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Die letzten Wärter von Pianosa
Auf Pianosa saßen vor fünf Jahren noch die Paten der Mafia in Haft. Jetzt bewachen drei Gefängniswärter den Verfall. Die toskanische Insel soll verkauft werden.
Der gelbe Staub schluckt alles hinterm Jeep: die Sandpiste, die Heide, den Hochsicherheitstrakt. Als Claudio bremst, holt die Wolke den Wagen ein. Der Motor hustet im Leerlauf. Claudio beugt sich übers Lenkrad, er beobachtet etwas vor sich. Dann schaut er seine Gäste an. Blickt wieder nach vorne. Seine Mundwinkel zucken. Worauf wartet er?»Dass Grün wird.« Claudio lacht und tritt aufs Gaspedal.
Vielleicht macht Claudio Cuboni diesen Scherz jedes Mal, wenn er Pianosa zeigt. Es gibt keine Ampel hier. Es gibt nur zwei Fahrzeuge, den Jeep und den Panzerwagen der Umweltpolizei.
Claudio ist Wärter hier, einer von dreien. Bis vor kurzem hat Claudio hier niemanden umhergefahren, der nicht mit dem Gefängnis zu tun hatte. Denn Pianosa, die zehn Quadratkilometer große Insel im Toskanischen Archipel, war ein »super carcere«, ein ausbruchsicherer Ort für Mörder und Mafiosi. Pianosa galt als Alcatraz Italiens. Sonnengelbstrände und türkisklares Wasser - verboten für Touristen.
1997 waren hier noch die Bosse der »Cosa Nostra« im Hochsicherheitstrakt weggesperrt. Allerdings befanden sich von den 130 Mafiosi oft nicht mehr als 40 in ihren Zellen: Sie saßen im Helikopter oder im Gerichtssaal oder im Helikopter zurück zur Insel. »Staatstourismus« spotteten die Zeitungen. Zudem musste vom 14 Kilometer entfernten Elba mit Polizeibooten Verpflegung für 400 Wärter und 900 Häftlinge herübergebracht werden. Die Gefängnisinsel Pianosa lag der Regierung in Rom auf der Tasche. 1998 wurde sie dichtgemacht. Seit gut vier Jahren ist Claudio ein Wärter ohne Häftlinge.
Jetzt will Ministerpräsident Berlusconi die Insel privatisieren. Acht Millionen Euro, so steht es in einer vorläufigen Liste der Regierung, soll Pianosa kosten. Acht Millionen für eine Insel im Naturschutzpark Toskanischer Archipel.
Claudio bremst. Den Sommerschlussverkauf für Kultur- und Landschaftsgüter will er nicht kommentieren. Doch sein Lachen ist verschwunden. Weil er hier seit elf Jahren lebt und eine Geschichte der Insel geschrieben hat? Weil er hier Skulpturen aus dem Strandgut bildhauert? Weil er hier zum Triathleten wurde?
Vielleicht liegt es auch an dem Ort vor uns: Die Buckelpiste endet am »cimiterio detenuti«, dem Friedhof der Gefangenen. Pianosa war im 19. Jahrhundert Italiens Gefängnis für schwindsüchtige Häftlinge, und hier im äußersten Westen begruben die Überlebenden alle anderen. Das Friedhofstor ist von einem Memento Mori eingerahmt. ERAVAMO COME VOI SIETE steht auf dem linken Torpfeiler, rechts steht SARETE COME NOI SIAMO: »Wir waren, wie ihr seid - Ihr werdet sein, wie wir sind.«
Auch wenn es für Nichtgefangene einen eigenen Friedhof im Dorf gibt: Auf dieser Insel finden Wärter und Häftlinge dasselbe Schicksal. »Burnaci«. In einer Gräserwiese stehen hüfthohe Kreuze aus verwittertem Holz. Auf die Querlatten hat eine Hand mit weißer Farbe die Namen der Toten gepinselt. Bei einigen Kreuzen sind die Namen schlecht leserlich, die meisten hat der Regen ganz fortgewaschen. »Binti Giovanne - non: Giovan-ni!« Claudio liest sie laut vor. Feldsteine, die früher den Weg zwischen den Kreuzen begrenzten, sind überwuchert von Klee und Löwenzahn und Disteln. »Tagliabue«. Seine Stimme, Grillenzirpen, in der Ferne kreischen Möwen. Sonst kein Laut.
Vielleicht ist es die Stille dieses Ortes, die Claudio, den drahtigen Wärter mit den blonden Strähnen, ernst werden lässt und weich. Es waren viele Burnacis und Ta-
gliabues, die auf Pianosa Wein, Oliven und Getreide anbauten, bevor ihnen die Tuberkulose endgültig die Lunge zerfressen hat. Berührt ihn dieser Ort? »Ja, das ist traurig hier. Aber hier ist auch Frieden. Und Stille.« Zögern. »Es ist ein schöner Ort, um zu ruhen.«
In der Kapelle schmunzelt Claudio erneut. Er zeigt auf das Fresko unter der Decke: Ein Bärtiger sitzt auf einer Wolke. Hinter ihm steht ein Engel, lächelnd deutet er nach oben, zu Gott. Der rechte Fuß des Bärtigen baumelt vom Wolkenrand herab, am Knöchel eine Metallkette mit Kugel. Ein Häftling. Claudio deutet auf die Kette und schaut wieder so erwartungsvoll. Wir stutzen, erkennen und lachen: Ein Kettenglied ist aufgebogen. Im Himmel zerbricht die irdische Justiz. Auch wenn kaum jemand von Pianosa fliehen konnte: Dieser letzte Ausbruch gelingt.
Michele: »Früher war dies eine lebendige Insel«
Eine Karte im Büro der Wärter zeigt die Inseln des Toskanischen Archipels: Elba, Giglio, Montechristo und andere, sieben sind es. Pianosa ähnelt einem Hundekopf, der nach Westen schaut, vom Festland weg. Der Hund hat einen spitzen Hut auf. Vielleicht ist es ein Polizeihund, der toskanischen Karneval feiert. Im Nacken hat er das Dorf, wo seine Kiefernmuskeln arbeiten, liegt der Hochsicherheitstrakt, und dazwischen liegt, einem riesigen Halsband mit Metallnieten gleich, die kilometerlange und sieben Meter hohe olivgrüne Mauer mit ihren Wachtürmen.
Zurück aus der Hundeschnauze, zurück im Dorf. Wie Flöhe im Nackenfell sprangen hier früher die Kinder im Schulgarten umher, am Laden und in der Post tratschten die Frauen der Wärter. Man vertäute die Boote unten im Hafen und hängte frische Wäsche zum Trocknen über die Leinen. Wenn die Sicherung durchknallte, kam ein Häftling, der sich gut führte, und setzte eine neue ein.
»Früher.« Michele Commune lacht auf, ein kurzes bitteres Lachen. Als würde der zweite Wärter von Pianosa sich in die Verachtung des Niedergangs mit einschließen. Dann fällt sein rotwangiges Gesicht wieder zurück in freundliche Lethargie. »Früher war Pianosa eine lebendige Insel. Jetzt verfällt hier alles. Weißt du, für ein Haus sind hier drei Jahre wie 20 auf dem Festland - bei dem Wind und dem Salz in der Luft.«
Als Rom die Insel schloss und die Häftlinge verlegte, luden zwei Familien pro Woche ihre Schränke, Fahrräder und Kruzifixe aufs Schiff und kamen nicht zurück. Die Schule, der Kiosk, die Post machten dicht. Abgeschlossen hat kaum einer. Türen und Fensterläden schlagen im Wind wie im amerikanischen Western. Nur vereinzelt hat eine gnädige Hand einen Draht zwischen Klinke und Geländer gespannt. Wenn eine Mundharmonika plötzlich einsetzte und das Lied vom Tod spielte: Pianosas Wärter würden sich kaum wundern. Sie würden langsam nicken.
Michele Commune hat Schicht und sitzt im »Presidio«. Für einen Wärter knallharter Jungs spricht er leise und hebt den Blick nur selten von der abgenutzten Platte des Schreibtisches. Vielleicht wird ein Gefängniswärter mürbe, wenn er einen Knast ohne Häftlinge zu bewachen hat. Vielleicht wird er trübsinnig, wenn in seinem Dorf nur noch Tauben die Häuser bewohnen.
Donato wollte »ein bisschen nachdenken«
Das Tor zum Hochsicherheitstrakt klingt filmreif: klack-klack-klack, Metall in Metall mit Betonwandecho. »Die haben, als kein Häftling mehr da war, tatsächlich hier einen Krimi gedreht«, sagt Donato. »Wir haben auch mitgespielt.« Einen besseren Komparsen als Donato Petrino hätte das Filmteam nicht finden können. Nacken wie ein Stier, stechender Blick, knarrende Stimme. Aus dem blauen T-Shirt ragen Arme, die Häftlingen einen Gedanken auf Angriff verbieten sollen. Donato hat sich selbst gespielt.
Zwischen Außenmauer und den Knastblöcken der »massima sicurezza« liegen Boule-Kugeln umher, als hätten sich die Spieler nach dem Wurf umgedreht und wären für immer gegangen. Donato öffnet eine der 54 blauen Zellentüren. Sie schwingt schwer und lautlos in den Angeln. »Die sind geölt. Solange auf dieser Insel eine einzige Büroklammer dem Justizministerium gehört, kümmern wir uns um sie«, sagt er und lacht. Er ist froh, dass es etwas zu tun gibt.
Die Zelle: karg. Die Füße der drei Metallbetten sind im Boden einbetoniert. Ein Ferrari-Poster an der Wand, Blick durch die Stäbe nach draußen. Im hoch ummauerten Innenhof bohrt sich die Macchia durch den Steinboden.
Hier also las Michele Greco die Zeitung, der Pate von Palermo; »il papa«, angeklagt des dutzendfachen Mordes, sitzt heute in Pisa in Haft. Und hier erledigte Benedetto »Nitto« Santapaola, zweiter Mann nach Oberboss Totò Riina, sein Geschäft auf einer Toilette, auf der das Licht nie ausging. So sollten die Wärter Selbstmorde verhindern.
Donato hat die Mafiosi, deren Befehle Friedhöfe füllen, täglich für eine Stunde Rundgang hinaus in den engen Hof geführt - nacheinander, denn Italiens Mafiosi dürfen im Carcere weder arbeiten noch Gespräche mit anderen Häftlingen führen, offiziell zumindest.
Oben auf den Hofmauern patrouillierten die Wärter. Ein Netz verhinderte Befreiungsversuche per Hubschrauber und Seil. Heute hält es den Hof frei von den Tauben.
Donato blickt trüb. Er langweilt sich oft. Früher kickten sie gegen die Gefangenen - nicht die von der Mafia, sondern die andern. Sie gewannen haushoch, natürlich. Und jetzt? Das Gras steht lang auf dem Platz, und im Kalkstreuer, mit dem die Fußballer ihre Linien zogen, hat der Regen das weiße Pulver zementiert.
Immer, seit 1858, teilten Wärter und Gefangene diese Insel. Jetzt nicht mehr. Donato würde sie gerne zurückhaben, die Häftlinge. Als seine Frau sich von ihm scheiden ließ, hat er sich hierher versetzen lassen. Er wollte »ein bisschen nachdenken«. Doch jetzt hat er genug. Die Versetzung aufs Festl...
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