Der Bücher-Millionär

Horst Herkner will das Leseland No.1 in einem Bibliotheksmuseum weiter leben lassen

  • Matthias Busse
  • Lesedauer: ca. 9.0 Min.
Horst Herkner ist spät dran. Wahrscheinlich hat er wieder bis Mitternacht bestellte Bücher für seine Kunden verpackt. Der Beruf des Antiquars ist schwer geworden. Herkner nimmt in seinem Geschäft in der Wörther Straße in Berlin-Prenzlauer Berg manchmal weniger als das Porto für seine bis zu 70 Büchersendungen täglich ein. Die beste Lage gleich neben dem Touristenmekka Kollwitzplatz ändert daran nichts. Zwei seiner Geschäfte im Kiez musste er bereits schließen. Aber der 53-Jährige will nicht klagen. Läuft doch der Internet-Versandhandel über das Zentrale Antiquariatsverzeichnis www.zvab.de so gut, dass er kaum mit dem Eintippen neuer Titel hinterher kommt. Außerdem finanziert er damit sein 700 Quadratmeter großes Lager in einer ehemaligen Fabrik. Da ist gestapelt, was einst in der DDR nur als »Bückware« zu bekommen war: Lizenzausgaben ausländischer Schriftsteller, gut aufgemachte Sachbücher und die mit der Aura des Kritischen umgebene DDR-Belletristik. Aber auch SED-Parteiliteratur quillt aus Bananenkisten. »Das sieht ein bisschen ungeordnet aus, hat aber alles System«, reagiert er auf skeptische Blicke. Kein Quadratmeter ist hier verschenkt. Um in die erste von drei einstigen Werkstätten zu gelangen, muss der Antiquar erst einmal mit Bücherkisten bepackte Wagen aus dem Gang rollen. Obenauf liegen drei originalverpackte Bände im Schuber »Autoren- und Verlegerbriefe des Aufbau-Verlages 1945-1961«. Ein gelber Zettel klebt daran: »Museum«. Deshalb ist er an einem Sonntag so früh aufgestanden, um über seinen Traum von einem Bibliotheksmuseum zu erzählen. Von den mehr als eine Million lagernden Büchern sind dafür 200000 Bücher, Zeitungen und Zeitschriften reserviert. »Anfangs beschränkte sich das auf DDR-Literatur. Diese Idee hat sich verändert. Denn man muss den kulturellen Kontext mit aufzeigen«, sagt der Literaturfreund. All das soll einmal in etwa fünf Jahren von einer für das Buch besseren Zeit künden. Denn dass die DDR das Leseland Nummer eins gewesen sei, das lässt sich Herkner nicht ausreden. »Inzwischen kommen die erfolgreichen Schriftsteller wie Durs Grünbein oder Bachmann-Preisträger Wolfgang Hilbig alle aus dem Osten. Das doch deshalb, weil sie eine bessere Ausbildung genossen haben und in Ruhe arbeiten konnten, während die im Westen sich am System aufrieben. Jörg Fauser bildet da von denen aus den 60er-Jahren eine Ausnahme.« Eigentlich könnte Herkner wie einige andere seiner alteingesessenen Kollegen das umsatzschwache Antiquariat schließen, um sich von zu Hause aus nur noch dem Versandgeschäft widmen zu können. Aber dann würde ihm etwas fehlen. Er liebt es, mit seinen Kunden zu diskutieren. Ungebeten macht er das nicht. Dafür hat er viel zu viel am Computer zu tun. Einigen erscheint er mürrisch, wenn er hinter seinen zu katalogisierenden Bücherstapeln hochblickt und sich dabei die immer stärker werdende Brille zurechtrückt. Kunden, die die DDR nur aus dem Westfernsehen kennen gelernt haben, verspüren dann manchmal ein Mitteilungsbedürfnis und wollen ihm erzählen, dass es im Osten doch gar keine richtigen Bücher gegeben habe. Der sonst so ruhige Mann kann über solche Plattheiten die Fassung verlieren. Das Literatursystem der DDR lässt er sich nicht madig machen. »Diese Leute können sich doch gar nicht vorstellen, dass es manche Bücher nur deswegen nicht gab, weil sie so begehrt waren, dass man mit dem Drucken nicht hinterher kam. Wenn ein Roman von Christa Wolf erschienen ist, dann wurde darüber überall gesprochen, Bücher von Harry Thürk an der Werkbank diskutiert.« Dabei müsste Horst Herkner die Fahne nicht hoch halten. Zwar ist er in Elsterwerda geboren, doch aufgewachsen in Süddeutschland. »In unserem Dorf bei Stuttgart habe ich als 14-Jähriger die gesamte Bibliothek leer gelesen«, amüsiert er sich. Er studierte Fotodesign, doch das gedruckte Wort war ihm lieber als Bilder. In West-Berlin aufkommende neue linke und ökologische Ideen zogen ihn 1978 in die eingemauerte Enklave, wo gerade die alternative Tageszeitung »taz« gegründet wurde. Er hob im selben Jahr seinen eigenen Verlag »Express Edition« aus der Taufe, der sich vor allem mit Übersetzungen aus der Türkei, Indonesien und sogenannten Dritte-Welt-Ländern einen Namen machte. Herkners mittlerweile grau gewordenes langes Haar, das er zum Pferdeschwanz gebunden trägt, zeugt noch von alternativem Denken. Wegen Unstimmigkeiten mit seinen Geschäftspartnern verließ er das Unternehmen und arbeitete als Verlagsberater in der westdeutschen Bücherstadt Frankfurt. Als gewachsene Strukturen im Osten 1990 durch politische Umbrüche zerfielen, versuchte er zu retten, wo er konnte. »Auf Freundschaftsbasis« habe er Seminare für Verlagsmitarbeiter gehalten, um ihnen eine Orientierung für den Weg in die Privatwirtschaft zu geben, erzählt er. Wenn ihn etwa ein Chauffeur des verlagseigenen Fuhrparks zu einem Vortrag abholte, konnte er letztmals darüber staunen, mit welchem Aufwand für das Kulturgut Buch gearbeitet wurde. Auch wenn damals der Zusammenbruch des DDR-Buchmarktes in seinem ganzen Ausmaß nicht absehbar war und keiner ahnte, dass ehemaligen DDR-Verlagen fast alle Lizenzen entzogen würden, informierte Herkner schon damals seine Zuhörer darüber, dass vergleichbare Unternehmen im Westen mit sechs Mitarbeitern auskommen, anstatt mit mehr als 100. Damit war er näher an der Wahrheit als das offizielle Mitteilungsblatt des Buchhandels. Das Börsenblatt zitierte zur gleichen Zeit Überlegungen, den mit 145 Leuten total überbesetzten Aufbau-Verlag auf 50 Mitarbeiter zu reduzieren. Lediglich Weisheiten über die Marktwirtschaft in den Osten zu tragen, war Herkner zu wenig. Er übernahm selbst den von der Schließung bedrohten Infodienst für öffentliche Bibliotheken beim Zentralinstitut für Bibliothekswesen der DDR und zehn Angestellte. Sein bereits in der Jugend antrainiertes Lesepensum kam ihm dabei zupass. In dem Mitteilungsblatt besprach er monatlich 300 Titel, damit die Bibliothekare eine Orientierung über das Angebot hatten. Aber bald besaßen die Bibliothekare nicht einmal mehr die Zeit, diese Informationsquelle zu nutzen. »Die Mitarbeiter wurden entlassen und teils durch unerfahrene ABM-Kräfte ersetzt. Die verbliebenen Bibliothekare waren bald mit Büroarbeit überlastet und ließen unseren Infodienst ungelesen liegen«, beschreibt er die Situation, die 1999 zum Ende des Blattes führte. Auch dem Niedergang der Bibliothekslandschaft sah Herkner nicht tatenlos zu. Zwar konnte er das Bibliothekssterben nicht aufhalten, aber wenigstens versuchte er seit 1996, die Bestände zu retten. Nach dem Vergleich von Statistiken aus der DDR und von heute schätzt Herkner, dass von 19000 Bibliotheken in der DDR etwa 16500 geschlossenen worden sind. 80 Millionen Bücher sind wahrscheinlich dadurch auf den Müll gewandert. Das wäre das Zehnfache dessen, was Jörg Friedrich in seinem Buch über den alliierten Luftkrieg »Der Brand« die »größte Bücherverbrennung aller Zeiten« nennt. Demnach sind zwischen 1943 und 1945 acht Millionen Bände aus öffentlichem Besitz verloren gegangen. So gesehen, kämpft Herkner gegen einen viel größeren kulturellen Vernichtungskrieg. Manchmal bekam der umtriebige Mann erst in letzter Minute einen Tipp, wo wieder eine Bibliothek im Container gelandet war. Auf diese Weise erhielt er beispielsweise die Bestände einer Ingenieursbibliothek eines abgewickelten Betriebes, darunter wertvolle, mehr als 100 Jahre alte Bände. Von Rügen bis nach Zeulenroda ist er mit seinem Transporter gefahren. Wöchentlich setzte er sich hinter das Steuer des Wagens mit der Aufschrift Bibliotheksmuseum. »Die Beschriftung war damals ein kleiner Trick«, gibt er zu, für einen guten Zweck zu nicht ganz lauteren Mitteln gegriffen zu haben, als er 1998 in einem Leipziger Neubaugebiet die Bestände einer geschlossenen Bibliothek abholen sollte. »Die Leiterin sagte am Telefon, dass wir vorsichtig sein müssten, da die Anwohner dagegen Sturm laufen. Da haben wir die Schrift auf unser Auto kleben lassen, und die Leute packten mit an, weil ihre Bücher nun sogar in ein Museum kommen sollten«, erinnert er sich halb amüsiert, vergisst aber auch nicht die Tränen der Bibliothekare. Inzwischen hat das Bibliothekssterben auch den Westen ergriffen. Da kein Gesetz Bibliotheken schützt, fallen diese dem Rotstift der Kommunen zuerst zum Opfer. Im Zuge der PISA-Studien, die erschreckende Lerndefizite bei deutschen Schülern aufdeckten, halten Experten das als Schritt in die falsche Richtung. Der Geschäftsführer der Stiftung Lesen in Mainz, Klaus Ring, sieht sogar einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Stellenwert von Bibliotheken in einem Land und der Bildung seiner Bewohner: »Schweden und andere Siegerländer der PISA-Studie verfügen über ein ausreichendes und breit gestreutes Bibliotheksangebot, das auch gesetzlich festgeschrieben ist.« Das Internet ist für den Professor keine Konkurrenz zum Buch: »Zwischen Medien- und Lesekompetenz gibt es große Zusammenhänge. Gute Leser nutzen auch überproportional viel das Internet. Die Entwicklung der Lesekompetenz führt später zu hoher Medienkompetenz.« Am Anfang steht für ihn die Freude am Lesen. Dass man aber im Osten mehr Spaß daran hatte, bezweifelt Ring. Doch wenn er dann Zahlen nennt, widerspricht er sich in dieser Hinsicht selbst. Köln verzeichne zwei Millionen Besucher in seinen Stadtbibliotheken, Dresden 1,7 Millionen. Somit kommen in der nur 500000 Einwohner zählenden sächsischen Elbmetropole pro Kopf mehr Nutzer als in der Millionen-Stadt am Rhein. Und über die unterschiedliche Qualität der Literatur, die in Ost und West gelesen wird, braucht man Herkner sowieso nichts vorzumachen: »Wenn ich in Privathaushalten Bücher abhole, bin ich immer wieder erstaunt, wie gut die im Osten ausgestattet sind. Da findet man oft 2000 bis 3000 gute Bücher, während im Westen eher Bände aus dem Berthelsmann Lesering im Regal stehen.« Womit der Antiquar wieder bei seinem Lieblingsthema ist, den DDR-Bibliotheken. Über den brandenburgischen Ministererlass von Steffen Reiche Ende 2002 kann er nur lächeln: »Was die jetzt als Neuerung einführen, dass Bibliotheken mit Schulen zusammen arbeiten sollen, war doch schon in der DDR üblich. Da ist jeder mindestens drei Mal mit seiner Klasse in eine Bibliothek geführt worden.« Speziell entwickelte Spiele sollten den Kindern helfen, sich zwischen den Regalen zurecht zu finden und das System der wissenschaftlichen Katalogisierung kennen zu lernen. Deshalb soll sein Bibliotheksmuseum nicht nur einen Traditionsraum mit Leninbild, »Lesen-macht-Freude«-Plakaten und schwarz-weißen Autorenkonterfeis haben, sondern auch das heute in kleinen Bibliotheken nicht mehr betriebene System der wissenschaftlichen Archivierung weiter führen. Außerdem soll es Anlaufpunkt für Menschen aus aller Welt sein. Monatlich fünf bis zehn Anfragen verzeichnet er schon jetzt aus dem Ausland. Gesucht werden Titel, die oft in den Müll wanderten, um bunten Bänden aus dem Westen Platz zu machen. Auch wenn Mitarbeiter der Berliner Stadtbibliothek oder der zentralen Deutschen Bücherei in Leipzig solch rigorosen Umgang mit Literatur bezweifeln, hat Herkner es in der Provinz anders erlebt. Zudem haben es Interessenten schwer, sich in der Fülle der Gesamtbestände der großen staatlichen Einrichtungen einen Überblick über DDR-Literatur zu verschaffen, die ja nicht gesondert gesammelt wird. Zudem sind diese Archive aus Platz- und Personalmangel nur schwer nutzbar. Somit ist der Gründer des Bibliotheksmuseums von seiner Mission überzeugt: »Das Interesse an der DDR wird sich noch vervielfachen, und es wird noch mehr Forschungsvorhaben dazu geben.« Wer hätte gedacht, dass sich Wissenschaftler an der britischen Elite-Universität von Oxford mit dem Liedgut der DDR beschäftigen? Oder ein holländisches Museum für Post- und Fernmeldewesen bei dem Antiquar nach Fachliteratur aus der DDR fragt? In solchen Situationen ärgert er sich, dass er nicht schon früher alles aufgehoben hat. »Für unser Projekt ist gerade das Gewöhnliche wichtig, da es als erstes rausgeworfen wurde und so wenig davon überlebt hat«, sagt Herkner. Aus dem Verkauf von Dubletten und alten Raritäten soll sich das Museum finanzieren. Das scheint doch Wahnsinn: Wenn Herkner nur die Hälfte seines Bestandes verkaufen und für jedes Buch zwei Euro nehmen würde, wäre er bereits Euro-Millionär. Dabei sieht er noch kein Ende: »Es kommen täglich weitere Bücher dazu.« Sein Traum von einem Museum auf 2000 Quadratmetern in bester Berlin-Lage scheint damit gar nicht abwegig. So bescheiden wie das Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR in Eisenhüttenstadt will er gar nicht erst anfangen. »Das ist ein Witz. Das ist nicht zentral genug gelegen. So etwas gehört in die Mitte der deutschen Hauptstadt.« Seinen unverkäuflichen Lesebestand will Herkner der Stiftung Bibliotheksmuseum schenken, die es noch zu gründen gilt. »Mir gehören diese Bücher nicht. Ich habe sie nur gerettet«, sagt er und drängt zum Aufbruch. Schon wieder wartet ...

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