Augen-Blicke im Arbeitsamt

Besuch bei der Behörde und Begegnung mit Betroffenen

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: ca. 5.0 Min.

311796 Menschen sind in Berlin ohne Job. Die Arbeitslosigkeit klettert- verglichen mit dem Vorjahreszeitraum- von Monat zu Monat auf eine Rekordmarke.

Draußen ist es hell und laut. Die Grenzallee schneidet die Sonnenallee. Beide Straßen sind stark befahren. An der Kreuzung steht das Arbeitsamt Berlin-Süd. In der zweiten Etage ist das Team 122 für Arbeitslose zuständig, deren Familiennamen mit S (ohne Sch) und W beginnen. Im Warteraum sitzt eine Frau und schaut aus ihren dunklen Augen nach draußen in den Sonnenschein. Ihr Blick ist von einer Traurigkeit, die erschüttert. Nur einmal lächelt die Frau, als ein kleines Kind mit seinem Vater plappert. Die anderen Wartenden nehmen den traurigen Blick nicht wahr. Sie haben ihre eigenen Sorgen. Ein Pärchen flüstert. Sie ist schwanger und hofft für ihn, dass er wenigstens etwas als Saisonkraft in der Landwirtschaft findet. Am Schalter melden sich eine Hausfrau, die wieder arbeiten will, und eine junge Gärtnerin, die nach Abschluss ihrer Lehre nicht übernommen wurde. Im Zimmer 256 wird der Dreck weggekehrt. Einer von denen, die sich nach inzwischen fünf Jahren ohne Job abgefunden haben, ist Klaus Rathmann. Einer wie er ist bei Firmenchefs nicht beliebt. 15 Jahre arbeitete er bei einem Tabakgroßhändler. 13 Jahre lang wählten ihn die Kollegen immer wieder in den Betriebsrat. 9 Jahre war er Betriebsratsvorsitzender. Die Firma wollte den unbequemen Mann loswerden und zahlte eine saftige Abfindung. Es habe sich anscheinend herumgesprochen, welche Funktion er hatte, vermutet Rathmann. »Ich werde wohl keine Arbeit mehr bekommen.« Beim Erwerbslosen-Frühstück im PDS-Büro in der Schöneberger Goltzstraße sind es wieder die Augen einer Frau, die auffallen. Sie erzählt ihr Schicksal. Nach jahrelanger Büroarbeit bei einem Energieversorger drängte die Firma sie aus dem Job. Heute muss sie sich vor Gericht um ihre Rente streiten. Während die Frau spricht, füllen sich ihre Augen mit Tränen. Sie wischt die Tränen weg. Ihren Kummer kann sie nicht wegwischen. Ab und zu wird bei dem Frühstück auch gelacht. Zum Beispiel, wenn einer grinsend erzählt, er würde nur noch bei »anständiger Bezahlung« arbeiten gehen- ab 5000 Euro netto im Monat. Aber selbst wer Billiglöhne akzeptiert, findet schwer etwas. So der 38-Jährige Bäcker aus Tempelhof, der seinen Beruf wegen einer Mehlstauballergie aufgeben musste. Die Umschulung zum Bürokaufmann 1988 nutzte ihm wenig. Seit 1992 geht er stempeln. Daheim stapeln sich die zurückgesandten Bewerbungen. Irgendwann gab er es auf, ernsthaft welche zu schreiben. Jetzt will er es mal wieder probieren. Er hofft auf eine Stelle als Kommissionierer im Großlager einer Handelskette. Weil der 38-Jährige ein solidarischer Mensch ist, brachte er die Stellenanzeige aus der Zeitung mit zum Frühstück, um den anderen einen Tipp geben zu können. Die Augen des 38-Jährigen verstecken sich hinter einer dicken Brille. Trotzdem ist zu sehen, wie er die Augen weit aufreißt, als er die Geschichte von dem Beamten erzählt, der seinen Bruder nicht mehr zum Geburtstag einlud, als dieser seine Stelle verlor. Es gibt Männer, die früh mit der Aktentasche unter dem Arm das Haus verlassen, weil sie ihrer Frau nicht sagen wollen, dass sie arbeitslos geworden sind. Über 311000 Arbeitssuchende sind bei den Berliner Arbeitsämtern registriert. Die Arbeitslosenquote beträgt 18,4 Prozent. Aber bei Protestveranstaltungen trifft sich immer wieder nur ein Dutzend altbekannter Aktivisten. Warum? »Vielleicht geht es vielen noch zu gut?« rätselt jemand am Frühstückstisch in der Goltzstraße. Oft werde argumentiert, aller Protest nütze ja doch nichts. Auch das ständige Glotzen von blödsinnigen Sendungen im Fernsehen lenke ab. Arbeitslose sind mitunter auch sehr fröhliche Menschen, meinte Marion Drögsler, Landesvorsitzende des Arbeitslosenverbandes (ALV) noch vor Jahresfrist. Inzwischen sieht sie immer seltener Fröhlichkeit, wenn sie Betroffenen in die Augen schaut. Mit Hartz-Reform und Agenda 2010 sinke die Hoffnung. Die Erwerbslosen wissen: »Egal, welche Regierung an die Macht kommt, sie wird uns in die Taschen greifen.« Bewillige das Arbeitsamt einem Verein eine ABM-Stelle über ein Jahr, so schicke es zwei bis drei Arbeitslose für jeweils nur einige Monate. Resultat: Kein neuer Anspruch auf Arbeitslosengeld. Zudem sei seit dem 1. Januar 2003 klar: Wer gerade eine ABM oder eine Qualifizierung hatte, bekomme die nächsten drei Jahre keine mehr. Als sich Drögsler Anfang des Jahres selbst kurzzeitig arbeitslos melden musste, registrierte sie auf dem Arbeitsamt eine vergiftete Atmosphäre. Die Beschäftigten dort geben sich Mühe, es seien aber einfach keine Stellen zu vergeben. Dass der Beruf unter diesen Bedingungen keinen Spaß mache, merke man deutlich. Unter den Menschen, die sich vom ALV beraten lassen, ist Drögsler noch keiner begegnet, der nicht arbeiten wollte. Manchen, die es gesundheitlich nicht mehr können, müsse man diesen Wunsch fast ausreden. Angesichts dessen ärgert sich Drögsler über Faulenzer-Debatten. Falls jemand die Suche tatsächlich aufgegeben habe, bleibe zu fragen, wie viele Bewerbungen er zuvor vergeblich verschickte. »Zu uns kommen 40-Jährige, denen man sagte, sie seien zu alt.« Drögsler nennt weitere Gründe für Ablehnungen: Bei Frauen oder Eltern kleiner Kinder winken Personalchefs schon ab. Arbeitslosigkeit sei ab dem ersten Tag ein Makel und bereits ab drei Monaten ein ernstes Hindernis. Wo ist der Ausweg? Überstunden müssten reduziert und Unternehmer gezwungen werden, dann auch wirklich neu einzustellen, findet Drögsler. Außerdem fordert sie ein Existenzgeld in Höhe von 800 Euro plus Warmmiete. »Es müsste eine grundlegende Änderung des Gesellschaftssystems geben.« Stattdessen gibt es nur die Hartz-Reform. 1924 Berliner machten sich vom 1. Januar an bis Ende Mai mit Alimentierung des Arbeitsamtes selbstständig. Sie gründeten eine Ich-AG. Arbeitslose berichten, dass die Arbeitsvermittler versuchen, sie zu solchen Ich-AG zu überreden. Seit Anfang April wurden 13 Personalserviceagenturen (PSA) eingerichtet, die erste vom Arbeitsamt Süd. Die PSA werden von privaten Personaldienstleistern betrieben, die Arbeitsverträge über 9 bis 12 Monate mit Arbeitslosen abschließen, die ihnen die Behörde vorschlägt. Dafür bekommen die Privaten Honorar, ebenso wie für die Vermittlung des Arbeitslosen auf den ersten Arbeitsmarkt. Je schneller die Vermittlung gelingt, desto höher das Honorar. Insgesamt sind bis spätestens Ende des Jahres 34 PSA geplant, die 2400 Arbeitslose einstellen sollen. Ursprünglich wollte das Landesarbeitsamt schon im Mai alle 34 Personalserviceagenturen starten. Doch es mangelte an Bewerbungen potenzieller Betreiber. Am 1. Juli tritt eine weitere Regelung in Kraft. Arbeitnehmer müssen sich nicht erst dann persönlich beim Arbeitsamt melden, wenn sie tatsächlich arbeitslos sind, sondern sofort bei Kündigung oder Aufhebungsvertrag. Wer später kommt, dem wird das Arbeitslosengeld gekürzt: bei einem Anspruch zwischen 400 und 700 Euro pro Woche um 7 Euro pro Tag bis zur Höchstsumme von 21...

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