Der Mond sei Herr über die Zeit

Nach dem islamischen Kalender leben wir erst im Jahr 1424

Jede Religion hat ihre eigene Zeitrechnung. Christen zum Beispiel zählen die Jahre seit der vermeintlichen Geburt Jesu. Hingegen nimmt der jüdische Kalender Bezug auf die Schöpfung der Welt, die nach rabbinischer Auffassung vor 5763 Jahren erfolgt sein soll. Mithin leben wir laut jüdischer Zeitrechnung heute im Jahr 5763.
Ausgangspunkt des islamischen Kalenders ist die so genannte Hedschra, die Auswanderung Mohammeds von Mekka nach Medina im Jahr 622 unserer Zeit. Man könnte daher glauben, dass wir uns nach islamischem Kalender derzeit im Jahr 1381 befinden, denn 1381 plus 622 ergibt 2003. In Wirklichkeit aber schreiben die Menschen in der arabischen Welt bereits das Jahr 1424 nach der Hedschra. Wie ist diese Differenz zu erklären?
Anders als der im Westen gebräuchliche Gregorianische Kalender, der sich am Lauf der Sonne orientiert, ist der Kalender der Muslime ein reiner Mondkalender. Zwar hat das Jahr auch hier zwölf Monate, doch diese sind abwechselnd nur 29 bzw. 30 Tage lang, was in der Addition eine Jahreslänge von 354 Tagen ergibt. Damit ist das islamische Mondjahr sogar etwas kürzer als das astronomische, dessen Länge bei 354,367 Tagen liegt. Um diesen Unterschied auszugleichen, wird der letzte Monat des islamischen Jahres elfmal in 30 Jahren um einen zusätzlichen Schalttag verlängert.

Theologische Bedenken gegen das Sonnenjahr
Was der Koran hingegen als »Mehrung des Unglaubens« strikt verbietet, ist die Angleichung des Mondjahres an das ca. 11 Tage längere Sonnenjahr. Folglich sind nach etwa 33 Sonnenjahren bereits 34 Mondjahre vergangen, so dass der Abstand zwischen islamischer und abendländischer Zeitrechnung immer mehr schrumpft. Derzeit beträgt er nur noch 579 Jahre, weswegen Muslime offiziell im Jahr 1424 leben.
Darüber hinaus durchlaufen die islamischen Monate und Jahreszeiten in etwa 33 Jahren das gesamte Sonnenjahr. Somit kann der für Moslems so wichtige Fastenmonat Ramadan sowohl im Winter als auch, rund 15 Jahre später, im Sommer liegen. Islamische Gelehrte betrachten dies durchaus als Vorteil, da die Gottesverehrung nicht durch Naturkulte oder ähnliche Bräuche überlagert oder gar gestört werde. Dass der Mond Herr über die Zeit sei, wie der Koran fordert, hat einen plausiblen historischen Grund: Die Beobachtung des Erdtrabanten war am zumeist klaren Nachthimmel über der arabischen Halbinsel viel leichter möglich als in Gebieten, in denen sich der Himmel oft wolkenverhangen zeigt. Ein neuer Monat beginnt für Muslime immer dann, wenn zwei verlässliche Zeugen die erste Mondsichel nach Neumond erblickt haben. Diese subjektive Datierung war solange kein Problem, als die islamische Welt noch einen geographisch überschaubaren Raum bedeckte. Heute, wo dieser von Westafrika bis Indonesien reicht, kann es geschehen, dass der Mond im Osten bereits eine Nacht früher sichtbar ist als im Westen. Um letztlich zu vermeiden, dass durch diese Differenz der Fastenmonat Ramadan je nach geographischer Lage an verschiedenen Tagen beginnt, wird das verbindliche Datum für den Monatsanfang heute von den religiösen Autoritäten in Mekka festgelegt und an alle Muslime weltweit übermittelt.

Der neue Tag dämmert schon am Abend
Wie die christliche hat auch die islamische Woche sieben Tage. Allerdings beginnt der Tag im Islam nicht um Mitternacht, sondern wie im jüdischen Kalender mit dem Sonnenuntergang und endet, wenn die Sonne erneut untergeht. So gehört zum Beispiel der hiesige Donnerstagabend bereits zum Freitag und wird mithin gern für religiöse Zwecke genutzt. Denn der Freitag ist für Muslime ein besonderer Tag, nämlich der »Tag der Versammlung« und des gemeinschaftlichen Gebets in der Moschee zur Mittagszeit. Und er ist der Tag der Hedschra, die im Jahr 638 unserer Zeit durch Kalif Omar I. auf Freitag, den 16. Juli 622, fixiert wurde. Einen Ruhetag, der etwa mit dem jüdischen Sabbat oder dem christlichen Sonntag vergleichbar wäre, gibt es im Islam hingegen nicht.
Heute dient der islamische Kalender vor allem der Bestimmung der religiösen Feiertage, deren Zahl im Vergleich zum Christentum recht bescheiden ausfällt. Kanonische Feste werden sogar nur zwei gefeiert: das Opferfest im Monat der Pilgerfahrt nach Mekka und das so genannte Fastenbrechen am Ende des Ramadan. Für das Geschäftsleben indes erwies sich der Mondkalender bereits im Mittelalter als hinderlich. Denn das Wandern der Monate durch das Sonnenjahr machte diese unbrauchbar als Orientierungspunkte für die landwirtschaftliche Produktion. Und so wurden auch in der islamischen Welt entgegen dem Koranverbot Sonnenkalender entwickelt, um etwa die Termine für die Entrichtung von Steuern und Abgaben fest an die Zeit der Ernte zu koppeln. Zwar haben sich einige dieser lokalen Kalender bis in die Gegenwart erhalten, zum Beispiel in Iran. Allein für die offizielle Kommunikation wird in fast allen arabischen Staaten - mit Ausnahme von Saudi-Arab...

Wenn Sie ein Abo haben, loggen Sie sich ein:

Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.

Bitte aktivieren Sie Cookies, um sich einloggen zu können.