»Aufs tote Gleis rangiert«

Vor 100 Jahren wurde Peter Huchel geboren

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 6 Min.
Lieber wäre er wohl in den Norden gezogen, dorthin, wo die Landschaft den Vergleich mit der Mark zuließ, aber dann wurde es doch Staufen, Staufen im Breisgau, nicht weit von Freiburg entfernt. Erhart Kästner, der Bibliothekar und Schriftsteller, hatte ein Haus gefunden, einen geräumigen »Fuchsbau« mit Schwimmbad, Liegewiese, Hobbyraum und herrlichem Blick auf Kaiserstuhl, Vogesen und Rheinebene. Dazu gabs einen jungen Millionär, der bereit war, für den prominenten Dichter die Miete zu zahlen. Noch war kein Jahr seit dem 27. April 1971, der Ausreise Huchels aus der DDR, vergangen.
In Staufen hat er die Jahre bis zu seinem Tod im April 1981 verbracht, erst in den geliehenen, dann, seit September 1975, in den Wänden eines eigenen Hauses, seiner »Kate«. Er nannte sie eine »recht gute Notherberge«. Er dramatisierte ein bisschen. Er klagte häufig, aber es ging ihm inzwischen ziemlich gut. Er erhielt Preise, und er reiste viel. Oft war er unterwegs, um eigene Gedichte zu lesen. Er nannte es anders: Er fahre herum »und knalle den Leuten manchmal ein paar hundert Metaphern ins Gesicht«. »Die Jagd nach Zechinen«, schrieb er, sei »zum Kotzen«. Der Groll, aufgestaut in der schmachvollen Zeit seines Exils mitten in der DDR, machte sich immer wieder bemerkbar. Zuweilen, wenn Besucher kamen und entzückt die schöne Aussicht priesen, soll er mit Wutausbrüchen reagiert haben. Er hatte ein Domizil (und auch sein Auskommen) gefunden. Der Schmerz um die verlorene Heimat war stärker. Die Heimat, unerreichbar nun, verdunkelt von bitteren Erfahrungen, lag dort, wo er die längste Zeit seines Lebens verbracht und wo man ihm das Dasein zuletzt zur Hölle gemacht hatte. Er war in Berlin-Lichterfelde geboren worden, aber schon als Kind hatte er, betreut von einer Magd, längere Zeit auf dem Hof des Großvaters in Alt-Langerwisch verbracht. Die Landschaft mit ihren Seen, Wiesen und Feldern, den Mägden, Zigeunern und Hirten hat auch den Lyriker geprägt. Gedichte schrieb Huchel schon seit 1918. Sechs Jahre später gelang ihm die erste Veröffentlichung, und zwischen 1930 und 1933 war er Mitarbeiter der renommierten, von Willy Haas redigierten »Literarischen Welt«.
Mit Recht hat er sich 1974 in einem Interview gegen Versuche gewehrt, ihn fortan zur westdeutschen Literatur zu rechnen. Er sei, sagte er störrisch, schon vor 1933 dagewesen, habe seine Wurzeln also weder in der DDR noch in der Bundesrepublik. Freilich: Auf den ersten Gedichtband, erschienen im Aufbau-Verlag, hat er bis 1948 warten müssen. Peter Huchel arbeitete inzwischen (nach Kriegsteilnahme und Gefangenschaft) als Sendeleiter, dann als künstlerischer Direktor des Berliner Rundfunks. Es sollten nur noch Monate vergehen, bis er auf Vorschlag Johannes R. Bechers die eben gegründete Zeitschrift der Akademie der Künste übernahm. Sie erhielt den Namen »Sinn und Form«. Damit begann jene glanzvolle Epoche in seinem Leben, die ihn berühmt und zum spektakulären »Fall« machte. Er hatte kaum mit der Arbeit begonnen, als er schon auf Widerstände, Einsprüche und Verdächtigungen stieß. Der Start mit einem Sonderheft Brecht - »ganz nach meinem Geschmack«, wie Huchel später erklärte - gelang noch, ohne dass es Wirbel und Proteste gab. Aber schon die zweite Nummer rief die Kritiker auf den Plan, und die Vorwürfe blieben von nun an immer dieselben. Er brachte zu viel Literatur aus dem Westen, Essays von Benjamin, Adorno, Horkheimer, Bloch und Ernst Fischer, dazu Gedichte und Prosa von Autoren, die nicht gerade zu den Favoriten staatlicher Kulturlenker zählten. »Sinn und Form«, meinte Hans Magnus Enzensberger in einem Fernsehinterview, war ein Fenster zur Welt, und absurd war daran nur, dass die Zeitschrift nicht in der Bundesrepublik, sondern in der DDR erschien. So viel Welthaltigkeit, die sich um Vorgaben nicht kümmerte, verursachte zunehmend staatliches Unbehagen. Der erste Versuch, Huchel von seinem Stuhl zu entfernen, fiel schon ins Jahr 1953. Eine Reise nach Moskau, die er völlig ahnungslos antrat, bot die willkommene Gelegenheit, ihm das Kündigungsschreiben ins Haus zu schicken mitsamt einer vorbereiteten Selbstbeschuldigung, die, gezeichnet mit seinem Namen, im nächsten Heft erscheinen sollte. Der Anschlag scheiterte letztlich an der Intervention Brechts.
Die Scherereien begleiteten Huchel durch die Jahre. Der Ton wurde gereizter, schärfer, unduldsamer. Man zitierte ihn in die Akademie. Abusch fragte scheinheilig, ob er nicht wenigstens einmal Walter Ulbricht gewürdigt habe. Kurella unterstellte ihm, er habe in zehn Jahren die Existenz der DDR nicht erwähnt. Und Hager meinte irgendwann entrüstet, »Sinn und Form« gemahne ihn »an einen englischen Lord«. Worauf ihm Huchel, nach der Schilderung Hans Mayers, bedeutete: »Das Wort "englisch" zum Lord hätte ich Ihnen, Herr Hager, in einem Manuskript sofort gestrichen. Damit Sie sehen, in welchem Geist ich redigiere.«
Es konnte nicht gut gehen. Und wirklich: Ende 1962 (Huchels Gönner Brecht und Becher waren tot, und die DDR hatte sich inzwischen mit einer Mauer abgeschottet) schlug die Stunde der Hardliner: Der Chefredakteur wurde von seinem Posten vertrieben und, wie ers nannte, »aufs tote Gleis rangiert«. Von da an lebte Huchel, geschmäht, isoliert, schikaniert, dazu ohne Einkommen und Reisemöglichkeit, wie ein Aussätziger in seinem Haus in Wilhelmshorst, besucht nur von den Freunden, bespitzelt vom Nachbarn und drangsaliert von den örtlichen Behörden. Erst nach Jahren ließ man ihn, unter Druck gesetzt von internationalen Protesten, endlich ziehen. Die Ausreise hatte, abgesehen vom publizistischen Echo, das sie in der Bundesrepublik hervorrief, keinerlei Folgen. Man musste nicht einmal Bücher aus den Regalen holen, um Käufer und Leser vor ihnen zu bewahren. Es gab keine. Der Gedichtband von 1948 war seit langem vergriffen. Es hatte weder eine Nachauflage noch eine weitere Sammlung gegeben. Und während Huchel im Westen seine Verse publizierte und mit Preisen bedacht wurde, blieb er, einer der großen Lyriker des 20. Jahrhunderts, in der DDR ein Mann, der nicht existierte.
Das Haus im Wilhelmshorster Hubertusweg, 1954 gekauft und bald schon ein Ort der Flüche und des Leidens, ist seit 1997 Gedenkstätte und Literaturhaus. In der oberen Etage, wo einst Huchel seine Verse schrieb, wohnt jetzt Lutz Seiler, Lyriker auch er (und Anna-Seghers-Preisträger des vorigen Jahres), ein leiser und rühriger Mann, der alles tut, damit der Fremde, der Huchel einmal war, kein Unbekannter bleibt. Seiler hat, neben Peter Walther, auch das schmale Heft der Reihe »Text + Kritik« betreut, die Jubiläumsausgabe zum 40. Geburtstag der Zeitschrift und 100. Geburtstag Peter Huchels, eine Nummer mit schönen Erinnerungen und eindringlichen Würdigungen. Zu den Beiträgern gehören Elisabeth Borchers, die damals Lektorin bei Suhrkamp war, der Schriftsteller Christoph Meckel, dessen Vater mit Huchel befreundet war, Adolf Endler und, nicht zu vergessen, Fritz Erpel, der zwischen 1957 und 1962 gewissenhaft als »Sinn und Form«-Redakteur gearbeitet hat. Dazu gibt es, erstmals veröffentlicht, einen kleinen Text, in dem Huchel erzählt, wie Brecht ihm das in einem Gedicht verwendete Wort »Gnade« ausreden wollte.
Das schönste und anspruchsvollste Buch zum Zentenarium indes hat ein Verleger in Wilhelmshorst ediert. Nach dem Bändchen »Wegzeichen«, einem Peter-Huchel-Lesebuch von 1999, legt Klaus-P. Anders in seinem Märkischen Verlag einen attraktiven Bildband vor, überschrieben mit der Huchel-Zeile »Langsam dreht sich das Jahr ins Licht«. Axel Vieregg, der wohl beste Kenner des Werks, hat ihn herausgegeben, und von Sabine Breithor stammen die Fotos, die die Strophen des Dichters mit eindrucksvollen Aufnahmen kontrastieren. Das Buch ist auch so etwas wie eine Ehrenrettung des Ortes und seiner Gemeindevertretung, der es nach langen, aufgeregten Debatten nicht gelang, die Potsdamer Straße zwischen Langerwisch und Wilhelmshorst zum 100. Geburtstag in Peter-Huchel-Chaussee umzubenennen.


Peter Huchel: Langsam dreht sich das Jahr ins Licht. Hg. von Axel Vieregg. Märkischer Verlag Wilhelmshorst. 150 Seiten, geb., 49,90 EUR.
Text + Kritik. Heft 157: Peter Huchel. Hg. von Heinz Ludwig Arnold mit Lutz Seiler und Peter Walther. 98 Seiten, brosch., 14 EUR.
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