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Sark fährt Rad, Kutsche oder Traktor
Mitten in Westeuropa, zwischen dem englischen Dorset und der französischen Bretagne, haben sich auf einer winzigen Insel Traditionen erhalten, die anderswo als längst überholt gelten
Hubschraubern und Flugzeugen ist es verboten, auf Sark zu landen. Für die Queen und den Prinzgemahl wurde 2001 freilich eine Ausnahme gemacht: Elizabeth II. überbrachte dem Seigneur, dem Gutsherrn der Insel, immerhin einen Orden. Alle anderen Besucher aber müssen den Seeweg nehmen. Und so sind wir in aller Frühe am Kai von St. Peter Port, dem Hauptort von Guernsey, um die besten Plätze für die Überfahrt nach Sark zu ergattern. Allein: Die Barkasse »Le Marin de Serk« ist fast leer und wir haben genügend Raum, unsere noch nicht ganz ausgeschlafenen Glieder zu strecken.
Nur 45 Minuten dauert die Seereise. Rechts und links bleiben kleinere Inseln zurück: Auf Herm, von Guernsey an die Familie Heyworth verpachtet, sollen ganze 45 Menschen leben. Jethou gegenüber ist ebenfalls in Privatbesitz, zwei weiß getünchte Gebäude sind zu erkennen. Und kurz vor der Ankunft in Sark passieren wir Brecqhou, das der britischen Presse in den letzten Jahren Schlagzeilen lieferte. Der Skipper klärt uns auf: »Brecqhou gehört historisch zu Sark, wurde aber von den millionenschweren Barcley-Brüdern gekauft. Jetzt geht es ums Erbe. Nach den auf Sark geltenden strengen Gesetzen muss der älteste Sohn erben, bei den Barcleys soll es aber eine Tochter sein ...«
Die Fährschiffe aus Guernsey legen am Creux Harbour an. Dort warten weder Taxen noch Linienbusse. Die inselansässige Lehrerin, das walisische Urlauberpaar, der französische Journalist, ein paar Tagesbesucher und wir steigen stattdessen auf den »Toast Rack«, einen offenen, von einem Traktor gezogenen Anhänger, der die Passagiere hinauf zum geschäftigsten Ort Sarks bringt: Dort kann man in eine Pferdekutsche umsteigen. Denn Sark ist autofrei.
Wir aber trotten zu Fuß zu unserer Unterkunft. Die heißt »Le Pellon« und liegt an der Nordostspitze der nur fünf Quadratkilometer großen Insel, die insgesamt 560 Bewohner zählt. Die Hälfte davon ist nicht auf Sark geboren. Ein junger Mann, der seinen bepackten Drahtesel vor sich herschiebt, weist uns die Richtung: »Da links den Weg entlang. Sie können es nicht verfehlen. Katie wartet schon auf Sie.« Und einen Rat ruft er uns hinterher: »Sie kaufen sich besser nicht "Sark - A Feudal Fraud?" von Peter Rivett. Die Hälfte des Buchinhalts ist Schwindel. Gehen Sie für die acht Pfund lieber in den Garten der Seigneurie. Das bringt mehr.« Sagts, springt aufs Rad und ist schon um die nächste Ecke verschwunden, derweil wir nach wenigen hundert Metern tatsächlich das gesuchte Haus entdecken, in dem uns Katie Hamon, eine zugewanderte Sarkesin, freundlich begrüßt.
Anderntags stoßen wir im größten Inselladen unter einer Auswahl von Büchern über das Eiland auch auf »Sark - A Feudal Fraud« (Sark - ein feudaler Schwindel), ignorieren den Tipp des freundlichen Radlers und stellen später fest, dass der Verfasser offenbar von den Barcley-Brüdern gut bezahlt wurde, um deren Interessen in ein gutes Licht zu setzen und die Familienkette der Seigneurs zu diffamieren.
Da die besten Informationen noch immer am Biertisch zu bekommen sind, entschließen wir uns zu einem Kneipenbesuch: Im »Bel Air« setzen wir uns zu einem Mann an den Tisch, der sich durch seine verschlissenen Jeans und das nicht mehr saubere Holzfällerhemd eindeutig als Einheimischer ausweist. Billy Fish wird er von seinen Kumpels genannt. »Auf Sark haben viele einen Spitznamen«, erzählt er uns: »The Goat (die Ziege), Johnny Crow (die Krähe), Flash (der Blitz) und so weiter.« Was er uns denn Neues von Sark berichten könne, fragen wir. »Die von den Menschenrechten machen uns das Leben schwer. Die Sitzverteilung in den Chief Pleas soll geändert werden. Und Scheidungen sollen künftig auch möglich sein.« Mit diesen Brocken lässt uns Billy Fish allein. Er müsse weiter, aufs Feld und zu seinen Kühen.
Die Chief Pleas, das Inselparlament, kam bisher drei Mal im Jahr zusammen. Künftig soll es vier Sitzungen geben. »Die von den Menschenrechten«, die Kritiker, stört aber vor allem die Zusammensetzung: Nur 12 gewählten Abgeordneten stehen 40 Stimmberechtigte gegenüber, die nur deshalb im Parlament sitzen, weil sie Landeigentümer sind. Wobei einige gar nicht auf Sark leben.
Das kam so zustande: 1565 hatte Königin Elizabeth I. einem Mann namens Helier de Carteret die Insel Sark als Lehen übereignet. Er sollte sie vor Piraten und französischen Ansprüchen sichern. Zu diesem Zweck siedelte de Carteret, der erste Seigneur, 40 Familien aus seinem Heimatdistrikt auf Sark an. Jede Familie erhielt ein Stück Land, vererbbar an den erstgeboren Sohn. Verkauft ein Eigentümer seinen Grund und Boden, steht dem Seigneur der 13. Teil des Erlöses zu. Gibt es keinen Erben, fällt das Anwesen nach einer gewissen Wartezeit an den Seigneur zurück. Der heutige heißt Michael Beaumont. Ranghöchster Entscheidungsträger Sarks ist allerdings der Richter, Sénéschal genannt.
Gemeinhin gilt Sark als Steuerparadies. Doch Steuern zahlt man hier durchaus. Bereits mit dem Erwerb des Fährtickets nach Sark ist eine Landungssteuer zu entrichten. Eine Importsteuer wird ebenfalls erhoben. Irgendwie muss sich die Kommune schließlich zu finanzieren! Insulaner müssen außerdem für jährlich zu erneuernde Lizenzen zahlen: für Pferde, Hunde, Kutschen, Gewehre und Traktoren. Bei einem Fahrrad, das jeder Insulaner zwangsläufig besitzt, ist das mit fünf Pfund abgetan. Für einen Traktor wird der zehnfache Betrag fällig, nachdem das Gefährt auf seine Verkehrssicherheit geprüft worden ist. Eine Prüfung muss auch jeder Pferdelenker ablegen, bevor er Besucher über die Insel kutschieren darf. Gute Kenntnisse der Historie sind ein unverzichtbarer Bestandteil des Tests.
Englisch, die Sprache des »Mutterlands«, wird erst seit relativ kurzer Zeit auf der Insel gesprochen. Bis zum zweiten Weltkrieg bestimmte Sercqais den Alltag, eine Mundart, die aus normannischem Französisch hervorgegangen war. Orthodoxes Französisch wurde lange Zeit in Schulen, am Gericht und in Kirchen benutzt. Noch heute wird das Vaterunser beispielsweise bei der Vereidigung der ehrenamtlichen Polizisten in Französisch gesprochen. Aber während Franzosen ihr Gegenüber mit »mon cher« - mein Lieber - ansprechen, sagen Sarkesen »mon pôvre ami« - mein armer Freund. Für die ältere Generation ist Englisch noch heute eine Fremdsprache, die meisten Jugendlichen dagegen sind des Sercqais, das kein Wörterbuch kennt, nicht mehr mächtig. Auch Seigneur Michael Beaumont, der selbst nicht auf Sark geboren wurde, spricht es nicht.
Das Restaurant »La Moinerie« hatte uns die nette Frau im einzigen Postamt empfohlen. Es sei leicht zu finden: »Gleich hinter dem grandiosen Garten der Seigneurie.« Und Trish, die Wirtin, empfahl uns Schwarzen Sägebarsch, Steinbutt, Hummer oder Seezunge, frisch von ihrem Mann gefangen. Und außerdem, nachdem sie von unserer Herkunft erfahren hatte: »Gehen sie doch mal zu Werner, der freut sich immer, wenn er mal Deutsch schwatzen kann.« Welcher Werner? »Na der Herr Rang, der das Juweliergeschäft in der Avenue betreibt. Das beste Beispiel, dass wir den Deutschen nicht mehr gram darüber sind, dass sie unsere Inseln besetzt hatten.«
Die Haupteinkaufsstraße nennt sich zwar »Avenue«, ist aber nicht mehr als eine kurze Reihe von Geschäften, Restaurants, Fahrradverleih und Internetcafé. Der Juwelier ist also schnell gefunden. Wir haben Glück: Werner Rang, der aus Thüringen stammt, ist gerade von einem Besuch beim Augenarzt auf Guernsey zurückgekehrt. »Ja, so ist das hier: Wir haben nur einen Allgemeinarzt, kein Krankenhaus, keinen Zahnarzt. Also heißt es stets nach Guernsey pendeln. Das macht das Leben teuer.« Seine Frau pflichtet ihm sofort bei: »Was hilft es uns, dass Champagner, Zigaretten, Parfüm oder Hummer preiswert sind, die wichtigen Dinge - Fleisch und Nahrungsmittel überhaupt, Möbel, Baumaterial alles muss von Guernsey herangeschafft werden. Auch die Kilowattstunde Strom kostet uns satte 28 Pence (45 Eurocent) .«
Werner Rang erzählt, dass er 1995, als Prinz Charles anlässlich des 50. Jahrestages der Befreiung der Kanalinseln von den deutschen Besatzern auf Sark war, einige Worte mit dem Thronfolger gewechselt habe. Rang hatte in den Kriegsjahren als Sanitätshelfer auf der Insel gedient. Nach Kriegsende lernte er in England das Sark-Mädchen Phyllis Baker kennen und kehrte mit ihr auf die Insel zurück. Für sein dreißigjähriges Engagement als Ambulanzfahrer verl...
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