger gelingt, verzichten sie gleich auf jegliche Autorität.
Mein liebes Gewissen, Du forderst Verständnis ein, wo du doch weißt, dass ich nicht verstehen kann, warum man seine Kinder nicht auf den Spielplatz lässt, nur damit man sich in seine Alkoholsucht fallen lassen kann? Diese Stadt war doch schon immer so, treues Gewissen. Bereits vor 150 Jahren gab es Klagen über die besoffenen Berliner Eckensteher, die die Passanten anpöbelten. Die Stadt hat keine eigene Identität, keine Tradition, an der sich die Menschen in Krisenzeiten wie dieser festhalten können. Weshalb sie sich eben an Bierdosen klammern. Hier herrscht das Recht des Stärkeren, genauer: das Recht desjenigen, der durch die Menschen hindurchblicken kann. Asozialität wird hier mit Rebellion verwechselt. Wenn alle an sich denken, ist an alle gedacht, lautet die stille Übereinkunft der Hunderttausenden, die den Millionen in dieser Stadt ihren Willen aufzwingen. Wenn in Neapel ein Autofahrer bei Rot über die Ampel fährt, hupt er, um Fußgänger und andere Autofahrer gleichermaßen zu warnen. In Berlin wird gehupt, um Fußgänger, die bei Grün über die Ampel gehen, von der Fahrbahn zu scheuchen.
Ich wohne in einer Straße, in der es auf 100 Meter ein Dutzend Kneipen gibt. Das politische Berlin nennt das Szene, urbanes Leben, das sich ausprobiert. Das ist Selbstbetrug, sind die Kneipen doch längst in der Hand einiger weniger Besitzer, die ihre Kneipen-Klone über den halben Bezirk verteilt haben. Ich nenne das Lärmbelästigung, Einschränkung von Lebensqualität, wenn tagtäglich Tausende sich die Straße lang wälzen, um ihre Bedürfnis nach Amüsement auf meine Kosten zu befriedigen. Doch gibt es auch welche, die dagegen sich wehren. Mit ihnen will ich aber auch nichts zu schaffen haben. »Reclaim the street« hat jemand von ihnen an eine Wand des Nachbarhauses gesprüht. Wer fordert da mit welcher Berechtigung die Straße für sich ein? Es sind die gleichen, die die festliche Eröffnung eines neugestalteten Kinderspielplatzes stören wollten, weil sie das als Yuppiesierung des Kiezes empfanden. Auch diese Rebellen wollen nur das, was sie den Yuppies vorwerfen: rücksichtslos das eigene Lebensmodell durchsetzen.
Berlin, mein liebes Gewissen, ist zum Modellfall der neuen Gesellschaft geworden. Einer Gesellschaft, die keine heterogene Zusammensetzung mehr kennt, ein Konglomerat austauschbarer Vereinzelter. Wir leben in Berlin in Parallelwelten, die meisten haben das nur noch nicht begriffen und der Rest der Republik weiß noch nicht, was von der Hauptstadt aus seine Bürgerlichkeit in Stuttgart, München oder Frankfurt bedroht. Da kommt nicht zusammen, was einmal zusammen gehören sollte. Auf den öffentlichen Plätzen, bevorzugt in den Stadtparks, treffen diese Welten aufeinander. Mit Bierdosen und Hunden okkupieren die einen den Platz. Weil sie sich in den sanierten und auf Schick getrimmten Bars nicht mehr wohlfühlen können, drängen sie die anderen auf den hundekot- und bierdosenfreien Spielplatz ab. Die ziehen sich angewidert zurück. Jeder bleibt hier unter seinesgleichen. Manchmal steigt einer auf, schafft die 20 Meter bis zur Zivilisation ...
Und immer öfter fällt einer hinunter, unverschuldet wahrscheinlich, mahnt mein Gewissen Einsicht an. Ja doch, entgegne ich trotzig. Ich kenne auch einige davon. Doch lassen die sich nicht so hängen wie diese Penner da auf den Parkbänken. Sie stecken das wenige Geld, das ihnen von der Sozialhilfe übrig bleibt, in die Bildung ihrer Kinder und bringen es nicht in die nächste Trinkhalle. Es ist doch erfreuliche Wahrheit, dass es Menschen gibt, die Armut auch in Würde leben und dagegen ankämpfen können. Der Alkoholiker, der von seiner Frau verlassen wurde und den die Abwärtsspirale in die Gosse drückte, hätte sich auch anders entscheiden können - zum Beispiel hätte er zu saufen aufhören können.
Jetzt gehst du aber mit deinen Mitmenschen allzu hart ins Gericht, erwidert mein linkes Gewissen. Alkoholsucht ist eine Krankheit, aus der niemand ohne Hilfe zu entkommen vermag. Und: Gibt es nicht auch Gutes in dieser Stadt, gar Menschen, die Zivilität noch leben? Wenn du mich so fragst, ja, ich kenne sie, doch sie gibt es offiziell gar nicht. 3,5 Millionen Menschen hat Berlin. Einige meinen, in Wirklichkeit sind es fast vier Millionen Einwohner - eine halbe Million lebt illegal hier. Sie sind der Prototyp des neuen Metropolenmenschen. Sie haben die Anonymität in der graue Masse wirklich als Vorteil für sich entdeckt. Sie sind beständig darauf bedacht, niemals aufzufallen, sich anzupassen, ohne sich aufzugeben. Sie arbeiten schwarz, aber sie fahren nicht schwarz, gehen nie bei Rot über die Ampel, halten sich an alle Verkehrsregeln, begehen keine Ladendiebstähle. Daran kann man sie von den legal in der Stadt wohnenden Berlinern unterscheiden. Sie tauchen in keiner Statistik auf - in einer Arbeitslosenstatistik schon mal gar nicht. Ihre Armut kotzt mich in der Ta...
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