Starke Handkamera-den

Theatertreffen Berlin: Frank Castorf und Bulgakows »Der Meister und Margarita«

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: ca. 5.0 Min.
Die Jahre 1992, 1994 und 1998? Unwirkliche Theatertreffen-Jahre. Weil es zwischen 1990 und 2003 die einzigen Festivals ohne eine Castorf-Inszenierung waren. (Was die Nominierungen betrifft, liegt Castorf in der ewigen Hitliste hinter Zadek, 21 mal, Stein, 17 mal, und Peymann, 16 mal, bereits an vierter Stelle). Begonnen hatte es mit der Münchner »Miß Sara Sampson« (1990), nach der man sich im Publikumsgespräch geradezu polemisch anschrie. Inzwischen sind die Arbeiten des Volksbühnen-Chefs stundenzerkauende Malströme der rauschhaften Anstrengungen. Längst sitze auch ich nicht mehr in punktueller Ausrichtung und isolierter Erwartung in einer Castorf-Aufführung; nein, man wurde über die Jahre hinweg raffiniert infiziert von einem Gesamtkunstwerk, das nun schon Ewigkeiten dauert. Deutsche Ewigkeiten - das ist verschärfend. Jede neue Inszenierung dieses Regisseurs löst einen Assoziationsrutsch aus, eine medientheoretische Einordnungslust, ein Gefühlswühlen in all den schönen und schmutzigen, schön schmutzigen Untiefen dieses Volksbühnen-Kosmos. Castorf, das ist die wirre, wüste Party, die man nicht verlässt, selbst wenn der blanke grüblerische Autismus grassiert. Man nimmt die Zustände hin, wie sie kommen; man wacht durch, so wie man sich hindurchgähnt; jeder Körperteil hat mal seine Zeit, also seine Besoffenheit und seinen Durchhänger, das meint Zuschauer wie Schauspieler; ein geeintes Ganzes gibt es eh nie. Nicht im Leben, nicht in diesem Theater. Kultur als Leistung, die gegen die Tyrannei einer Geschichte Spontaneität aufruft und gegen die gequälte Präsenz von Systemen eine volksbühnenspezielle Kasprigkeit. Aber unversehens - ein Hübchen-Satz reicht, ein Angerer-Pieps genügt, ein Wuttke-Schrei besiegelts - wird daraus das zumutungsreiche Exil der Ungemütlichkeit. Wenn Castorf Moral hat, dann die, dass Erschöpfung ehrlichster menschlicher Ausdruck ist: Das Körperfleisch lässt die Masken fallen. Nach Bearbeitungen von Dostojewskis »Dämonen« und »Erniedrigte und Beleidigte« nun also Bulgakows »Der Meister und Margarita«, und auch im Bühnenbildnerischen: Containuität. Bert Neumanns Datsche mutierte auf der linken Seite zur Moskauer Stolowaja - deren Wirt Schafskäse verkauft, obwohl ihm schwant, dass der nicht grün sein dürfe. Rechts eine Hotellobby tiefrussischen Charmes, mit Kunstledersofa und Plastestühlen, die auf jene Sekunde warten, da ihnen die Beine wegknacken. Diese Sekunde wird kommen. Castorf, der Dresch-Flegel. Auf dem Dach die Videowand. Alternierendes Blinken: »Sex« und »Kino«. Und eine Leuchtschrift: »I want to believe.« Tja, glauben möchten alle. Die entsprechenden Anbieterindustrien boomen. In den Dostojewski-Inszenierungen hatte sich der Container gedreht, jetzt ist eine Kameraschiene um die Bühne gelegt, und die meiste Zeit der fünf Stunden läuft Castorf - Der Film. Kein Regisseur wagt sich an der Volksbühne, Schauspieler an die Hand zu nehmen; aber Jan Speckenbach nimmt sie an die Handkamera. Das Drama: zu großen Teilen hinter die Kulisse verbannt und dort zur Live-Übertragung verurteilt. Zermürbende Strafe für alle, die noch aufs Theater hoffen. Die Hauptfrage Frank Castorfs lautet: Wie kann das »Als ob« der Bühne antworten auf die Intensität jener unablässigen Bebilderung und jenes Rollenzwangs, denen wir im täglichen Leben ausgesetzt sind? Zwischen Handy in der U-Bahn, TV-Talk-Sumpf sowie durchgehenden Vernetzungswerken aller Art schärft sich ja im Wirklichen eine grenzenlose Gier nach Ver-Öffentlichung. Die man leicht für Selbstbewusstsein halten kann, die aber auch Ausdrucksform einer verkrebsten Gemütskultur ist, bei der Voyeurismus und schamlose Transparenz in den Adel einer Umgangsform aufsteigen durften. »Der Meister und Margarita«: Bulgakows antistalinistische Faust-und-Mephisto-Version. Der Teufel heißt Henry, aber dieser »Spezialist« Hübchen ist eher eine mürrische Cowboy-Parodie. Milan Peschel spielt einen Junglyriker, der den gewohnten sozialistischen Gang geht: in die Psychiatrie. Die scharf berlinernde Margarita der Kathrin Angerer fliegt per Video durch Hochhauswürfel und zerdrückt ihre Zigarette am Fenster eines Rezensenten: fast der Tod eines Kritikers. Und Martin Wuttke ist der Meister - Autor jenes Romans im Roman, in dem Jesus (Kurt Naumann) den Pontius Pilatus (wieder Wuttke, hornbebrillt) vom Kopfschmerz befreit. Jesus also im Lebenskampf mit Pontius Pilatus: Wasserspritzer auf der Kameralinse. Live is live. Als sei CNN ins Jerusalem der Vorzeit gereist. So wechseln die Szenen zwischen Kostümfilm im Pappmaché (dazu arabische Melodien), beklemmenden Schlammbädern in kommunistischen Straf-Kliniken und Doku-Bildern aus dem heutigen Moskau. Väterchen Stalin lächelt und winkt. Castorf verzichtet darauf, eine stimmige künstliche Ordnung durchzusetzen. Die den Kopfschmerz lindern würde, weil sie dieses Weh aufhöbe im schönen Spiel. Aber Leben für ein paar Theaterstunden als geschlossene moralische Anstalt (und ästhetische Einheit)? Nein, Castorf will drinnen gewissermaßen draußen bleiben, und draußen sind wir fragmentarische Wesen, trudeln, wirbeln, tasten uns von Ausschnitt zu Ausschnitt, inmitten ungeheurer Lebensprozesse, zu deren wahrem Bewusstsein wir niemals gelangen. Dieses Verklebtsein in einem geheimen Schwerpunkt des Daseins, den keiner kennt - es hat die großen Augen des Milan Peschel und die hartkalten Lippen des Bernhard Schütz, es verbindet Anstaltsopfer und staatliche Psychoterroristen, den dandyhaft tänzelnden Satan Henry Hübchens wie den eindringlichen, verzweifelt und furchtsam gut-gläubigen Jesus des Kurt Naumann. In der Konfrontation alten Theaterdenkens mit moderner Medientechnologie fordert Castorf vom Zuschauer eine Versenkung, die nicht jedermanns Sache ist. Aber was jedermanns Sache sein kann, muss nicht auf die Volksbühne!, und man sollte streng unterscheiden zwischen Castorfs solitären ästhetischen TV-Erkundungen und jenem Theateralltag anderswo, bei dem Video- und sonstige Einblendungen zu epigonaler Routine verkamen, um Theater zu »modernisieren«. Die Aufführung steht aufgewühlt, uferlos, ruhelos, unentschlossen, angekratzt, erweckt und geschlagen und natürlich hilflos im Bulgakow-Roman. Zahllose Parallel-Universen existieren nebeneinander. Castorf bearbeitete nicht schlechthin, er schrieb übernächtigt, überhitzt, fiebernd seinen lebenden Essay, und er hat wunderbare Schauspieler als tanzende, schreiende, flüsternde, unberechenbar flirrende, springende Buchstaben, die sich zu Worten, Sätzen, Lebensirrläufen fügen. Zu »poetischen Kampfmaschinen« (Castorf). Was vor allem Martin Wuttke in den jüngsten Castorf-Arbeiten an zerschlissener, reiner »russischer Seele« geschaffen hat, an liebenswerter Wundheit, an verträumt komischer Sehnsucht - es wird einmal große deutsche Bühnengeschichte sein. Theater als letzter Dom, in dem noch einmal alles durch uns hindurchweht, was an großen Ideen vom Menschen im Menschen selbst vernichtet wird; ein Wirbel an Sequenzen, in dessen Mitte aber das Denken sein ruhiges, trauriges Auge öffnet. Frank Castorf ist inzwischen an eine Grenze gekommen: Noch mehr Film geht nicht. Er weiß: Wenn eine Sache ein Ziel hat, wird sie schon unglaubwürdig. Das ist die eigentliche, hinterlistige Bo...

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