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Born in the USSR
Wladimir Kaminer wurde 1967 in Moskau geboren und lebt seit 1990 in Berlin. Mit seinem Erzählungsband »Russendisko« eroberte er die Herzen der deutschen Leser. In kurzen Abständen folgten weitere Buchveröffentlichungen: »Militärmusik«, »Schönhauser Allee«, »Die Reise nach Trulala« und »Helden des Alltags«. Kaminers nächster Titel »Mein deutsches Dschungelbuch« erscheint im August bei Goldmann. Vorliegender Text ist exklusiv für ND verfasst.
Immer wieder werde ich gefragt, wo ich herkomme. Sind sie ein Moskauer? Sind Sie aus Russland? Ich muss die Frager enttäuschen, denn mit dem heutigen Russland habe ich nichts zu tun. Ich komme nicht aus der Russischen Föderation und auch nicht aus der Gemeinschaft der unabhängigen Staaten - GUS. In einem ganz anderen Land habe ich die ersten 23 Jahre meines Lebens verbracht. Über kaum ein anderes Land wurden so viele Witze, Anekdoten und Grausamkeiten erzählt. Obwohl es die UdSSR seit über zehn Jahren nicht mehr gibt, kann ich meine Landsleute fast immer noch erkennen, besonders gut am Strand oder im Bett - an den charakteristischen unvergänglichen Pockenimpfungen, die große Narben auf ihrem linken Oberarm hinterließen. Ich kann mich noch gut an den Mann im weißem Kittel erinnern, der uns in der fünften Klasse zur Zwangsimpfung in der Schule besuchte, an seine Riesenspritze und an sein sardonisches Grinsen. Damals dachten wir, es wird gemacht, um uns eine eiserne Gesundheit zu verpassen und vor allen möglichen tödlichen Krankheiten für immer zu schützen. Heute weiß ich, was das wahre Ziel war: Wir sollten uns immer in der postsozialistischen Welt erkennen können, mindestens am Strand oder im Bett - »Was, du auch?!« Wir hatten übrigens die beste kostenlose Medizin der Welt. Alle, die sowjetischen Ärzten misstrauten und sich weigerten, in die Poliklinik zu gehen, haben mit ihrem Leben dafür bezahlt. Unsere Tabletten waren die größten der Welt und konnten gleichzeitig gegen Kopfschmerzen und Durchfall helfen, wenn man sie richtig einnahm. Und wer jemals bei einem sowjetischen Zahnarzt eine Plombe verpasst bekam, den konnte keine kapitalistische West-Bohrmaschine mehr aus der Fassung bringen. Die sowjetischen Zahnärzte haben nämlich - oft ganz ohne Bohrmaschine, mit Hammer und Sichel quasi - ihre Leistungen vollbracht. Manche Plombe saß nicht richtig fest, manche konnte sogar Funkstörungen verursachen, wenn der Patient sich anschließend in der Nähe von Radio- und Fernsehempfängern aufhielt. Aber das hat niemand weiter gestört. Im Fernsehen hatten wir nämlich nur vier Programme. Auf drei Programmen lief der aktuelle Parteitag, im vierten saß ein uniformierter Schnurrbartträger an einem Tisch und drohte dem Fernsehzuschauer mit dem Finger: »Hör auf herumzuzappen!« Unsere Regierung schickte ständig Spione ins Ausland - um dort die Luft zu riechen, und ob die Zeit für eine Weltrevolution reif war. Bei diesen Spionen lief stets irgendetwas schief. Wir haben alles richtig gemacht, berichtete der Verantwortliche seinem Vorgesetzen. Laut sorgfältig vorbereiteter Legende sollte unser Mann völlig unerwartet eine große Erbschaft in Amerika bekommen. Wir haben also von einer Schweizer Bank auf ein amerikanisches Konto 500000 Dollar überwiesen, unseren Mann rechtzeitig von der Arbeit und aus der Staatsbürgerschaft mit Schande entlassen. Er musste wie alle Heimatverräter drei Monate auf sein Ausreisevisum und noch einmal drei Monate auf sein Ticket von Aeroflot warten. Alles lief nach Plan. Aber dann, als er die Treppe zum Flugzeug hochstieg, hat er uns mit der Hand so seltsam gewinkt... In der Schule lernten wir, wie unser Land entstanden ist - als eine ultimative Antwort auf alle zwischenmenschlichen Konflikte, alle nationalen Auseinandersetzungen, Kriege, Umweltverschmutzungen und Ungleichheiten in der kapitalistischen Klassengesellschaft. Drüben gab es Arm und Reich, es gab dort die Unterdrücker und die Unterdrückten, bei uns gab es weit und breit nichts mehr von beiden. Alle waren schon am frühen Morgen freundlich. Auf unseren geographischen Schulkarten war China gelb gezeichnet, Amerika hellbraun und Kanada dunkelgrün. Unser Land war rot und das größte überhaupt. Über die tatsächlichen Ausmaße konnte man nur spekulieren. Mein Nachbar Onkel Oleg zum Beispiel arbeitete als Ingenieur in einer geheimen Fabrik zur Produktion von Langstreckenraketen, die den Weltfrieden endgültig sichern sollten. Alle sechs Monate musste er auf eine Dienstreise zum Kosmodrom Baikonur nach Kasachstan fahren. Sechs Tage mit dem Zug hin und anschließend sechs Tage wieder zurück. Unterwegs stieg er noch wegen verschiedener geheimer Konferenzen aus und übernachtete in irgendwelchen geheimen Hotels. Seine Frau Tante Inna war sehr eifersuchtig, sie rief ihn jede Nacht an. »Wo bist du Oleg?« rief sie durchs Telefon. »Ich darf es dir nicht sagen«, zischte ihr Mann in den Hörer. »Wer lacht da im Hintergrund? Bist du allein? Kannst du es beweisen? Beweise es! Beweise es sofort!« Das Leben in der Sowjetunion war anstrengend, aber interessant. Immer mehr Länder wollten sich uns anschließen. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sich halb Europa nahezu freiwillig für den Sozialismus entschieden. Wenig später kamen Korea, China, Kuba, Vietnam und Afghanistan noch dazu ... Die Pessimisten munkelten, dass die sowjetischen Bürger zu nichts nutze seien, dass alle wichtigen Entdeckungen im Ausland gemacht würden. Die Chinesen hätten das Schießpulver erfunden, meinte man, die Deutschen das Fahrrad, die Amerikaner den Computer usw.... In der Sowjetunion lachte man darüber. Während die Chinesen ihr Schießpulver perfektionierten, erfanden die Sowjetbürger die Atombombe. Während die Amerikaner sich mit dem Computer quälten - erfanden die Russen die fleischfreien Würste, die bei weitem wichtiger als Computer waren. Sie waren rot wie das Land auf der Karte, und wenn man sie kochte, färbten sie das Wasser rosa. Man konnte den Brei anschließend auch als Suppe auf den Tisch stellen. Und die glasierten Quarktaschen Marke Priwjet: Unsere Antwort auf Snickers, die nicht »in Sekundenschnelle im Mund zergingen«, sondern für mehrere Tage dort blieben, man konnte sie weder schlucken noch herauskratzen. Keine nationale Küche der Welt kann solchen Hokus-Pokus nachmachen. Seit über zehn Jahren nun existiert die Sowjetunion politisch und juristisch nicht mehr. Doch ein Land kann man per Beschluss nicht auflösen. Es lebt weiter im Herzen seiner ehemaligen Mitbürger und wird dort erst einmal bleiben - bis der letzte den Löffel abgibt, der von sich behaupten kann: Born in the USSR. Die Sowjetunion ist durch die Auflösung mobil geworden und hat sich über die ganze Welt zerstreut. Neulich in Chicago, Dewan Ecke California Street, sahen wir in einem russischen Lebensmittelladen namens »Drei Schwestern« ein Plakat: »Zwei Büchsen Sprotten für ein Dollar, nur für Kriegsveteranen, nach Vorlage des Ausweises.« Ein sehr alter einarmiger Mann stand im Laden. »Zeigen Sie mir ihren Ausweis!«, rief die Verkäuferin hinter der Theke. »Woher soll ich wissen, dass Sie ein echter Kriegsveteran sind? Vielleicht haben Sie die ganze Zeit hinterm Ural gesessen! Vielleicht haben Sie ihre Hand sonst wo hingesteckt!« Da wurde wieder ein Stück meiner alten Heimat sichtbar. Auch der Mann auf dem Männerklo im Russischen Haus in Berlin, der immer erst dann die Hosen zumacht, wenn er den Toilettenraum längst verlassen hat - ist meine Heimat. Vor allem aber das Lied »Meine Adresse ist Sowjetunion«, das so oft, von so vielen sowjetischen Ensembles im Radio und Fernsehen zwischen den Parteitagen gespielt wurde, dass jedem von uns, beim Anhören, sofort die Pockennarbe rot anläuft. Viele würden an dieser Stelle klagen: Aber diese Sowjetunion war doch der Knast der Völker und der Freiheit... Andere werden sagen: Na und? Welcher Staat ist es nicht! Ich sage: Eine Heimat kann man sich nicht auswählen. Und oft, wenn ein Sowjetbürger einen anderen Sowjetbürger trifft, egal ob in Chicago oder in Berlin, dann kaufen sie sich eine Flasche Moskowskaja und ein halbes Kilo Konfekt »Roter Oktober«, und wenn beides leer ist, erinnern sie sich an das alte Lied: »Die Mädels sind dort immer selbstbewusst,/ die Jungs sind dort immer gescheit./ Und wenn in der Zeitung »Vorwärts« steht,/ dann wissen alle sofort Bescheid./ Mein Herz bricht heraus...aus meeeeeiner Brust./ Meine Adresse ist kein Land und kein Haus./ Meine Adresse ist Sowjetskij Sojus./ Meine Adresse i...Zum Weiterlesen gibt es folgende Möglichkeiten:
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