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  • Brandenburg
  • „Grenzfall - Walter Benjamin zum 100. Geburtstag“ in der Galerie Mulackstraße

Kleinprosa an die Zimmerwand tapeziert

  • Lesedauer: 2 Min.

Heuristik ist die Lehre von den Wegen zur Gewinnung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Zu diesem Zweck hat sich vor sechs Jahren das Institut für Heuristik (IfH) gegründet, dessen Mitglieder zwar akademisch gebildet sind, die ausgetretenen Pfade der alma mater aber verlassen haben. „Angesichts der heutigen Orientierungkrise im Umgang mit Wissenschaft gilt es, dezentrales Wissen ausfindig zu machen und die Urteilskraft zu fördern, sodann nach der Seite der Praxis und der Orientierungsleistung zu erhellen“, heißt es in einem Informationsblatt des gemeinnützigen Vereins.

Den ersten Teil seiner Forderungen hat das Institut jetzt.mit einer Ausstellung in der Galerie Mulacksstraße eingelöst, die Walter Benjamin zum 100. Geburtstag gewidmet ist. Das IfH verfolgt einerseits Aspekte aus den Schriften, die der jüdische Schriftsteller und Kritiker noch vor seiner Emigration verfaßte Und nähert sich ihm andererseits von verschiedenen Positionen. Im Zentrum stehen die Eindrücke, die Benjamin auf seiner Moskaureise gewann. Besucher sind aufgefordert, sich in die Textfragmente aus Benjamins

Schriften einzulesen, die das IfH in Collagen auf die Zimmerwände tapeziert hat. Schon nach wenigen Abschnitten an beliebiger Stelle eröffnet sich ein interdisziplinärer Diskurs: Der sowjetische Film als Inbegirff puren Technikfetischismus; die Kraft der Erinnerung, ausgelöst durch ein spätimpressionistisches Bild in einem Moskauer Museum; die Begegnung mit der russischen Regisseurin Asja Lacis, die, wie Brecht, Benjamin mit dem wissenschaftlichen Sozialismus konfrontierte, schließlich Zitate aus den Berliner Kindheitserinnerungen und aus dem Miniaturenband „Einbahnstraße“. Raum und Zeit sind die Begriffe, die das subjektiv und selektiv, aber peinlich genau erstellte Gedankengefüge zusammenhalten. Sie werden sinnlich begreifbar gemacht mit Aufnahmen einer Schlitzbildkamera, einer Skulptur von John Miller und drei Computern, in denen sich ein sogenannter Hypertext verbirgt, eine Vernetzung von Zitaten, die durch das Tippen auf bestimmte Worte gewählt können.

Doch die geforderte Orientierungsleistung bringt die Praxis des IfH weder Anfängern noch fortgeschritteneren Benja-

min-Lesern. Nicht, weil sie vom didaktischen Kurs der Universitäten abweicht, sondern schlicht, weil sie Spezialkenntnisse der Werke voraussetzt. Auch die Tafel, die die Biografie des Literaturwissenschaftlers von seiner Geburt in Berlin bis zu seinem Selbstmord 1940 - Benjamin brachte sich aus Furcht vor der Gestapo an der Grenze zu Spanien um - als Einbahnstraße nachzeichnet, kann diesen Mangel nicht beseitigen, sondern die Besucher bestenfalls wißbegierig machen. Denn „Grenzfall“, wie der Titel der Ausstellung lautet, präsentiert nur den halben Benjamin - der Geschichtsphilosph und der Literatursoziologe fehlen. Aber „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkreit“ und die „Geschichtsphilosophischen Thesen“ stehen in jeder Leihbibliothek.

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