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  • Politik
  • „Komitee für Gerechtigkeit“ will Ost-West-Kluft nicht vertiefen, sondern überwinden

Gründungsaufruf fix und fertig

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Berlin (ND-Oschmann). Die Gründung einer seit Wochen Politik, Öffentlichkeit und Medien beschäftigenden neuen ostdeutschen Bürgerbewegung steht unmittelbar bevor. „Neues Deutschland“ verfügt über verläßliche Hinweise, wonach sich bereits in den nächsten Tagen ein „Komitee für Gerechtigkeit“ konstituieren dürfte. Es will mit dem parteiübergreifenden Zusammenschluß prominenter Persönlichkeiten vor allem aus Ost-, aber auch aus Westdeutschland künftig vor allem Druck auf die Parlamentarier auf allen Ebenen zur stärkeren Interessenvertretung der Ostdeutschen ausüben. Damit soll ein Beitrag zur Überwindung, nicht zur Vertiefung der inneren Spaltung in Deutschland geleistet werden.

Wie ND aus sicherer Quelle erfuhr, liegen der zweieinhalb Maschinenseiten lange'Gründungsaufruf des „Komitees für Gerechtigkeit“ sowie - Stand Freitagnachmittag die Unterschriften von zehn Erstunterzeichnern vor. Mit etwa ebensoviel weiteren namhaften Frauen und Männern aus Politik und Wissenschaft, Gewerkschaften, Kultur und Sport finden erste bzw. abschließende Kontakte statt. Der Appell des Komitees, dessen Ideen bereits im Vorfeld auf lebhafte Zustimmung, aber auch Zweifel und scharfe Ablehnung stoßen, geht davon aus, daß die Menschen im Osten Deutschlands selbst etwas tun müssen,

- um der Deklassierung der ehemaligen DDR-Bürger,

- den wachsenden Ängsten in Europa vor der besorgniserregenden

Art und Weise der deutschen Einigung und - den wachsenden Gefahren von Rechtsradikalismus und Rassismus zu begegnen.

Der Aufruf appelliert zur Bildung örtlicher „Komitee“-Vertretungen, in denen jede(r) Interessierte mitarbeiten kann. Die ostdeutschen Bürger brauchten eine eigene Körperschaft, die per Gesetz die Befugnis von Kontroll- und Initiativorganen erhält. Für diese Gremien, die das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger der neuen Bundesländer und Ostberlins besitzen müßten, scheide anonyme Partei wähl aus.

Eine der Erstunterzeichnerinnen, eine populäre Künstlerin aus Berlin, unterstrich nicht nur die Notwendigkeit einer solchen Initiative, sondern verglich die Situa-

tion angesichts der von ihr erwarteten heftigen Regierungsattacken mit der Lage im Herbst 1976, als Christa Wolf wegen des Protestaufrufs gegen die Biermann-Ausbürgerung zu ihr gekommen sei.

Der stellvertretende PDS-Vorsitzende Andre Brie erklärte ND am Freitag, es bestehe weder Absicht noch Möglichkeit oder Gefahr, daß die ostdeutsche Bewegung „PDS-lastig“ werde. Die Initiatoren seien unterschiedlicher Herkunft und politischer Bindung, sie betrachteten auch einander kritisch und verkörperten nach seiner Meinung, „signalgebend linksdemokratisches Potential“

Natürlich beabsichtige die Bewegung „Druck auszuüben sowie Ergebnisse im Interesse der anschlußgeschädigten Ostdeutschen zu erzielen“ Persönlich erwarte er, „daß die Bewegung nach ihrer Konstituierung auch eine Beteiligung an den Wahlen 1994 erwägen dürfte - denkbar mit einer Orientierung auf Direktmandate für einige namhafte und anerkannte ostdeutsche Identifikationsfiguren“

Der letzte DDR-Ministerpräsident, Anwalt Lothar de Maiziere, (CDU), der in den vergangenen Wochen von Gregor Gysi (PDS)

und Peter-Michael Diestel (CDU) bereits als gewünschter Mitstreiter öffentlich genannt worden war, aber bislang in keiner Weise seine Teilnahme bestätigte, äußerte gestern im Verlauf eines ausführlichen ND-Gesprächs, es gebe „eine ganze Reihe von Dingen, die für eine solche Initiative sprechen“ Es sei deutlich, daß „sich die Ostdeutschen gegenwärtig in Bonn nicht vertreten fühlen“ De Maiziere, der mit dem Projekt aber auch eine Reihe von sachlichen wie persönlichen Vorbehalten verbindet, beklagte, „daß das Thema deutsche Einheit auf deren Finanzierbarkeit reduziert worden ist“ und nannte „die heutige Ausgrenzung der gesamten akkumulierten Intelligenz der DDR“ verhängnisvoll. Mit ihr würden von Bonn „keine CDU-, SPD- oder FDP-Gegner, sondern Gegner der Demokratie erzogen“

Günter Grass will sich keinesfalls an der ostdeutschen Bewegung beteiligen. Die Verantwortung für die Probleme im Osten Deutschlands liege bei den Parteien, erklärte der Schriftsteller nach einer Lesung in Berlin, „und zwar bei den Parteien, die diesen unsäglichen Einigungsvertrag unterschrieben haben“

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