Dieser schändliche Raum namens Gegenwart

Georg Lukács und sein Werk »Geschichte und Klassenbewußtsein« (1923)

In loser Folge erinnern wir an bedeutende politisch-philosophische Texte, die das Wiederlesen lohnen und die wesentlich die geistige Debatte der jeweiligen Zeit beeinflusst haben. Beiträge zu Wechselwirkung von Gedächtnis und lebendiger Provokation. Heute: Georg Lukacs: »Geschichte und Klassenbewußtsein«

Im Jahre 1968 schien es plötzlich, als könnten das Licht der Aufklärung ebenso wie konkrete praktische Schritte jene »Unmittelbarkeit des gedankenlosen Alltags« aufheben, von der Georg Lukács' 1923 erstmals herausgegebene Essaysammlung »Geschichte und Klassenbewußtsein« gesprochen hatte. In diesen wilden Jahren der Studentenbewegung und soziokultureller Revolutionsszenarien entdeckte der Westen einen Theoretiker wieder, in dessen Zeichen der Ostteil des Landes lange Jahre eine fatale Literaturpolitik betrieben hatte und der seit Ende der 50er Jahre - insbesondere mit den Vorgängen in Ungarn 1956 - zur Persona non grata erklärt worden war. Für die westlichen Intellektuellen die erste Begegnung mit dem Marxismus, ja geradezu eine Einführung in dessen Klassiker - so galt der ungarische Philosoph der Parteiorthodoxie im Osten geradezu als »Pandorabüchse des Revisionismus«, wie sich seinerzeit Robert Steigerwald ebenso harsch wie von wenig Kenntnis zeugend ausgedrückt hatte. In einem Punkt freilich hatte die Orthodoxie - macht- und ideologiebesessen - dann doch wieder Recht: Denn mit der Lukacsschen Theorie fand der Marxismus nicht nur zu seinem Hegelschen Erbe und zum Impuls des Marxschen Frühwerks zurück, sondern zusehends - im Übergang zu Lukács' späten Schriften der sechziger Jahre (etwa die »Ontologie des gesellschaftlichen Seins«, »Sozialismus und Demokratisierung«, eine geplante, leider nur in Fragmenten erhaltene Ethik) - zu einer gründlichen Restauration des Marxismus. Aber auch: zu praktischen Vorschlägen für eine wahrhaft sozialistische Umgestaltung des »real existierenden Sozialismus« (Erhalt bürgerlich-demokratischer Rechte und Errungenschaften, Wiedereinführung des Rätesystems, partielle Aufhebung der Partei usw.). All das machte den Ungarn damals - sagen wir's noch einmal: Ende der 60er Jahre - so beliebt, führte zu massenhaft verbreiteten Raubdrucken von »Geschichte und Klassenbewußtsein«, zu erhitzten Diskussionen über dessen Thesen und machte zugleich den greisen Philosophen zum begehrten Interviewpartner von Vetretern der »Neuen Linken«, des »westlichen Marxismus« (im Sinne M. Merleau-Pontys). Davon jedoch sind wir hier zu Lande heutzutage Äonen entfernt. Lukács ist gleichsam vergessen - in den westlichen Gesellschaften geradeso wie in Ungarn und insgesamt den postsozialistischen Staaten. Die Diskussionen verlaufen still, d. h. bewegen sich im musealen akademischen Raum, wie die wenigen Beschäftigungen mit Lukács und seiner Philosophie anläßlich des 30. Todestages 2001 gezeigt haben. Die einfachste Erklärung dafür mag lauten: weil Lukács' nahezu lebenslange Option für den Marxismus und - selbst noch den schlechtesten - Sozialismus samt einem Glauben an ein historisches Klassensubjekt als geschichtsmächtiger Kraft gründlich widerlegt, ja diskreditiert worden ist. Aber stimmen diese einfachen Einschätzungen wirklich? Gibt es keine theoretischen Anschlussmöglichkeiten mehr in diesem Werk? Gewiss, eine gesunde Skepsis ist angebracht, wie sicherlich auch vieles aus dem enzyklopädischen Lebenswerk (etwa im Blick auf die Interpretationen aus »Die Zerstörung der Vernunft«, 1954) kaum mehr zu retten ist. Schauen wir uns »Geschichte und Klassenbewußtsein« ein wenig aus der Nähe an. Für Lukács bedeutete die Veröffentlichung seiner Essaysammlung den ersten Versuch, sich als marxistischer Theoretiker und Philosoph zu profilieren. Es handelt sich um ein Werk des Übergangs: Einerseits knüpft es unter veränderten Vorzeichen an frühere Überlegungen aus Lukács' bürgerlicher, vormarxistischer Phase an (»Die Seele und die Formen«, 1910; »Theorie des Romans«, 1916, mit den Kategorien Totalität und problematisches Individuum); andererseits argumentiert er noch nicht mit jener dogmatischen Härte, von der seine Schriften in den 30er und 40er Jahren aus dem Moskauer Exil nicht freizusprechen sind. »Geschichte und Klassenbewußtsein« reißt einen weiten Horizont auf und versammelt neben konkreten, aus tagespolitischen Aufgaben hervorgegangenen Überlegungen zu Organisationsfragen der kommunistischen Partei solche Arbeiten, die sich mit dem Status des Marxismus als wissenschaftlicher Methode und Weltanschauung befassen. Und schließlich sind es Essays, die die Analyse von Kernbegriffen wie Entfremdung, Verdinglichung oder Klassenbewusstsein von den Höhen der Abstraktion in die Felder revolutionärer Praxis hineinholen. Lukács greift dabei die Wissensbestände seiner Zeit auf den Gebieten der Philosophie und Sozialwissenschaften auf (vom Neukantianismus über Weber und Simmel bis zur Lebensphilosophie Diltheys und Bergsons) und behandelt in bemerkenswerten Nebenbemerkungen noch die Problematik moderner Kunst und Literatur. Die beiden korrelativen Hauptbegriffe heißen Totalität und Verdinglichung. Totalität verweist auf das hegelsche Erbe im Marxismus, auf die Erkenntnis des Wahren als des Ganzen - was der junge Marx in die Bestimmung vom Konkreten als der »Zusammenfassung vieler Bestimmungen« und »Einheit des Mannigfaltigen« übersetzt hatte. Im Begriff der Verdinglichung dagegen charakterisiert Lukács die faktische Struktur des gesellschaftlichen Seins. Denn mit der Entwicklung des Kapitalismus habe sich die Verdinglichungsstruktur immer tiefer und schicksalhafter in das Bewusstsein der Menschen hineinversenkt. Ausgangspunkt sei zwar die Produktionsweise, der Warenfetischismus, doch mit dem fortschreitenden Prozess der Kapitalisierung würden alle Subsysteme der Gesellschaft dieselbe homologe Struktur aufweisen. An diesem Punkt bemüht Lukács die webersche Analyse des Kapitalismus, die den Kapitalisierungsprozess entscheidend an die Herausbildung des neuzeitlichen Begriffs der Zweckrationalität bindet. Der Geist des Kapitalismus, der in Begriffen der Berechenbarkeit und der Kalkulation gründet, sei zwar partiell rational - etwa im Komplex eines Einzelunternehmens -, führe aber unweigerlich zur Anarchie der Gesamtproduktion, zur undurchschauten und undurchschaubaren kapitalistischen Produktionsweise. Dies zeigt Lukács in dem Aufsatz »Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats«, dessen Argumentationshorizont bis in die Verästelungen der gesamten neueren Philosophie und Ideologieproduktion reicht. Totalität, so Lukács, sei nicht mehr möglich. Auch nicht in der Kunst, deren Erkenntnischarakter er in all seinen Schriften so nachdrücklich betont; in seiner großen Ästhetik spricht er Jahrzehnte später von der Kunst als dem »Gedächtnis der Menschheit« - eine Ansicht, die aber auch schon »Geschichte und Klassenbewußtsein« mindestens untergründig beherrscht. Die Lösung des Grundproblems der Philosophie glaubt Lukács in dem zu sehen, was er den »Standpunkt des Proletariats« nennt, den er bereits in dem Essay »Klasse sein« von 1920 entwickelt hat. Das Proletariat ist das einzige Subjekt der Geschichte, und der Ort, an dem es geschichtsmächtig wird, ist das Klassenbewusstsein selbst. Jedoch unterscheidet er das Klassenbewusstsein, das er auch das zugerechnete nennt, vom empirischen Einzelbewusstsein, das kontingent und - mehr oder minder - befangen ist in den Netzen der Verdinglichung und Entfremdung. Lediglich der Klasse als Subjekt und als Ganzem attestiert Lukács die Möglichkeit - er bezeichnet das auch als die Kategorie der objektiven Möglichkeit -, ihre Lage im Geschichtsprozess zu erkennen: ein Bewusstsein also als Körperware und Warenkörper zu erhalten. Es bleibt per saldo immer nur beim zugerechneten Klassenbewusstsein als letzter geschichtsmächtiger Kraft, als hegelschem Subjekt-Objekt der Geschichte - von dem Lukács dann in nachfolgenden Texten noch konkrete Forderungen hinsichtlich der proletarischen Organisationsstrukturen, aber auch hinsichtlich der Definition des passenden historischen Augenblicks für revolutionäre Veränderungen ableitet. Das Beeindruckende an »Geschichte und Klassenbewußtsein«, so könnte man mit Lukács und über ihn hinaus feststellen, ist diese geradezu störrische Setzung der Totalität und die Behauptung des Bewusstseinstheorems gegen den zeitgenössischen wie auch nachfolgenden Marxismus. Angenommen, so Lukács eingangs des Essays »Was ist orthodoxer Marxismus?«, sämtliche einzelnen Aussagen von Marx seien falsch, so brauche man dennoch nicht mit der Methode zu brechen, da sie »die richtige Forschungsmethode« sei, die »nur im Sinne ihrer Begründer ausgebaut, weitergeführt und vertieft werden kann«. Im Blick auf Lukács nun könnte man sagen: Mag sich auch das Ganze und das Wahre alltagspraktisch als das ganz Falsche herausgestellt haben - mindestens der theoretische Anspruch auf Totalität und damit der Anspruch auf ein Zusammenhangswissen in praktisch-verändernder Absicht darf kontrafaktisch nicht aufgegeben werden. Vermittlung muss über ein historisches Subjekt erfolgen, das man heute getrost auch als Einheit verschiedenster sozialer Ein-Punkt-Bewegungen, als übernationale Gruppe der Globalisierungsgegner ansprechen darf. Sonst nämlich droht eisig-endgültig die Unüberschreitbarkeit jenes »schädlichen Raums der Gegenwart«, vor dem Lukács unisono mit seinem Jugendfreund Ernst Bloch (»Geist der Utopie«) stets gewarnt hat: »Erst wenn der Mensch die Gegenwart als Werden zu erfassen fähig ist, indem er in ihr jene Tendenzen erkennt, aus deren dialektischem Gegensatz er die Zukunft zu schaffen fähig ist, wird die Gegenwart als Werden zu seiner Gegenwart. Nur wer die Zukunft herbeizuführen berufen und gewillt ist, kann die konkrete Wahrheit der Gegenwart sehen.« Das klingt utopisch und ist es auch. Nämlich Hoffnungsschimmer, Perspektivlicht, Erneuerung. In »Geschichte und Klassenbewußtsein« eher messianisch-geschichtsphilosophisch formuliert, in der späteren Ontologie und Ethik dagegen kategorisch und kategorial ausgedrückt - in jener alten Klassikerformulierung, wonach es keine ausweglosen Lagen gibt. Solange jedenfalls nicht, solange der praxisphilosophische Anspruch darauf zielt, dass es doch immer noch um die »Menschwerdung des Menschen als Inhalt des Geschichtsprozesses« geht; so L...

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