Gerechtigkeit ist das Brot des Volkes

Antrag an die außerordentliche Tagung des 8. Parteitages der PDS am 28./29. Juni 2003 in Berlin

Die Partei des Demokratischen Sozialismus will energisch eingreifen in die Diskussion um die Gestaltung des Wirtschafts- und Sozialsystems in Deutschland. Wir wollen in dieser Auseinandersetzung die Position der sozialen Gerechtigkeit und der Solidarität vertreten. Wir wollen die Partei sein, die deutlich sagt, dass es zur unsozialen Abrisspolitik von SPD, Grünen, CDU/CSU und FDP gerechte und solidarische Alternativen gibt, die machbar sind, wirtschaftlich vernünftig und zukunftsfähig. Auch heute gilt, was Brecht im Sommer 1953 den Herrschenden ins Stammbuch schrieb: Gerechtigkeit ist das Brot des Volkes.

Die PDS ist kein Selbstzweck
Zunächst müssen wir jedoch feststellen, dass wir es in der jüngeren Vergangenheit nicht vermocht haben, unsere Vorstellungen, Forderungen und Alternativen gesellschaftlich wirkungsvoll zu vertreten. Im Wahlkampf 2002 haben wir die eigenständige politische Funktion der PDS nicht genügend deutlich gemacht. Die PDS achtet andere politische Überzeugungen und hat vielfach bewiesen, dass sie zu verlässlicher demokratischer Beteiligung bereit ist. Aber sie ist nicht Mehrheitsbeschafferin der deutschen Sozialdemokratie, ihre Funktion erschöpft sich auch nicht darin, eine konservative Regierung zu verhindern. Die PDS ist die demokratische sozialistische Partei Deutschlands. Sie ist eine Partei, die für Millionen Menschen wichtig sein will, weil sie praktisch und programmatisch zu einer anderen, einer solidarischen und friedlichen Politik in Deutschland und in der Europäischen Union beiträgt. Als einzige in Parlamenten vertretene Partei widerspricht sie der Auffassung, es gäbe keine Alternativen zur Ellenbogengesellschaft, zum Privatisierungsfundamentalismus und Marktradikalismus. Sie findet sich nicht mit der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Auszehrung Ostdeutschlands ab, sondern sieht im Osten die Chance und einen Beitrag für eine moderne, beispielhafte wirtschaftliche, soziale und ökologische Erneuerung der gesamten Gesellschaft. Die PDS behauptet nicht, die allein selig machenden Antworten zu haben, sondern sie will im offenen Dialog mit den Menschen um zukunftsfähige, sozial gerechte, wirtschaftlich produktive und demokratische Lösungen streiten.
Diesen Maßstäben sind wir vor allem auf Bundesebene in den vergangenen anderthalb Jahren nicht gerecht geworden. Vor allem gelang es der Parteiführung nicht, Anforderungen und Aufgaben für ein wirksames Handeln der Partei in einer den neuen gesellschaftlichen Bedingungen entsprechenden politischen Strategie zusammenzufassen. Unser Widerspruchsgeist und unsere Kraft zum Widerstand haben spürbar nachgelassen. Für viele Bürgerinnen und Bürger sind wir in ihrem Alltag nicht mehr konsequent als eine Partei erkennbar gewesen, die vorrangig die Interessen, Sorgen und Hoffnungen der Menschen vertritt. Hinzu kamen interne Streitigkeiten, persönliche Querelen und ideologische Selbstverliebtheiten. So wurden die vielfältigen Anstrengungen Tausender Mitglieder und kommunaler Abgeordneter der PDS sowie ihre erfolgreiche Arbeit in der Friedensbewegung, in sozialen Bewegungen und in den Parlamenten in den Hintergrund gedrängt. Das Bild der PDS in der Öffentlichkeit wurde diffus, sie erlitt einen Verlust an Glaubwürdigkeit und konnte nicht mehr kraftvoll dazu beitragen, Alternativen in Richtung von mehr Gerechtigkeit, Demokratie, Friedensfähigkeit und einer neuen Rolle Ostdeutschlands in der Gesellschaft zu verankern. Strategische Fehlentscheidungen und andere Ursachen haben zur Wahlniederlage am 22. September 2002 und zur aktuellen Krise der PDS geführt.
Die Delegierten dieses Parteitages bekräftigen: Die PDS ist kein Selbstzweck. Der Parteivorstand soll leiten und Verantwortung wahrnehmen, sich aber nicht in selbstzerstörerische Kämpfe und persönliche Profilierungen verstricken. Wir verlangen von uns, von der PDS und ihrem Vorstand einen spürbaren Wiedereinstieg in die Politik, ein sichtbares Hinwenden zu den Menschen und ihren Problemen, ein deutliches Hineinbegeben in die Gesellschaft. Wir wollen zeitgemäße und demokratische sozialistische Politik betreiben: realistisch und von Millionen erlebbar. Während alle anderen im Bundestag vertretenen Parteien Gesellschaftspolitik mehr oder minder von den Interessen der großen Unternehmen und Banken her bestimmen, gehen wir von den Erfahrungen und Forderungen, den Hoffnungen und der Unzufriedenheit, den Freuden und Leiden der Menschen aus.

So wie es ist, kann es nicht weitergehen
Wir sind überzeugt, dass dieses Land eine andere Politik braucht. Die Menschen erwarten Reformen, die zu einem Mehr an Beschäftigung, wirtschaftlichem Wachstum, sozialer Sicherheit, an Demokratie und Selbstbestimmung führen. Für eine solche alternative Reformpolitik steht die PDS. Die Bundesregierungen unter Kohl und Schröder haben den Abbau, möglicherweise sogar den Abriss des Sozialstaates eingeleitet. Dieser Einschnitt hat ge-schichtliches Ausmaß, das Band der gegenseitigen Verantwortung, das die Gesellschaft bislang zusammengehalten hat, zerreißt. Jede und jeder ist sich selbst der Nächste. Muss es da nicht eine Partei geben, die sagt: Ihr stellt die falsche Diagnosen und habt folglich die falsche Therapie?
Muss es nicht eine Partei geben, die ausspricht, dass Deutschland 2003 nicht ärmer ist als vor zehn Jahren oder beim Regierungsantritt von SPD und Grünen? Das private Geldvermögen hat sich im vergangenen Jahrzehnt von 3 auf 6Billionen DM verdoppelt. Das obere Zehntel der Haushalte besitzt 40 Prozent des gesamten Privatvermögens in Deutschland, während sich die unteren vier Zehntel 5 Prozent des Vermögens teilen müssen. Muss es da nicht eine Partei geben, die sagt: Ein Sparkurs zu Lasten der sozial Benachteiligten und zum Vorteil der Reichen und Mächtigen in dieser Gesellschaft geht in die falsche Richtung? Das ist ein Kurs, der sozial skandalös ist und wirtschaftspolitisch in den Niedergang führt. Soll und muss es nicht wenigstens eine Partei in Deutschland geben, die verneint, dass das Jahrhundert der Sozialpolitik zu Ende sei, sondern die deutlich sagt: Soziale Gerechtigkeit ist modern, und soziale Sicherheit ist eine Gegenwarts- und Zukunftsbedingung? Muss es nicht eine Partei geben, die Krieg nicht nur im Einzelfall ablehnt, sondern uneingeschränkt, die Nein sagt zu Krieg, Waffenexporten, Massenvernichtungswaffen und Aufrüstung? Alle anderen Parteien im Deutschen Bundestag betätigen sich als Verwalter und Gestalter des neoliberalen Kapitalismus und seiner Globalisierung.
Wir sagen der demokratischen Öffentlichkeit: Das ist der Weg zur weiteren Spaltung der Gesellschaft in die, die gebraucht, und die, die nicht gebraucht werden, in arm und reich, oben und unten. Es ist der Weg in die Spaltung der Welt, in ökologische Zerstörung, Armut, Hunger und neue Kriege. Dem stellt sich die PDS mit ihren gesellschaftspolitischen Alternativen entgegen. Denn die Geschichte ist nicht am Ende, Profit ist nicht das Maß aller Dinge und schon gar nicht der Maßstab einer menschlichen Gesellschaft. Eine andere Welt ist möglich! Wir wollen eine Gesellschaft, in der sich die Individualität jedes Menschen und der Reichtum seiner gesellschaftlichen und kulturellen Beziehungen entfalten können, in der das Gemein-wohl, die Bewahrung der Natur und der Frieden entscheidend sind.
Wir, die Delegierten des PDS-Parteitages, sind überzeugt, die Partei des Demokratischen Sozialismus kann zu einer solchen Entwicklung beitragen. Wir sind entschlossen, uns leidenschaftlich dafür einzusetzen. Wir fordern den neu gewählten Parteivorstand auf, eine solche Politik verantwortungsbewusst, energisch, nachhaltig und gesellschaftlich wirkungsvoll zu organisieren. Wir wollen reale Politik, die Millionen Menschen erreicht.

Es geht um einen Neustart der PDS
Der Parteitag der PDS beauftragt den Parteivorstand,
erstens, die Lehren aus unserer Krise zu ziehen und den Reichtum an Erfahrungen produktiv zu nutzen, den wir in Kommunen, Ländern, Bund und Europa, in parlamentarischer Opposition, Regierungsbeteiligung und Tolerierung, in verschiedenen Konstellationen parlamentarisch und außerparlamentarisch, in Bewegungen, gesellschaftlichen Organisationen und Vereinen gewonnen haben;
zweitens, den Programmparteitag im Oktober 2003 in Chemnitz entsprechend der Parteitagsbeschlüsse von Dresden und Gera so vorzubereiten, dass sich die PDS auf der Grundlage des vorgelegten Programmentwurfs ein zeitgemäßes, sozialistisches, konsequent demokratisches und auf das Eingreifen in reale politische Auseinandersetzungen gerichtetes neues Programm geben kann;
drittens, eine Strategie für die Entwicklung der PDS als gesellschaftlich wirkungsvolle, eigen-
ständige demokratisch-sozialistische Partei, offen gegenüber den alten und neuen sozialen und globalisierungskritischen Bewegungen, zu entwickeln und umzusetzen;
viertens, eine dringend notwendige Parteireform zu befördern, die die Arbeitsweise der Partei und ihre innerparteiliche Kultur so verändert, dass sozialistische Politik an Wirksamkeit und Nachhaltigkeit gewinnt;
fünftens, das Profil der PDS als Anti-Kriegspartei weiter auszubauen. Das betrifft die Mitarbeit in der Friedensbewegung, neue Vorstellungen zur Stärkung des Völkerrechts und der UNO angesichts der US-Hegemonie und neuer drohender Kriege. Zur Forderung der Friedensbewegung nach Senkung des Rüstungsetats entwickelt die PDS eigene Initiativen;
sechstens, die politische Führung und die Arbeit des Vorstandes auf einen erfolgreichen, konzentrierten und professionellen Europawahlkampf sowie die Unterstützung der Kommunal- und Landtagswahlen 2003 und 2004 auszurichten und die politischen, organisatorischen und finanziellen Voraussetzungen für die Rückkehr einer PDS-Fraktion in den Bundestag zu schaffen.
Vor allem aber erwarten und verlangen wir vom Parteivorstand, dass er die Partei des Demokratischen Sozialismus in einer ebenso raschen wie langfristig orientierten, konzentrierten und politisch wirksamen Weise fit macht für die folgenschweren Auseinandersetzungen in der Arbeitsmarkt-, Beschäftigungs-, Steuer-, Sozial-, Renten-, Gesundheits- und Bildungspolitik. Gegen die von den Unternehmerverbänden, der Bundesregierung, von CDU/CSU und FDP betriebenen Demontage des Sozialstaats und den Abbau sozialer Sicherheit ist entschieden Widerstand zu leisten. Gebraucht wird eine Reformpolitik, die den Erwartungen der Menschen entspricht, nicht gegen sie gerichtet ist und die über das, was rot-rote Koalitionen in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern leisten und leisten können, hinausgeht. Tausende Mitglieder der PDS arbeiten sehr engagiert in ihren Kreis- und Landesverbänden sowie in den Gewerkschaften, Wohlfahrtsorganisationen, Vereinen, Ökologieprojekten und in globalisierungskritischen Initiativen. Sie wollen, wir wollen einen Parteivorstand, der diese Aktivitäten als kollektives Gremium politisch koordiniert, strategisch ausrichtet und organisatorisch führt. Wir wollen, dass die PDS in diesen Auseinandersetzungen eine unverzichtbare Partnerin im Widerstand und Protest ist und in die Politik zurückkehrt, dass sie auf allen politischen Ebenen einen überzeugenden, linken Beitrag zu einer realistischen und zeitgemäßen Reform des Sozial- und Wirtschaftssystems in Deutschland und in der Europäischen Union leistet.

Die Agenda 2010 ist kein Zukunftsprojekt
Ein Neustart der PDS kann nur als ein Start mitten hinein in die gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen unserer Tage gelingen.
Die Bundesregierung behauptet, mit der Agenda 2010 einen langfristigen Reformprozess zu beginnen, an dessen Ende ein modernisierter, lebensfähiger Sozialstaat steht. Tatsächlich beginnt sie den Umbau mit einem drastischen Abbau sozialer Leistungen. Sie stellt Weichen, die gesellschaftliche, sozialstaatlich organisierte Solidarität nicht erneuern, sondern zer-
stören. Sie verletzt elementare Regeln sozialer Gerechtigkeit und nä- hert sich einer großen gesellschaftspolitischen Verbrüderung mit den Wirtschaftsliberalen in CDU/CSU und FDP. Auch Rot-Grün macht die Kranken, die Arbeitslosen, die Rentner für schlechte Konjunktur, für Steuerausfälle, steigenden Zuschussbedarf für die Sozialsysteme, die doch weiter wach-senden Staatsschulden und steigenden Insolvenzzahlen verantwortlich. Es zeugt von politischer Mut- und Hilflosigkeit, sich mit denjenigen, die auf den Sozialstaat angewiesen sind, anzulegen.
Wir sagen der politischen Konkurrenz klar und deutlich: Wer heute bei den Arbeitslosen kürzt, ohne auch nur einen existenzsichernden Arbeitsplatz als Alternative anzubieten, handelt unanständig. Gerade in Ostdeutschland, aber auch in anderen Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit, sind die Menschen empört. Sie erfahren tagtäglich, dass Arbeitslosigkeit wirtschaftliche und soziale Ursachen hat, dass es an Arbeitsplätzen und nicht an Arbeitswillen fehlt.
Wer heute, wo immer mehr Menschen auf sozialstaatliche Leistungen angewiesen sind, nur mit der Streichung von Leistungen einen Ausweg aus der Krise bietet, handelt unmoralisch und untergräbt gesellschaftliche Solidarität. Dass sich jeder selbst helfen muss und auf die Allgemeinheit und das Allgemeinwohl kein Verlass mehr ist, ist die Lebenslüge der herr-schenden Politik.
In Zeiten leerer öffentlicher Kassen, wachsender öffentlicher Schulden und steigender Abga-ben für diejenigen, die Erwerbseinkommen haben, die sozialen Belastungen zu erhöhen, ist keine verantwortungsvolle Politik.
Wer wirklich den Sozialstaat für die nächsten Jahrzehnte umbauen will, darf die Umbaukosten nicht allein den Leistungsbeziehern und Beschäftigten aufbürden. Der muss bereit sein, sich mit den wirklich Mächtigen anzulegen und darf vor der privaten Versicherungswirtschaft, der pharmazeutisch-medizinischen Industrie, den großen Konzernen und Vermögen nicht feige kuschen. Wir stehen für eine Politik, die auch von ihnen einen angemessenen Beitrag zur Finanzierung des Gemeinwesens erheben will.
Wir wenden uns an die demokratische Öffentlichkeit: Unsere Gesellschaft braucht dringend Veränderungen. Verschieben und Aussitzen müssen aufhören. Bevor SPD, Grüne und die bürgerlichen Oppositionsparteien das »Ende des Jahrhunderts der Sozialpolitik« verkündeten und praktizierten, hatten sie bereits in den achtziger und neunziger Jahren auf einem anderen Gebiet die neoliberale Agenda der Unternehmerverbände abgearbeitet und das Jahr-hundert aktiver staatlicher Wirtschaftspolitik beendet. Aber ohne die Fähigkeit des Staates und der Gesellschaft zu aktiven Wirtschafts-, ökologischen Industrie- und Regionalpolitiken wird es bei einem sozial und beschäftigungspolitisch zerstörerischen Standortwettbewerb bleiben.
Eine sozial gerechte Politik setzt Erwerbsmöglichkeiten immer auf Platz 1 ihrer Agenda. Wir treten für Überstundenabbau und Arbeitszeitverkürzung ein. Wir kämpfen für eine Beschäftigungspolitik, die bürgernahe Reformen der öffentlichen Dienstleistungen und Förderung eines öffentlich geförderten Beschäftigungssektors jenseits von Privatwirtschaft und staatlichem Bereich gleichermaßen beinhaltet. Wir wollen soziale und ökologische Dienstleistungen, die öffentlich beauftragt, gefördert und von ihren Trägern selbstbestimmt gestaltet und angeboten werden. Wir setzen uns ein für eine konzentrierte und innovative Förder- und Strukturpolitik, für eine Regionalentwicklung, die nachhaltig sozial und ökologisch ausgerichtet ist. Wir brauchen weiterhin besondere Anstrengungen für Ostdeutschland und unterstützen das von Fraktionsvorsitzenden der PDS sowie PDS-Wirtschafts- und -Arbeits-
ministern initiierte »Innovationsprojekt Ost«.

Für eine »Agenda Sozial«!
Die PDS würde als Partei der sozialen Gerechtigkeit versagen, wenn wir unsere Antwort auf die verhängnisvollen Weichenstellungen der Agenda 2010 bis zum Abschluss unserer Programmdebatte zurückstellen würden. Das ist auch nicht notwendig. Die alternativen Ansätze der PDS sind unverwechselbar. Sie basieren auf den Grundelementen wohlverstandener sozialer Gerechtigkeit.
Reformen der sozialen Sicherungssysteme müssen auf der Einnahmenseite ansetzen, um die Ausgabenseite neu gestalten zu können. Sie können nicht warten, bis eine andere Beschäftigungspolitik erfolgreich war.
Das Grundübel ist: Die Einnahmen der sozialen Sicherungssysteme hängen viel zu stark von den Löhnen ab. Die Sozialversicherungsbeiträge belasten die Löhne gerade dann zunehmend, wenn sich die wirtschaftliche Lage verschlechtert, die versicherungspflichtigen Arbeitsplätze oder die beitragspflichtigen Lohnsummen zurückgehen. Der Wandel in der Arbeitswelt, die Zunahme anderer Erwerbsformen gegenüber der versicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigung fördern diese Spirale. Sie kann durchbrochen werden, wenn die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme stärker vom Faktor Arbeit abgekoppelt wird. So kann eine Senkung der Beitragssätze für versicherungspflichtige Beschäftigung erreicht werden, so können die Einnahmen unabhängiger von der Konjunktur am Arbeitsmarkt gemacht werden. Die PDS tritt deshalb für andere Weichenstellungen ein:
In der Renten- und Arbeitslosenversicherung wollen wir die Ausweitung der Beitragspflicht auf alle Erwerbseinkommen, also Beamte, Freiberufler und Selbstständige einbeziehen. Aus den Arbeitnehmerversicherungen sollen Erwerbstätigenversicherungen werden. Damit wird der Grundgedanke der Solidarität aller Erwerbstätigen gegenüber dem Risiko durch Verlust der Erwerbsarbeit oder Alter erneuert.
Für die Kranken- und Pflegeversicherung schlagen wir die Ausweitung der Beitragspflicht auf alle Einkommensarten, also auch auf Einkommen aus Geldvermögen, Grundstücken und Immobilien, vor. Aus diesen beiden Versicherungen soll eine Bürgerversicherung werden. Krankheit und Pflegebedarf betrifft alle, unabhängig von der Art ihres Einkommens.
Der Arbeitgeberbeitrag sollte nicht mehr wie heute allein nach der Lohnsumme berechnet werden, denn dadurch wird Arbeitsplatzabbau zusätzlich belohnt. Der Arbeitgeberbeitrag zu den sozialen Sicherungssystemen muss stärker die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Betriebe berücksichtigen. Das kann durch seine Berechnung auf Basis der Wertschöpfung geschehen.
Schließlich: Eine Reihe von allgemeinpolitischen Aufgaben sind in die Sozialversicherungen verschoben worden und werden durch Beiträge finanziert. Hier wollen wir eine stärkere Finanzierung durch Steuern. Das betrifft z. B. die Kosten der deutschen Vereinigung und für die berufliche Qualifizierung. Voraussetzung hierfür wären mehr Steuergerechtigkeit, eine Steuerreform, die tatsächlich die kleinen und mittleren Unternehmen, die Handwerker und Existenzgründer entlastet, die das steuerfreie Existenzminimum erhöht und den Ausverkauf bei der Körperschaftssteuer, der Gewerbesteuer, der Vermögensteuer sowie der Besteuerung von Veräußerungsgewinnen rückgängig macht und eine umfassende Reform der Kommunalfinanzierung sicherstellt, um die Leistungsfähigkeit der Kommunen perspektivisch zu erhalten. Schließlich halten wir daran fest, dass der Gang an die Börse steuerpolitisch unattraktiver werden muss als Investitionen in Arbeitsplätze. Mehr Gerechtigkeit bei den direkten Steuern auf Einkommen und Gewinne würde es schließlich auch ermöglichen, eine weitere Senkung der Sozialbeiträge durch höhere Verbrauchssteuersätze zu erwägen.
Die gerechte Beteiligung aller an der Finanzierung der großen gesellschaftlichen Solidarsysteme entlastet volkswirtschaftlich nicht nur den Faktor Arbeit. Es ginge bei der Verteilung der Lasten wieder gerechter zu. Und der Steuer- und Abgabenflucht würde ein Argument entzogen.
Es gibt Alternativen zu Leistungskürzungen, um die sozialen Sicherungssysteme auch in der Zukunft nachhaltig zu finanzieren. Der Sozialstaat ist nicht am Ende. Er ist reformierbar, nicht auf einen Schlag, aber Schritt für Schritt auf einem Weg, der die Solidarität innerhalb der sozialen Sicherungssysteme erweitert. Das ist der Weg, den die PDS vorschlägt.

Kluge Lösungen sind kein Privileg einer Partei
Natürlich: Es kann nicht alles bleiben, wie es ist. Es braucht eine gesellschaftliche Diskussion und konkrete Lösungsangebote darüber, wofür die sozialstaatlichen Institutionen zuständig sein müssen und wofür bestehende betriebliche oder private Sicherungssysteme zuständig sein können.
Wenn es mehr alte Menschen geben wird und weniger junge, wenn Gesundheit wichtiger und zugleich die Menschen älter werden, so ist nicht zu verhindern, dass für Alterssicherung, Gesundheitsversorgung und Pflegeleistungen zukünftig mehr Geld aufgebracht werden muss. Und es ist nicht ausgemacht, dass dies allein mit weniger Erwerbstätigen aus dem Produktivitätswachstum finanziert werden kann. Deshalb ist es notwendig und legitim, über mögliche und sozial gerechte Einsparpotenziale zu diskutieren und gleichzeitig einen kostenbewussten und sorgsamen Umgang mit öffentlichen Geldern zu fördern.
Einsparungen können erzielt werden durch Reformen, die Leistungen effizienter zu den Betroffenen bringen. So bekämpfen wir eine Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe für Erwerbslose, die zu Leistungskürzungen führt. Wir wollen für Erwerbslose, die keinen Anspruch auf Versicherungsleistungen haben, eine die Existenz gewährleistende Grundsicherung - als Leistung aus einer Hand. Bessere Arbeitsvermittlung durch die Einrichtung von Job-Börsen halten wir für möglich.
Auch im Gesundheitswesen sind Effizienzreserven vorhanden, können Leistungen im Interesse der Patienten und kostengünstiger erbracht werden. Positivlisten und Leistungskataloge sind durchaus geeignete Instrumente, die Kosten senkend wären. Die Garantie der medizinisch notwendigen Versorgung für alle ist für die PDS jedoch ein unantastbares Prinzip.
Auch in der Rentenversicherung sind Änderungen notwendig. So wird die finanzielle Wirkung der von der Bundesregierung beschlossenen Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze in wenigen Jahren verpuffen, weil nicht gleichzeitig eine Begrenzung der zusätzlich entstehenden Leistungsansprüche eingeführt wurde. Umgekehrt werden die Absenkungen beim Rentenniveau durch die Riester-Reform zu neuer Altersarmut führen, vor allem wenn die Generation der heute unter 50-Jährigen mit ihren unterbrochenen Erwerbsbiografien das Ren-tenalter erreicht. Deshalb sagen wir: Für langjährig Versicherte muss es eine Grundrente geben. Im Gegenzug können die Leistungsansprüche am oberen Ende begrenzt werden.
Der Parteitag der Partei des demokratischen Sozialismus schließt sich in diesem Sinne dem Appell von PDS-Politikerinnen und -Politikern an, einen SozialKonvent zur Reform des Wirtschafts- und Sozialsystems nach dem Muster des Europäischen Verfassungskonvents einzuberufen.
Wir wollen die breiteste gesellschaftliche Diskussion, Meinungsbildung und Entschließung. Wir wollen gemeinsam dazu beitragen. Wir wenden uns an die Gewerkschaften, Kirchen, Wohlfahrtsverbände, an die globalisierungskritischen Bewegungen, die kritischen Intellektuellen unseres Landes, an die anderen Parteien. Sozialistische Positionen sind in dieser Debatte unverzichtbar.

ERSTUNTERZEICHNER:

Gabriele Zimmer, Parteivorsitzende; Lothar Bisky, MdL, Fraktionsvorsitzender Brandenburg; Steffen Bockhahn, Delegierter, Rostock; Eva von Angern, MdL, Sachsen-Anhalt; Frank Beier, Stadtvorsitzender Halle; Abdreas Bernig, Mitglied des Landesvorstandes Brandenburg; Michael Brie, Rosa-Luxemburg-Stiftung; Birke Bull, MdL, Sachsen-Anhalt; Wenke Christoph, Bundessprecherin [solid]; Ralf Christoffers, Landesvorsitzender Brandenburg; Judith Dellheim, Mitglied des Parteivorstandes; Ramona Dittrich, Initiatorin des Delegiertenbegehrens; Thomas Domres, Kreisvorsitzender Prignitz; Cornelia Ernst, Landesvorsitzende Sachsen; Thomas Flierl, Senator, Berlin; Carola Freundl, MdA, Berlin; Wolfgang Gehrcke, Mitglied des Parteivorstandes; Rolf Gensert, Landessprecher Hessen; Angelika Gramkow, MdL, Fraktionsvorsitzende Mecklenburg-Vorpommern; Dieter Hausold, Landesvorsitzender Thüringen; Dominic Heilig, Bundesjugendreferent; Rosemarie Hein, Landesvorsitzende Sachsen-Anhalt; Uwe Hobler, Bundesschatzmeister; Helmut Holter, Minister, Mecklenburg-Vorpommern; Bernd Ihme, Fraktionsvorsitzender BVV Berlin-Lichtenberg; Kerstin Kaiser-Nicht, MdL, Brandenburg; Andrea Kasperzik, Landessprecherin Nordrhein-Westfalen; Barbara Knöfler, MdL, Sachsen-Anhalt; Torsten Koplin, Kreisvorsitzender Neubrandenburg; Rolf Kutzmutz, Stadtverordneter Potsdam; Sefan Liebich, Landesvorsitzender Berlin; Heidemarie Lüth, stellv. Parteivorsitzende, Kersten Naumann, Sprecherin Bundesparteirat; Karin Plage, Delegierte, AG Antifaschismus; Peter Porsch, MdL, Fraktionsvorsitzender Sachsen; Bodo Ramelow, MdL, Fraktionsvorsitzender Thüringen; Peter Ritter, Landesvorsitzender Mecklenburg-Vorpommern; Paul Schäfer, Delegierter Nordrhein-Westfalen; Hans-Jürgen Scharfenberg, Vorsitzender Stadtfraktion Potsdam; Katina Schubert, Delegierte, Nordrhein-Westfalen; Mignon Schwenke, Mitglied des Parteivorstandes; Petra Sitte, MdL, Fraktionsvorsitzende Sachsen- Anhalt; Volker Steinke, Sprecher Bundesparteirat; Bärbel Syrbe, Landrätin, Mecklenburg-Vorpommern; Anita Tack, MdL Brandenburg; Kirsten Tackmann, Mitglied des Landesvorstandes Brandenburg; Frank Thiel, stellv. Fraktionsvorsitzender Sachsen-Anhalt; Gudrun Tiedge, MdL, Kreisvorsitzende Bördekreis; Patrick Tschirner, Delegierter Nordrhein-Westfalen; Heinz Vietze, MdL, Brandenburg; Cornelia Weh...

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