In der Wohnung wie in einem Käfig
Nach achtjähriger Nutzung lässt die Stadt Berlin eine provisorische Fläche für durchreisende Sinti- und Romafamilien in einen regulären Campingplatz umbauen. Am Misstrauen zwischen Bevölkerung und Reisenden wird sich nichts ändern
Wolken haben die Sonne bedeckt. Der Wind kühlt den heißen Sommertag ab und weht durch das offene Campingzelt. Wilhelm Blum sitzt draußen am Tisch, vor ihm eine Tasse Pfefferminztee. Seine Frau holt ihm eine leichte Jacke aus dem Wagen. »Wenn ich in einer Wohnung bin, komm ich mir vor wie eingesperrt. In den Wohnwagen gehen wir auch nur zum Schlafen. Sonst sind wir die ganze Zeit an der frischen Luft. Einem Sinto kann nichts Besseres passieren, als mit der Natur eins zu sein.«
Blum ist Vertreter dieser Volksgruppe, die gemeinhin unter dem Wort Zigeuner subsumiert wird. Seinen Festwohnsitz hat er im fränkischen Coburg. Dort verbringt er die Winterzeit. Das restliche Jahr fährt er mit seiner Frau, dem Sohn und der Schwiegertochter quer durch Deutschland. Früher, um weite Verwandte zu besuchen und zu arbeiten. Heute, um zusammen mit Gleichgesinnten, die sich unter einem Missionsdach gefunden haben, das neue Evangelium zu predigen. Vor dem Kirchentag ist er mit anderen elf Sinti-Pastoren nach Berlin gefahren und hat in Dreilinden ein großes Zelt aufgeschlagen, das mittlerweile wieder in Deutschland unterwegs ist.
Blum wollte noch für einige Wochen auf dem Campingplatz bleiben. Bereits seit den 70er Jahren kommen durchreisende Sinti- und Roma-Familien nach Berlin. Bis vor acht Jahren gab es für sie aber überhaupt keinen Platz, der mit Sanitäranlagen, Strom oder Müllbehältern ausgerüstet war. »Wildes Campen« war die Folge. Und Ärger mit den Anwohnern, denen fremde Campingzelte ein Dorn im Auge waren. 1995 schließlich stellte die SenatsVerwaltung für Schule, Jugend und Sport zusammen mit der Ausländerbehörde und dem Landesverband Deutscher Sinti und Roma Berlin-Brandenburg den Platz zur Verfügung, an dem vor der Wiedervereinigung Autos auf ihrem Weg zwischen Westberlin und Ostdeutschland von Grenzsoldaten kontrolliert wurden. Seither sind Sinti und Roma in Berlin erstmals nicht nur geduldet, sondern können hier ganz legal leben.
Elftausend Quadratkilometer stehen den Familien zur Verfügung. Platz für vier lange Wagenreihen, die durch schattige Bäume voneinander getrennt sind. Ein Caravan steht dicht neben dem anderen. In den durchweg gestreiften Zelten sind Kochnischen und Esstische zu sehen. Männer sind nur wenige da, tagsüber arbeiten sie außerhalb. Frauen bereiten derweil etwa das Essen, fegen den Zeltboden oder kümmern sich um die Wäsche. In jeder Reihe stehen zwei weiße Blechgehäuse mit provisorischen Duschen und Toiletten. Es gibt keine Kanalisation, also müssen fast täglich große Lkw zum Abpumpen und Reinigen vorbeikommen. Strom und Wasserleitungen liegen lose auf dem Boden. Betreut werden die Camper von der Caritas.
In einem grünen Container hat Platzwart Gerd Melinat sein Büro eingerichtet. Ein anderer mit Fenster auf einer Seite dient als Klassenzimmer, eine Lehrerin arbeitet hier rund sechs Stunden täglich mit Vorschulkindern und hilft den Älteren bei den Hausaufgaben. Die meisten schulpflichtigen Kinder gehen nämlich ganz regulär in eine benachbarte Schule, die sich auf durchreisende Sintifamilien eingestellt hat. Dort sei es kein Problem, Kinder von einem Tag auf den anderen an- oder abzumelden, meint die Lehrerin, die seit Jahren auf dem Campingplatz arbeitet. Knapp 170000 Euro pro Jahr kostete die Bewirtschaftung des Platzes bisher. Viel Geld für das verschuldete Berlin. Deshalb hat der Senat in diesem Frühjahr endlich beschlossen, aus dem Provisorium einen festen Wohnwagenplatz zu machen, der neun Monate im Jahr genutzt werden kann. Mit einer Investitionssumme von 1,5 Millionen soll ab der nächsten Saison unter anderem ein Gebäude mit Duschen und Toiletten, einem Büro und Aufenthaltsraum sowie einem Klassenzimmer für Vorschulkinder zur Verfügung stehen. Unterm Strich wird der Haushalt so um 40000 Euro jährlich entlastet.
Die Sinti und Roma freuen sich natürlich einerseits auf mehr Komfort. Andererseits befürchten sie steigende Mietpreise für den Wagenplatz, der mit zwölf Euro pro Tag und Wagen schon heute recht teuer sei. »Auf anderen Stellplätzen in Deutschland werden generell nicht viel mehr als vier, fünf Euro verlangt«, so Wilhelm Blum. Trotzdem stößt Dreilinden regelmäßig an seine Kapazitäten. Auf 44 Wagen ausgerichtet, standen dort zum Kirchentag gar 66 »Gespanne«, wie der Platzwart die Gefährte nennt. Der Förster, dem das Nachbargrundstück gehört, habe etwas Platz abgegeben, damit alle bleiben konnten.
In der Nähe von Melinats Büro versuchen drei Jungs einen Ball im hoch hängenden Netz unterzubekommen, was aber meistens nicht klappt. Sie sind etwa zwischen 12 und 14 Jahre alt. Ein kleines Mädchen will den Ball, der ihm nach einem weiteren missglückten Versuch vor die Füße rollt, fassen. Die Jungs sind jedoch schneller. Das Mädchen läuft deshalb eilig zum grünen Container, steckt den Kopf durch die offene Tür und fragt selbstbewusst: »Kann ich einen Ball haben?« Die junge Frau, die die Sechsjährige anspricht, ist kaum größer als die Jungs, die draußen spielen. Sie habe leider keinen mehr da, meint sie und lächelt der Kleinen entschuldigend entgegen.
Nadine Klein wird mit ihrem Studium als Sozialarbeiterin im Juli fertig, momentan arbeitet sie halbtags für die Caritas auf diesem Campingplatz. Sie findet kaum fünf Minuten Zeit, um sich für eine Zigarette hinzusetzen. Ihre Tür ist fast immer offen. Als nächstes schneit ein junges Mädchen mit Zahnspange herein. Es ist vielleicht 14 Jahre alt, hat einen langen Jeansrock an und hält ein Baby im Arm. »Das ist mein Kind, ich bin schon verheiratet«, sagt es zu Nadine und guckt ihr mit einem spitzbübischen Blick ins Gesicht. Nadine lächelt, schweigt, schüttelt schließlich den Kopf. »Glaubst du nicht? Es stimmt!« Das Mädchen gibt schließlich auf und bittet die Caritasfrau um ein Album mit Fotos der Durchreisenden vergangener Jahre, das es gemeinsam mit den Kindern, die das Geschehen im Hintergrund belauscht haben, durchstöbern will.
»Wir suchen nach einer Betreuerin. Die Kinder langweilen sich sehr, es gibt ja hier kaum etwas, womit sie sich beschäftigen können«, meint Nadine und wendet sich schon dem nächsten Sinto zu. Der Lkw rase heute wieder so schnell durch die Reihen, klagt dieser. »Sagen Sie bitte dem Fahrer, er wird es nicht schaffen, schnell zu bremsen, wenn ein Kind vorne über die Straße läuft. Es ist doch alles sehr eng hier.« Selbst einmischen möchte sich der Mann nicht - sie solle mit dem Trucker sprechen - und geht wieder weg. Nadine kramt ihr Handy hervor, checkt, wo sich der Fahrer gerade befindet, und läuft nach draußen. Als sie wiederkommt, sagt sie: »Sie wollen keinen Kontakt mit anderen. Viele schlechte Erfahrungen gemacht. Es gibt viel Misstrauen.«
Davon kann auch Wilhelm Blum ein Lied singen. Seit er denken kann, ist die Familie immer gereist. »Wir waren stets abseits von der Bevölkerung. Das kriegst du schon als Kind mit und fängst an, dich zu wehren, jedem mit Misstrauen zu begegnen.« Die Religion habe ihm geholfen, diese Ausgrenzung zu überwinden: »In der Gemeinde, wo auch Deutsche sind, werden wir akzeptiert.«
Seit über 500 Jahren leben Sinti in Deutschland, erzählt der 53-Jährige mit den angenehmen Gesichtszügen. Heutzutage wird ihre Zahl auf rund 90000 geschätzt. »Und sie sind all diese Zeit immer am Rande geblieben.« Die Bezeichnung »Zigeuner« komme von dem Bild »ziehende Gauner«, allein schon deshalb lehnt er dieses Wort ab. Blums Nachname klingt jüdisch, wie viele Namen seines Volkes. »Sinti wollten nicht auffallen, und da sie selbst keine Nachnamen hatten, haben sie Namen von Leuten gewählt, die eine genauso dunkle Hautfarbe hatten wie sie. Da lagen Juden nahe.« Und sie hätten früher kaum Mischehen gehabt. Seine Urgroßmutter sei allerdings eine Deutsche gewesen, die »zum Entsetzen ihrer Familie« einen Sinto geheiratet habe. In Königsberg, Ostpreußen, haben sie gelebt.
Seine Großeltern hat Blum nie kennen gelernt, auch viele Onkel und Tanten nicht. Wie eine halbe Million Sinti und Roma in ganz Europa sind sie den Nazis zum Opfer gefallen. »Meine Mutter ist 1939 ins KZ gekommen. Da war sie fünf. Mein Vater 1938 - mit sieben Jahren. Beide haben überlebt.« Acht von zwölf Geschwistern habe sein Vater in der Vernichtungsmaschinerie verloren. Die 50-köpfige Familie war fast vollständig ausgelöscht.
»Auch mein Vater kam als Kind nach Marzahn ins Lager«, berichtet Blums Frau Mona, während sie die Kartoffeln schält und in Streifen schneidet. In der Pfanne wird langsam die Butter heiß. Sie ist eine kräftige Frau mit heller Haut und blauen Augen. Schon seit 35 Jahren sind sie verheiratet. »Die älteren Leute haben immer noch Angst, wenn sie Uniformierte sehen«, fährt Blum fort, »egal was für eine Uniform. Manche werden dabei aggressiv, manche ziehen sich zurück.«
Die Angst vor Ausforschung sitzt tief. Das weiß auch Petra Rosenberg, Leiterin des Landesverbandes Deutscher Sinti und Roma Berlin-Brandenburg. Ihr Vater Otto Rosenberg ist mit zwölf Jahren ebenfalls in das Marzahner Lager gekommen. Im Vorfeld der Olympischen Spiele der Nazizeit wollte der braune Mob ein »Berlin ohne Zigeuner« schaffen und hatte so 1936 begonnen, Sinti zwangsweise »umzusiedeln«. So genannte Rassenforscher, wie Robert Ritter und Eva Justin, haben eigens Romanes, die Sprache der Sinti und Roma, erlernt, Stammbäume angelegt und 20000 Rassengutachten vergeben, die einem Todesurteil gleichkamen. Nach dem Krieg wurde es mit der ablehnenden Haltung der Bevölkerung gegenüber Sinti und Roma nicht wesentlich besser. Oft habe er, so Blum, als Kind auf Campingplätzen miterleben müssen, wie die Polizei ohne sichtbaren Grund auf Männer eingeschlagen habe. »So wurde auch bei Sinti mit der Zeit selbstverständlich eine Abwehrhaltung verfestigt.«
Er selbst begegne anderen gegenüber aber mittlerweile wieder offener. Er sehe nicht in jedem Fremden einen Feind, und dieses Gefühl will er auch weitergeben. »Die Ausgrenzung ist und wird da sein, solange Menschen« - damit meint Blum seine Landsleute - »ihre Gesinnung nicht ändern. Das Schlimmste ist: Ihnen werde von der breiten Bevölkerung immer mit Misstrauen begegnet, wenn sie sich sperren.« Er als Priester käme mit seiner Überzeugung leichter an die Leute ran als ein Deutscher. »Ein Sinto hört nur dem Sinto zu, weil er nicht glauben kann, dass auch andere ihm etwas Gutes wollen.«
Die Bratkartoffeln sind fertig. Mona schneidet noch Tomatensalat mit Zwiebeln. Der Nachbar, auch ein Pastor, setzt sich mit an den Tisch. Aus dem anderen Zelt kommt ein junges Mädchen mit einer großen Schüssel Spagetti. Was man gerade hat, wird geteilt. Auch Blums Sohn, der 20-jährige Ronaldo, gesellt sich nun dazu. Spatzo nennt man ihn in der Familie, weil »der Kleine den Mund früher wie ein Vogel bewegt hat«. Überhaupt haben fast alle Doppelnamen, meint Blum. Neben Wilhelm heißt er mit »Sintinamen« Raufli, weil er wohl ein »sehr bewegtes Kind« gewesen sei. Unterhaltungen laufen meist in Romanes. Es seien nicht die Verbände von Sinti und Roma oder andere Vereinigungen, die Sprache, Sitten und Bräuche pflegen. Es seien die Familien, die die Traditionen an Jüngere weitergeben. »Die Kultur war eine Abgrenzung, aber auch ein Halt. Jetzt ist sie aufgeweicht«, meint Blum. Vieles gehe verloren, wie zum Beispiel Verhaltensregeln gegenüber Älteren.
Wenn der Tag zur Neige geht, kommen die Männer langsam mit ihren Autos zurück. In Berlin und in Brandenburg bieten sie ihre Dienste als Zimmerleute, Dachdecker oder Restauratoren an. Außerdem verkaufen sie Handwerkzeug oder Bekleidung auf Märkten. »Die meisten meiden die neuen Bundesländer«, erzählt Platzwart Gerd Melinat, »weil sie da schon oft angegriffen und beschimpft worden sind, und fahren lieber von Berlin aus jeden Tag 100 Kilometer hin und wieder zurück, weil sie im Brandenburger Umland nicht campieren möchten.« Auf dem Platz hier sei es glücklicherweise noch nicht vorgekommen, dass die Camper von feindseligen Menschen »dumm angemacht« wurden. Es gibt ja in der Nähe auch kaum Bevölkerung, die sich von irgendetwas gestört fühlen und somit künstlich aufregen könnte.
Melinat freut sich auf den nahenden Feierabend. Jeden Tag habe er »tausend kleine Dinge« zu tun. Er ist für alle technischen Einrichtungen auf dem Platz zuständig und wird immer um Hilfe gerufen, wenn ein Klo verstopft ist, die Waschmaschine streikt, ein Wasserhahn oder eine Steckdose nicht mehr gehen. »Für größere Sachen habe ich Firmen, die ich beauftragen kann, aber kleinere Macken muss ich wegen der Kostendämmung selber beheben.« Permanent sei er unterwegs, etwa wenn ein Kinderrad repariert werden muss. Zusammen mit Nadine hilft er den Leuten zudem, in Zeitungen Jobanzeigen und Kaufgesuche zu schalten, oder bei diversen Amtsgängen.
Ab dem 31. Oktober wird der Platz jahreszeitbedingt wieder leer stehen. Die Container werden dann weggeräumt, und die Arbeiter werden endlich feste Kanalisationsrohre, Stromkabel und Wasserleitungen verlegen. Auch Melinat fre...
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