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Im Gespräch mit dem »Luftkind«
Irina Korschunow versteht, dramaturgisch gewitzt zu erzählen
Der Roman stand wohl auf der redaktionellen Wunschliste, wäre aber vielleicht ungelesen geblieben - ein »Herbsttitel«, doch inzwischen sind die Frühjahrsprogramme da. Aber dann hat sich die Frau des Rezensenten den Band aus dem Stapel der Presseexemplare gegriffen und ihn genervt, warum er nicht längst die »Liebes«-Geschichte Freda von Rützows und Harro Hochbergs einem breiten Publikum wärmstens weiterempfohlen habe. Vielleicht hat ihn seine Scham, die Erzählerin Irina Korschunow erst über diesen Roman kennen und schätzen gelernt zu haben, ausgebremst. Sein Zuspruch für »Das Luftkind« fällt dafür umso deutlicher aus.
Denn mit diesem Buch ist es der Autorin gelungen, Geschichte glaubwürdig und nacherlebbar von unten, aus individuellem Erleben heraus zu gestalten. Freda, Tochter des Friedrich von Rützow, eines Gutsherrn alten Schlages, kostet bei ihrer Geburt die 17 Jahre junge Mutter das Leben. Zur standesgemäßen Erziehung wird sie einer gestrengen Gouvernante anvertraut und danach, trotz oder gerade wegen früh erwachtem Freiheitsdrang und Emanzipationswillen, in nicht minder oppressive Lehrstifte gesteckt. Als ihr auch das Abitur verweigert wird, hängt das schwärmerische Mädchen völlig in der Luft. Es fällt einem herumstreunenden Maler leicht, den künstlerisch talentierten Teenager zu verführen. Fredas Schwangerschaft muss vor der Öffentlichkeit verborgen bleiben, so kommt sie in einem gefängnisähnlichen hessischen Nonnenkloster nieder; das Kind wird ihr kurz nach der Geburt entrissen und bleibt ihr für immer verwehrt. Die stolze Tochter bricht mit Vater und Stiefmutter, nutzt ihr mütterliches Erbe zur Finanzierung eines Studiums, lässt sich, seelisch verhornt, schließlich als Sprach-und Kunstlehrerin im Städtchen Hünneburg nieder. - Und bleibt die ganze Zeit über heimlich mit ihrem »Luftkind« im »Gespräch«.
In Hünneburg schürzt sich der Schicksalsknoten: Die junge Lehrerin ersteht dank ihrer Erbschaft das altehrwürdige Haus des jüdischen Apothekers Blumenthal, der mit dem Erlös noch gerade rechtzeitig vor den Nazihäschern aus Deutschland fliehen kann. Der Kauf wird notariell beurkundet von Dr. Hochberg, der alles daran setzt, seine jüdische Herkunft aus den Personalakten zu tilgen - in der Hoffnung, den völkermörderischen Nazis zu entgehen. Sohn Harro - tragische Ironie! - ist begeisterter Nazi-Pimpf. Seine Vorstellungs- und Wertewelt bricht zusammen, als die braunen »Ahnenforscher« den Listen seines Vaters auf die Schliche kommen und ihm der Heldentod für »seinen« Führer versagt bleibt. Die Eltern Hochberg nehmen Gift, der Sohn aber findet dank der Hilfe von Freunden ausgerechnet in der Wohnung Freda von Rützows Unterschlupf ...
Zugegeben, die Geschichte liegt in der Nähe zum Kitsch. Doch Irina Korschunow erweist sich als Meisterin flotten, stringenten und trotzdem psychologisch plausiblen, zudem dramaturgisch mitunter beinah verschmitzten, gewitzten Erzählens. Es ist ihr gelungen, vorzuführen, wie Ende der Zwanziger und Anfang der Dreißiger bösbraunes Gedankengut bedrohlich von unten herauf in Stadt und Land deutsche Gemüter infiltriert und zwischenmenschliche Beziehungen nachhaltig vergiftet. Man liest das Buch in einem Zug, erlebt klopfenden Herzens mit, wie es Freda von Rü...
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