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Das Haus am Ende des Tunnels
Vor zehn Jahren erbaut, ist der ehemalige Kriegstunnel von Sarajevo heute ein Familienmuseum
800 Meter lang, 85 Zentimeter breit, 170 Zentimeter hoch: Der Tunnel unter dem internationalen Flughafen von Sarajevo war während der dreijährigen Belagerung der Stadt die Überlebensader für die eingeschlossene Bevölkerung.
Das heutige privat betriebene Museum erinnert an die Vergangenheit und ist gleichzeitig willkommene Einnahmequelle in Zeiten wirtschaftlicher Depression. Edis Kolar kann viele Geschichten über »seinen« Tunnel erzählen. Er hat Soldaten durch den Tunnel laufen sehen, hat Verwundete durch den Tunnel getragen und frisch verheiratete Brautpaare durch den dunklen Schacht geleitet. Die Geschichte des Kriegstunnels von Sarajevo ist seine Geschichte und die seiner Familie. Als im Frühjahr 1992 Geschosse der jugoslawischen Armee ihr Haus trafen, begann auch für Familie Kolar der Krieg. Edis' Großeltern, die im Haus geblieben waren, überlebten den Angriff nur knapp. Die Entscheidung, ihr Grundstück der bosnischen Armee zu übergeben, fiel der Familie nicht schwer. Dass ausgerechnet der Garten der Kolars als Eingang des riskanten Bauprojekts gewählt wurde, war Zufall - ein Zufall, der für das Leben der Großfamilie von weit reichender Bedeutung sein sollte. Der Tunnel wurde zum Mittelpunkt ihres Alltags. Im April 1993 nach drei Monaten geheimer Grabungen fertig gestellt, war der Tunnel Transportweg für Militärgüter, Medikamente, Nahrungsmittel und vieles mehr, was im eingeschlossenen Sarajevo gebraucht wurde. Die unterirdische Verbindung diente Soldaten, Politikern, Journalisten, Hilfskräften und auch Privatpersonen als Weg aus der Stadt und in die Stadt - zu gefährlich war der Weg über das offene Rollfeld des Flughafens. Dank des Tunnels habe es Sarajevo geschafft, sich der serbischen Eroberung zu widersetzen, erklärt der heute 28-jährige Edis stolz. Seine Großeltern lebten damals in der Garage neben dem Haus, versorgten Soldaten mit Brot und Wasser und teilten ihren kleinen aber warmen Raum mit frierenden Menschen. Vater Bajros Aufgabe war es, die Transporte durch den Tunnel zu organisieren, Edis arbeitete bei der Militärpolizei und war für die Sicherung des Tunnels zuständig. »Mein Haus war der Eingang des Tunnels, der 300000 Menschenleben rettete«, erklärt Edis. So viele Einwohner zählte Sarajevo damals. Heute ist das Haus ein privates Museum. Mit Routine führt der Museumsbesitzer die zahlreichen Besucher durch die dreiteilige Ausstellungswelt, bestehend aus einem 20 Meter langem Originalstück des Tunnels, einem Raum mit Objekten aus der »aktiven Zeit« sowie einer Art »Gedenkzimmer« mit Reliquien. Vieles hat die Familie hinüberretten können: Nahrungsmittelsäcke, einige Transportkarren und Werkzeuge, die damals zum Tunnelbau verwendet wurden, liegen heute neben neueren Souvenirs: Abzeichen und Flaggen, die die zahllosen internationalen Soldaten und Ehrengäste als Dankeschön hinterließen. Es sind vor allem die ausländischen Gäste, die mit ihren 2,50 Euro Eintritt pro Person den geschäftlichen Erfolg des »Familienbetriebes« garantieren. Immer weniger Einheimische lassen sich in der »Ulica Tuneli Nr. 1« blicken. Vielleicht ist ihnen die Geschichte des handgegrabenen Tunnels, der 300000 Menschen das Leben rettete, ein wenig zu märchenhaft. Es wird Edis und seiner Famile egal sein - und wer will es ihnen verdenken? Die Legende lebt. Ob deutscher SFOR-Soldat, arabischer Tourist oder US-amerikanischer Botschafter: Der Besuch des Tunnelmuseums ist vielleicht gerade deswegen so beliebt, weil er dem Besucher das oft so lästige und mühsame Reflektieren abnimmt. Kritische Fragen wie die, ob wirklich jeder Einwohner eine Passiererlaubnis für den Tunnel bekommen konnte (schließlich war der Propaganda-Effekt der »leidenden Menschen in der eingeschlossenen Stadt« ein Trumpf der bosnischen Regierung in internationalen Verhandlungen), beantwortet Edis ungern. Meistens muss er das auch gar nicht. Das sei es nicht, was die Leute hören wollten, erklärt der Geschäftsmann amüsiert und schiebt die moderne Sonnenbrille zurecht. Viel eher müsse er immer wieder die Geschichte erzählen, wie er Präsident Alija Izetbegovic durch den Tunnel geschoben hat. Der soll sich mit den Worten »Ich bin Ihnen sehr dankbar, junger Mann« erkenntlich gezeigt haben. Die Besucher lechzen förmlich nach diesen authentischen Geschichten mit Gänsehaut-Garantie. Edis hat sich auf die Wünsche seiner Gäste eingestellt. Es gibt nicht viele Bosnier, die den kapitalistischen Grundsatz von Angebot und Nachfrage derart verinnerlicht haben wie Edis und der Kolar-Clan. Sie haben es sich in ihrem Museum nicht zur Aufgabe gemacht, objektiv über den Krieg zu berichten. Das Ziel sei, die Erinnerung an den Tunnel und die damit verbundenen Geschichten und Ereignisse am Leben zu erhalten, »damit das, was wir erlebt haben nie wieder passieren wird«. So steht es in der kleinen Broschüre, die mittlerweile auf vier Sprachen am Eingang erhältlich ist. Für 2,50 pro Stück - etwa die Hälfte des durchschnittlichen Tageslohns in Bosnien und Herzegowina. Der Sonderbeauftragte der USA, Richard Holbrooke, nannte das kleine Museum in seinem Gästebucheintrag vom Oktober 2000 »eine Verbindung zwischen tragischer Vergangenheit und hoffnungsvoller Zukunft«. Für Edis Kolar und seine Familie hat die hoffnungsvolle Zukunft d...Zum Weiterlesen gibt es folgende Möglichkeiten:
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