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  • Brandenburg
  • 146 Bosnien-Flüchtlinge kamen per Bonner Quote nach Berlin

„Bis der Krieg zu Ende ist x dann wollen wir heim“

  • Karin Nolt
  • Lesedauer: 4 Min.

Großeltern Sarajlic - Flucht mit neun Enkeln Foto: Joachim Fieguth

In der Vorhalle des Bahnhofs Lichtenberg tobt ein Medienrummel, als würde Lady Di einschweben. Erwartet werden an diesem späten Montag abend jedoch 146 Flüchtlinge vor dem Bürgerkrieg in Bosnien-Herzegowina. „Nur“ Flüchtlinge, nur 146, aber nicht nur von der Pressemeute, auch von vielen Berlinern, die mit einer Geste der Mitmenschlichkeit die Ankommenden begrüßen wollen.

Geschart um eine bosnische Flagge steht eine kleine Gruppe zum Empfang bereit. Es sind in Berlin lebende Jugoslawen, die erst vor zwei Monaten „Merharmet“ gegründet haben, eine karitative, islamische Vereinigung, die Opfern des Krieges hilft. Eine von ihnen ist die 17jährige Elvira Kciku, Azubi, ihre Mutter aus Bosnien, ihr Vater aus Kosovo, weitere Verwandte hat sie in den umkämpften Gebieten -„wir wissen nicht, ob sie noch leben“. Was will sie denen sagen, die der Hölle entronnen sind? „Wir sind für Euch da!“

Auf ihren Einsatz warten 60 Helfer vom DRK. Worauf sind sie vorbereitet? Landesbereitschaftsführer Wilfried Vollmar: „Wir helfen den Flüchtlingen aus dem Zug, begleiten sie zu den Bussen, übernehmen auch unsere 40 Hamburger Kollegen, die mitgefahren sind.“ Betreut denn keiner die Menschen im Bus? „Nein, da ist die Senatsverwaltung Soziales zuständig.“

Senatsvertreter Staatssekretär Armin Tschoepe ergeht sich in Statements vor Kameras. Konkreten Fragen, ob denn die von Bonn diktierte Quote für Berlin das Nonplusultra sei, entweicht er mit der lapidaren Aussage, 2 000 Flüchtlinge seien schon in der Stadt.

Am Rande des Tumults greifen sich Reporter an den Kopf: Versuchs-Diplomat Diepgen, auf PR-Tour in Barcelona, versprach vor wenigen Stunden dem Bürgermeister von Sarajevo, Kinder der Ex-Olympiastadt in den Ferien nach Berlin einzuladen. Im nächsten Jahr! Was wird den Kindern bis

dahin geschehen? Warum greift der Senat nicht das Hilfsangebot hunderter Familien auf?

Erregte Berliner sammeln sich um einen Vertreter der Gesellschaft für bedrohte Völker, diskutieren: „Es gibt nur eine politische Lösung“, „Wenn die eine wollten, würden längst die Waffen schweigen“, „Das wird ein zweiter Libanon“ Auf Flugblättern heißt es, die Aufnahme von 5 000 Vertriebenen mute „wie ein weiterer Akt der Hilflosigkeit an“.

Draußen wissen die Fahrer der drei alten BVG-„Schlenkis“ noch nicht, wohin die ausgeschilderte „Sonderfahrt“ gehen soll. SenSoz umgibt sich mit der höchsten Geheimhaltungsstufe. „Erst in dem Moment, wenn die Busse beladen und zu sind, schließen wir uns per Funk mit der Polizei zusammen und legen die Route fest“, informiert Peter Völkner von der Betriebsaufsicht. „Mit Polizeibegleitung geht's dann im Konvoi los.“

Mit einer knappen Stunde Verspätung kurz nach 22 Uhr die Lautsprecheransage: „Auf Gleis 16 hat Einfahrt der Sonderzug aus Jugoslawien.“ Sonntag 15 Uhr war er in Karlovac abgefahren. Über 30 Stunden Fahrt, oft monatelange Flucht liegt hinter den Menschen. Man sieht es ihren Gesichtern an. In ihnen Müdigkeit und Freude. Doch die vorwiegend moslemischen Kinder, Frauen und Älteren nehmen noch fast zwei Stunden Blitzlichtgewitter und Interviews auf sich.

Mit neun Enkelkindern mußte das Ehepaar Sarajlic, sie 65, er 66, sein Dorf Modrica verlassen. Vier Monate lang auf der Flucht, viele Kilometer zu Fuß, manchen Fluß durchschwimmend. Die fünf Söhne blieben in Bosnien zurück. Ihr Wunsch heute? „Für drei Monate hierbleiben, bis dahin ist der Krieg hoffentlich zu Ende. Dann wollen wir heim.“

Ebenfalls aus Modrica die elfköpfige Familie Tursici, Großel-

tern, Mutter, Kinder. „Am 19. Juni“, berichtet der Großvater, „zerstörten sie in unserem Dorf die Moschee, alles, was moslemisch ist. Tschetniks, Serben, Armee. Ich habe fünf Stunden im Keller gewartet. . “ Sein jüngster Enkel spricht weiter: „Sie haben ihn gehaun, er mußte Gras essen wie die Tiere.“

Mit zwei Kindern war Amira Muhovic aus der Stadt Derventa unterwegs. Ihren Mann hat sie vor zehn Tagen im Krieg verloren.

Aus Zvornik stammt Hariza Manjice mit ihren drei Kindern. 1 500 Einwohner hatte das Dorf, viele seien ermordet worden.

Die beiden Jungs Zahid und Mevin, 14 und 15 Jahre, flohen vor vier Monaten aus Zvornik. Vor den Fragen, die auf sie einstürzen, retten

sie Kekse und Lutscher, die Berliner Familien ihnen hochreichen.

Als die Reporter genug „Futter“ haben, die Senatsverwaltung das Spektakel wirksam in Szene gesetzt meint, dürfen die 146 endlich den Zug verlassen. Weit nach Mitternacht Ankunft in einem Heim an der Rennbahnstraße in Weißensee.

Hier begann gestern die „verwaltungstechnische Erfassung“. 146 Menschen auf der Flucht werden' mit einer „ Sonderaufenthaltungsgenehmigung ausgestattet“, wie Sozialhilfeempfänger behandelt. Soll man dankbar sein, daß sie sich wenigsten frei bewegen können, wie es in der Senatsverwaltung hieß? Aber noch gibt es Berliner, die Kuchen vorbeibringen, in ihren Garten einladen, Kontakte suchen.

KARIN NOLTE

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