Diese Furcht, zwei zu sein
Entdeckung: die argentinische Poetin Alejandra Pizarnik
In einem knappen Text hat die argentinische Dichterin Alejandra Pizarnik das Trauma ihrer Existenz umrissen: wurzellos zu sein, getrennt von ihren Ursprüngen: »MISSTRAUEN. Mama erzählte uns von einem weißen Wald in Russland. "... und wir machten Männlein aus Schnee und setzten ihnen Hüte auf, die wir dem Urgroßvater gestohlen hatten ..." Ich schaute sie misstrauisch an. Was war Schnee? Warum machten sie Männlein? Und, vor allem, was bedeutet Urgroßvater?« - Geboren wurde Alejandra (eigentlich: Flora) Pizarnik 1936 in der Provinz Buenos Aires als Tochter ukrainischer Juden. Die Eltern waren zwei Jahre zuvor über Paris nach Argentinien geflohen; ihre Angehörigen in Ost-Europa fanden alle den Tod. Alejandras Vater war Schmuckhändler und Musikant, die Mutter eine konsequente jiddische Mamme. Die Tochter wuchs heran mit den Normen der jüdischen Gemeinde. Das Judentum blieb ihr Ausweis: für ein Anderssein. Die junge Frau studierte Philosophie und Literatur, und sie malte. 1956 erschien das erste Lyrikwerk, das sie gelten ließ: »Die letzte Unschuld«.
1960 zog sie nach Paris. Sie studierte erneut, machte prägende Bekanntschaften (die von Julio Cortázar und Octavio Paz), und schrieb wie besessen. (Die illustren Freunde waren begeistert.) 1964 kehrte die 28-Jährige zurück nach Buenos Aires; da hatte sie noch acht Jahre zu leben. Sie war unruhig, verzweifelt. Am 18. April 1965 vermerkte sie: »Alles in mir zerfällt. Ich will nicht kämpfen, da ist niemand zum Bekämpfen.« Angst und Furcht wurden Schlüsselwörter ihrer Poesie, Wahn und Wunde, Qualen und Käfig. Sie bemerkte »Stimmen, Geräusche, Schatten, Lieder von Ertrunkenen: ich weiß nicht, ob es Zeichen sind oder eine Folter. Jemand verzögert im Garten den Gang der Zeit.« Die eigene nicht zu ergründende Identität wurde ihr immer wichtiger. "FEST// Ich habe mein Waisentum aufgeschlagen/ wie eine Landkarte auf dem Tisch./ Ich zeichnete die Strecke auf/ bis zu meinem Ort zum Wind./ Die ankommen, finden mich nicht./ Die ich erwarte, gibt es nicht.« Oft fühlte sie diese »Furcht, zwei zu sein,/ Spiegelgang: / jemand, der in mir schläft,/ ißt mich und trinkt mich.« Depressionen bekam sie, begab sich in Behandlung. Die Beschäftigung mit dem eigenen Sterben wurde zur Obsession, ablesbar an zahllosen Texten, in faszinierenden Metaphern: »Wie ein Mädchen aus rosa Kreide auf einer sehr alten Mauer, plötzlich vom Regen weggewischt.« Was hielt sie? Das Schreiben. Die Sprache. Aber welche? Das Ukrainisch und Jiddisch der Eltern? Das Spanisch von Schule und Straße? Das Französisch des Gastlandes? »Und immer, wenn es Nacht ist,/sucht ein Stamm verkrüppelter Wörter/ein Heim in meinem Hals,/ damit jene nicht singen,/ die Todgeweihten, die Herren der Stille.« Nein, nicht Therapie war das Schreiben, sondern Heimsuchung. Müde wurde sie »vom magischen Lärm der Vokale«, müde von der vergeblichen Suche. Das Schreiben führte sie an den Rand der Klippe; sie war nicht mehr zu retten.
Für einen Abend im September 1972, an einem Wochenende außerhalb der Klinik, hatte sie Freunde in ihre enge Wohnung geladen. Die Freunde kamen nicht. Am Morgen fand man Alejandra tot, gestorben an einer Überdosis Beruhigungsmittel.
Anfangs Geheimtipp einer eingeschworenen Gemeinde, wurde die Poetin bald zum Mythos, stilprägend trotz eines nur schmalen Werks.
Worin bestehen Reiz und Sog ihrer Verse? Sie wirken schlicht, sie leben von verknappter Grammatik, gestutztem Satzbau, von Aussparungen, Leerzeichen, die wie Zugänge sind zu einem untergründigen Universum. Sie erzeugen halbfertige Bilder drohenden Unheils, die sich im Kopf des Lesers vollenden. Kein Angebot zum Dialog sind die Gedichte, sondern verkleidete Monologe. Da ist kein Gesprächspartner, nicht mal ein Alter ego, nur das Echo im leeren Raum. Was also reizt? Dass die Pizarnik in Gebiete der Seele vorgedrungen ist, von deren Existenz wir am liebsten nichts wissen würden. Dass sie dort benannt hat, was wir fühlen, aber nicht formulieren können. - Zwei Zürcher Verlage bemühen sich um die Verbreitung von Namen und Werk Alejandra Pizarniks im deutschsprachigen Raum. teamart publizierte 2000 den mit Sorgfalt edierten und durch wertvolle Essays ergänzten Broschurband »fremd die ich war«, jetzt folgte Ammann mit »Asche, Asche«. Die ansprechende Werkausgabe präsentiert im ersten Band alle 207 Gedichte aus den Jahren 1956 bis 1971. Folgen werden die verworfenen und verstreuten Gedichte aus dem Nachlass - Grund zur Freude für alle Liebhaber der Poesie.
Alejandra Pizarnik: Cenizas - Asche, Asche. Gedichte. Spanisch und deutsch, hrg. v. Juana und Tobias Burghardt. Werkausgabe in 3 Bänden, Band 1. Ammann Verlag. 407 Seiten, Halbleinen, 34,90 Euro.
Fremd die ich war. 52 Gedichte, zweisprachig. Ausgewählt, eingeführt und aus dem argentinischen Spanisch übertragen von Elisabeth Siefer. team...
1960 zog sie nach Paris. Sie studierte erneut, machte prägende Bekanntschaften (die von Julio Cortázar und Octavio Paz), und schrieb wie besessen. (Die illustren Freunde waren begeistert.) 1964 kehrte die 28-Jährige zurück nach Buenos Aires; da hatte sie noch acht Jahre zu leben. Sie war unruhig, verzweifelt. Am 18. April 1965 vermerkte sie: »Alles in mir zerfällt. Ich will nicht kämpfen, da ist niemand zum Bekämpfen.« Angst und Furcht wurden Schlüsselwörter ihrer Poesie, Wahn und Wunde, Qualen und Käfig. Sie bemerkte »Stimmen, Geräusche, Schatten, Lieder von Ertrunkenen: ich weiß nicht, ob es Zeichen sind oder eine Folter. Jemand verzögert im Garten den Gang der Zeit.« Die eigene nicht zu ergründende Identität wurde ihr immer wichtiger. "FEST// Ich habe mein Waisentum aufgeschlagen/ wie eine Landkarte auf dem Tisch./ Ich zeichnete die Strecke auf/ bis zu meinem Ort zum Wind./ Die ankommen, finden mich nicht./ Die ich erwarte, gibt es nicht.« Oft fühlte sie diese »Furcht, zwei zu sein,/ Spiegelgang: / jemand, der in mir schläft,/ ißt mich und trinkt mich.« Depressionen bekam sie, begab sich in Behandlung. Die Beschäftigung mit dem eigenen Sterben wurde zur Obsession, ablesbar an zahllosen Texten, in faszinierenden Metaphern: »Wie ein Mädchen aus rosa Kreide auf einer sehr alten Mauer, plötzlich vom Regen weggewischt.« Was hielt sie? Das Schreiben. Die Sprache. Aber welche? Das Ukrainisch und Jiddisch der Eltern? Das Spanisch von Schule und Straße? Das Französisch des Gastlandes? »Und immer, wenn es Nacht ist,/sucht ein Stamm verkrüppelter Wörter/ein Heim in meinem Hals,/ damit jene nicht singen,/ die Todgeweihten, die Herren der Stille.« Nein, nicht Therapie war das Schreiben, sondern Heimsuchung. Müde wurde sie »vom magischen Lärm der Vokale«, müde von der vergeblichen Suche. Das Schreiben führte sie an den Rand der Klippe; sie war nicht mehr zu retten.
Für einen Abend im September 1972, an einem Wochenende außerhalb der Klinik, hatte sie Freunde in ihre enge Wohnung geladen. Die Freunde kamen nicht. Am Morgen fand man Alejandra tot, gestorben an einer Überdosis Beruhigungsmittel.
Anfangs Geheimtipp einer eingeschworenen Gemeinde, wurde die Poetin bald zum Mythos, stilprägend trotz eines nur schmalen Werks.
Worin bestehen Reiz und Sog ihrer Verse? Sie wirken schlicht, sie leben von verknappter Grammatik, gestutztem Satzbau, von Aussparungen, Leerzeichen, die wie Zugänge sind zu einem untergründigen Universum. Sie erzeugen halbfertige Bilder drohenden Unheils, die sich im Kopf des Lesers vollenden. Kein Angebot zum Dialog sind die Gedichte, sondern verkleidete Monologe. Da ist kein Gesprächspartner, nicht mal ein Alter ego, nur das Echo im leeren Raum. Was also reizt? Dass die Pizarnik in Gebiete der Seele vorgedrungen ist, von deren Existenz wir am liebsten nichts wissen würden. Dass sie dort benannt hat, was wir fühlen, aber nicht formulieren können. - Zwei Zürcher Verlage bemühen sich um die Verbreitung von Namen und Werk Alejandra Pizarniks im deutschsprachigen Raum. teamart publizierte 2000 den mit Sorgfalt edierten und durch wertvolle Essays ergänzten Broschurband »fremd die ich war«, jetzt folgte Ammann mit »Asche, Asche«. Die ansprechende Werkausgabe präsentiert im ersten Band alle 207 Gedichte aus den Jahren 1956 bis 1971. Folgen werden die verworfenen und verstreuten Gedichte aus dem Nachlass - Grund zur Freude für alle Liebhaber der Poesie.
Alejandra Pizarnik: Cenizas - Asche, Asche. Gedichte. Spanisch und deutsch, hrg. v. Juana und Tobias Burghardt. Werkausgabe in 3 Bänden, Band 1. Ammann Verlag. 407 Seiten, Halbleinen, 34,90 Euro.
Fremd die ich war. 52 Gedichte, zweisprachig. Ausgewählt, eingeführt und aus dem argentinischen Spanisch übertragen von Elisabeth Siefer. team...
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