Der Lebens-Protokollant

Erwin Berner fühlt den Drang zum Schreiben, aber nicht, weil er der Sohn berühmter Eltern ist. Er sucht den eigenen Weg

  • Steffi Schweizer
  • Lesedauer: ca. 10.0 Min.
Im Pass steht Erwin Strittmatter. Erwin Berner möchte nicht, dass einer viele Worte darüber macht. Er möchte wahrgenommen werden als er selbst. Wie unter Zwang schreibt der Mann Gedichte und Theaterstücke, von denen bislang kaum etwas gedruckt wurde. Absagen, Vertröstungen. Vielleicht brauchte er nur seinen Namen zu ändern, und die Verlage rissen ihm die Manuskripte aus der Hand? Doch das wird er nie tun.

Öffentliches Bekenntnis
Er fällt auf. Die Art, wie er sich bewegt, blaue, scheue Augen, dünnes Haar, Hose und Jacke aus Leder, karierter Schal: Als die Sängerin Angelika Neutschel vor einigen Monaten ihre CD »Lebenstanz« präsentierte, für die Erwin Berner die Texte geschrieben hatte, kam er zum Abschlussapplaus mit rotem Kopf auf die Bühne - ein unsicherer, schlaksiger Bursche. »Mein Freund. Erwin ist der Mensch, der mich am besten kennt«, sagte sie später und sprach von beruflicher Zusammenarbeit, gemeinsamen Wochenenden, Urlaub. Die Dinge sind nicht immer so, wie sie scheinen.
Zu Kunst und Kultur im Café »Sibylle« auf der Berliner Karl-Marx-Allee versammeln sich Zuhörer jenseits der 60, kulturinteressierte Damen, vereinzelt Studenten, hin und wieder ein Politiker mit weißem Haar. Erwin Berner wollte hier aus seinen Tagebüchern »Der Muskel der Menschlichkeit« lesen. Die Rede war von Krankheit, Tod und Aids. An diesem Abend war manches anders. Auch das Publikum. Der hochgewachsene dünne Autor schlüpfte in den Lichtkegel. Für das öffentliche Outing hatte er Anlauf genommen, viele Jahre. »Sehe ich schon schwul aus?« hatte er sich vor dem Spiegel befragt und einen Tag lang in der S-Bahn die erotische Wirkung von Frauen auf sich getestet.
Da war Berner schon mitten in seiner Lesung. Und das, was er las, entbehrte nicht einer gewissen Komik. Die Dinge sind nicht immer so, wie sie scheinen. Der Lesende war aufgeregt, hatte seine Uhr vergessen und verstolperte sich zunächst im Zeitplan. Eine Fliege drehte im Lichtkegel ihre Kreise. In Reihe zwei verteilte jemand Bonbons. Später klingelte ein Handy. Doch Erwin Berner nahm nichts davon mehr wahr. Er las. Werner - der Freund in Hamburg -, ihm geht es oft schon nicht gut. Er gehörte zu jenen, die sich infizierten, als Aids noch keinen Namen hatte, und starb mit 41 Jahren an einem Hirntumor. Wenn sich eine solche Wahrheit am Horizont abzeichnet, muss einer der Hiob sein. »Das war einer der furchtbarsten Momente in meinem Leben. Werner hat mich nur angesehen und gesagt: "Scheiße, das war's. Ich muss einen Eierlikör trinken!".«
Doch der gewählte Textauszug schonte sein Publikum. Man schrieb erst das Jahr 1995, als vieles nur zu ahnen war. Berner verwöhnt seine »Pieseratze« mit selbstgemachtem Kartoffelsalat und legt ihr Schokolade aufs Kopfkissen. Öffentliches Bekenntnis zu einem Mann, den er noch immer liebt. Erwin Berner las nicht, er zeigte, dass er sein Schauspielerhandwerk gelernt hat: wechselte von einer Stimmlage in die andere, war alkoholisierte Dame, immobiliengeiler Adliger oder berlinernder Taxifahrer. An den Wochenenden fuhr man ins Grüne, am Abend zog man um die Häuser. Der Autor nahm die Zuhörer mit auf seine freundlich-spöttisch oder beißend-ironisch beschriebenen Ausflüge und Partys, ließ teilhaben an Streitigkeiten um die Kneipenzeche, an der schwierigen Fütterung eines verwöhnten Katers und füllte sinnentleerte Formulare fürs Arbeitsamt aus. Bittersüß sind die Schilderungen eines Drehtages im weißen Arztkittel und der Probeaufnahmen für die schöne bunte Werbewelt. Da hat einer unerbittlich protokolliert und sich selbst nicht geschont. Die Tage sind voller Leben - noch. Noch lebt Berner in Dur. Heute, so bekennt er, lebt er in Moll.
Das Tagebuch erzählt nicht nur eine Liebesgeschichte, es ist auch eine Ost-West-Geschichte und erklärt etwas vom Phänomen Aids. Berner will »der Community« - der Bewegung der Homosexuellen - einen Spiegel vors Gesicht halten. »Werners Hamburger Freunde, die vorher den Zusammenhalt predigten: "Das ist unsere Krankheit, das lassen wir uns nicht aus der Hand nehmen", die haben sich nach und nach abgewandt. Weil man auch nicht sagen kann, wie lange das geht, wann der Mensch stirbt...« Erwin Berner macht aus seiner Homosexualität kein Hehl. Nicht mehr. »Es ist etwas ganz Schlimmes, wenn man es ein Leben lang weglügen muss. Ab einem bestimmten Punkt konnte ich das nicht mehr.«
Dieser Punkt kam, als der Mann zwischen zwei Städten pendelte, zwei Haushalte führte, als er es lernte, einen Menschen zu pflegen und für ihn, der die Situation nicht wahrhaben wollte, den Abschied von dieser Welt vorbereitete, als er verzweifelt war und mit den eigenen Kräften am Ende. Als er seinen »Muskel der Menschlichkeit« trainierte, da brach er mit selbst auferlegten Tabus. Die Tagebücher umfassen 1600 handschriftliche Seiten. Sie komplett zu bearbeiten, wird noch viel Zeit in Anspruch nehmen. Dahinter hat er sich lange versteckt. Doch der Mut ist gewachsen, sie zu veröffentlichen.
Vorerst hat er ein Theaterstück über junge Leute beendet, die zum Schluss Hand in Hand aus dem Fenster springen. »Schöne, kalte Welt« ist sein fünftes Stück und macht allein beim Lesen Gänsehaut. Es wird die Zuschauer ohne Trost zurücklassen. Auch in »Glashaus«, einem Stück, in dem ein schwuler Sohn die über alles geliebte Mutter umbringt, leuchtet der Autor tief in die Abgründe der menschlichen Seele. »Jeder Mensch ist mit Tabus behaftet«, versucht er zu erklären. »Sie gehören zum Leben, in verschiedenen Gesellschaftsordnungen unterschiedlich stark.« Der Vorstoß ins Dunkle und der Versuch, für Unausgesprochenes Worte zu finden, das fasziniert ihn. »Manche nennen das böse, andere bitter. Aber die künstlerische Leistung verhält sich nicht 1:1 zum Künstler«, sagt er. »Meine Mutter war mit dem polnischen Lyriker Tadeusz Rozéwicz befreundet, der hat ganz absurde Stücke geschrieben. Und sie war immer wieder fasziniert, was er für ein harmonischer, freundlicher Mensch ist.«

Ort der Sehnsucht - Schulzenhof
Als Erwin Berner noch Erwin Strittmatter hieß und sieben Jahre alt war, wollte er Schauspieler werden. Schauspieler und Schlagersänger. Das mochte dem verschlossenen Jungen keiner glauben. »Da hat schon wieder einer in den Wiesen herumgebrüllt«, soll der Vater am Abend manchmal mit Seitenblick auf den Jungen gegrummelt haben.
Der Arbeits- und Wohnort von Eva und Erwin Strittmatter bei Gransee im Brandenburger Land ist mit Legenden umwoben und für den fast Fünfzigjährigen immer noch ein magischer Landstrich. Das Vorwerk und der schilfbestandene Thörnsee, die über dem Wasser untergehende Sonne mit ihrem Abendrot, die Kiefernwälder und märkischen Sandwege - all das ist Heimat. Doch es ist ein nie erreichter Ort. Wo große Werke der deutschen Gegenwartsliteratur wie »Ole Bienkopp«, »Der Wundertäter« oder »Der Laden« entstanden, wo sich Eva Strittmatter mit ihren Gedichten in den Rang einer der populärsten deutschen Lyrikerinnen schrieb, da war er nie wirklich zu Hause. In Schulzenhof drang das Politische bis in den letzten Winkel, und das nistende Vogelpaar, die erblühende Rose machten, dass Kunst entstand. Es ging immer um das »Werk«, Schaffensfragen, Schaffenskrisen und Auseinandersetzungen, es ging immer um die Arbeit der Eltern.
Erwin Strittmatter, der aus zwei ersten Ehen bereits vier Söhne hatte, und Eva Strittmatter, die aus ihrer Jugendehe einen Sohn mitbrachte, verkrafteten vorerst keine weiteren Kinder. Kinder sind laut. Und der Vater bat sich Ruhe zum Schreiben aus. So wuchs Erwin junior - der erste von drei gemeinsamen Söhnen - mit seinem älteren Halbbruder Ilja bei der Großmutter in Neuruppin auf. Eva Strittmatter hat nie verschwiegen, welche inneren Kämpfe sie als Dichtergefährtin, Haushaltsvorstand, Mutter und Schriftstellerin ein Leben lang mit sich ausgefochten hat. In »Mai in Piestany« schreibt sie: »Traurige Stunde Lebens, nie, solange ich atme, werde ich sie verschmerzen, nie wird sich das schließen in mir: ich habe die Kinder von mir gelassen für das, was kommen sollte, die Erfindung des Nichts, des blauen Rauches, der Kunst...« Auch der Sohn erinnert sich an Heimweh und Sehnsucht: »Ich habe es als großes Unglück empfunden, nicht zu Hause sein zu dürfen.« Dem damals Zehnjährigen prägte sich »Ole Bienkopp« aus dem Jahr 1963 als eine einzige große Krise ein, denn die Besuche zu Hause wurden schwieriger: »Sie mussten zu Lesungen, zu Stellungnahmen, öffentlichen Auseinandersetzungen. Dann hat mein Vater eine Herzattacke erlitten, lag im Krankenhaus. Das war sehr belastend.«
Um nach Schulzenhof zu kommen, fälschte der Dreizehnjährige schließlich sein Zeugnis. Er verließ Neuruppin, ohne sich noch einmal umzudrehen. Doch er kam nie an. Er fühlte Vaters Ablehnung. »Er ist ihm zu ähnlich«, sagte die Mutter. »Bin eben aus der Art geschlagen«, dachte der Sohn. Um Hilflosigkeit und Verletzlichkeit zu verbergen, schneiderte er sich einen Schutzmantel aus Arroganz. Doch vieles richtete die Zeit. Der alte Strittmatter gewann mit dem erwachsen gewordenen Erwin junior einen wichtigen Gesprächspartner. Und der stärkte ihm in der politisch-künstlerischen Auseinandersetzung um den BandIII des »Wundertäters« den Rücken. Der Vater ist tot, der Sohn hat seinen Frieden mit ihm geschlossen. Die äußere Ähnlichkeit bleibt. Auch der Drang zu schreiben.

»Bist begabt, kannst aufstehen«
In Schulzenhof war der Junge von frühester Kindheit an mit Literatur konfrontiert, und mit Leuten, die über Kunst und Kultur redeten: Christa Wolf, Hermann Kant, Vera Oelschlegel, Gerhard Holtz-Baumert und Alfred Wellm, auch Benno Besson, Ursula Karusseit und Lew Kopelew. Tiefe Eindrücke für einen 17-Jährigen, der Schauspieler werden will. Doch die Berliner Schauspielschule lehnte ihn ab. »Ich hatte bis dahin noch nie ein Mädchen geküsst und spielte den Don Juan vor. Die haben gelacht, ich wusste nicht, warum.« In seiner Verzweiflung suchte er Rat bei der Schauspielerin Helga Göring. In ihrer Berliner Wohnung am Lenindenkmal lag er vor ihr auf den Knien und spielte sich die Seele aus dem Leib. »Bist begabt, kannst aufstehen«, soll die Göring gesagt und später den Kontakt zur Rostocker Schauspielschule vermittelt haben.
Doch zunächst focht der Spätpubertierende noch einen »Ringkampf« mit dem Vater aus. Er schmiss das Abi und packte seine Koffer. »Eigentlich ein ganz düsteres Kapitel«, sagt er, doch er lächelt dabei. Bis zur Aufnahme des Studiums schuftete er in der Landwirtschaft und tat nichts anderes als das, was er zu Hause gern verweigert hätte. »Schulzenhof mit seiner Pferdezucht, das war viel Arbeit. Weihnachten, Neujahr und Ostern hieß das Stalldienst. Wir sind zusammengerauscht, weil ich viel lieber meinen Träumen nachhing.«
Noch während des Studiums spielte Berner seine erste ernst zu nehmende Rolle in einem Polizeiruf von Manfred Mosblech und wählte sich den Familiennamen seiner Urgroßmutter mütterlicherseits. Der Film zog andere Angebote nach sich. Da waren die Rollen und Hauptrollen in Produktionen des Fernsehens (»Adel im Untergang«, »Zur See«, »Die Verführbaren«, »Die Überlebende«), der DEFA (»Sonjas Rapport«, »Achillesferse«), die Herausforderungen an den Theatern in Freiberg, Weimar, Rudolstadt und Neustrelitz. Insgesamt über 50 Rollen. Die Kritik feierte den jungen Mimen als Entdeckung. Sein Konterfei erschien auf Titelseiten, es gab mehrseitige Reportagen. Einmal, als der junge Schauspieler mit seiner Arbeit über lange Zeit unzufrieden war, riet ihm die Mutter: »Du hast so viel erlebt, schreib das auf!« Das war der Ausgangspunkt. Und nach den politischen Umbrüchen, als er wie die meisten Kollegen wieder bei Null anfangen musste, wurde die »Sehnsucht, Scheinwerferlicht im Gesicht zu haben«, immer geringer. Er schrieb. Eva Strittmatter ist für ihn die Person mit der »größten künstlerischen Kompetenz« und die »höchste literarische Instanz«. Er sagt, es bestehe ein großes gegenseitiges Vertrauensverhältnis. Jahrelang lasen sie Neues einander vor. Noch heute sucht Erwin Berner bei seiner Mutter Echo, Zuspruch und Bestätigung.
Wenn Berner schreibt, wirkt er abwesend, fast autistisch. Und manchmal verfällt er dabei in einen Rausch. Morgens um zehn beginnt er die Arbeit, sucht schreibend »nach den untergründigen Strömungen des Lebens« - am Computer, im Café, in den Straßen der Stadt. Er lässt sich auf selbst ernannte Regeln ein. Das vermittelt Sicherheit. »Es gibt in meinem Leben keine großen Glanzpunkte mehr. Ich weiß nicht, ob Sie verstehen, was ich meine.«
Es ist die selbst gewählte Einsamkeit. Der Rückzug nach Werners Tod. Sein Leben in Moll. Berner rührt in seinem Teeglas und schaut irgendwohin. Er schreibt wieder Liedtexte für seine Freundin und Kollegin Angelika Neutschel, neuerdings auch für Veronika Fischer, kurze Prosatexte für einen Band, den er »Fuß auf der Bremse« nennt. Er ist im Gespräch mit Schauspielern, die seine Stücke mögen und seine Rollen spielen wollen: Ursula Karusseit, Renate Geißler, Manfred Zapatka. Aber Literatur feilzubieten, ist ihm wie die eigene Haut zu Markte zu tragen. Doch er weiß, die Schneise zu seinen...

Wenn Sie ein Abo haben, loggen Sie sich ein:

Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.

Bitte aktivieren Sie Cookies, um sich einloggen zu können.

- Anzeige -
- Anzeige -