Ein Verlust, den ich erst später bemerkte

DIE KINDER: Ruth Radvanyi über ihre Mutter Anna Seghers, über Exil- und DDR-Erfahrungen

Fluch oder Segen? Kinder berühmter Eltern - wie fühlen sie sich? Inwieweit wurde ihr Lebensweg von dem der Väter und Mütter befördert oder überschattet? Nehmen sie das große Erbe an, tragen sie es weiter oder lehnen sie es ab? Können sie je mündig werden, gelingt ihnen die Emanzipation von der Aura der Eltern, gehen sie eigene, andere Wege? ND befragt Kinder von Persönlichkeiten, die linkes Geistesleben und linke Politik in Ost- und Westdeutschland prägten.

ND: Sie sagten einmal, Sie wollten nicht nur als Tochter von Anna Seghers wahrgenommen werden...
Radvanyi: Es hat mich immer geärgert, wenn es hieß: »Ah, die Tochter der Anna Seghers.« Ich wollte als eigenständiger Mensch wahrgenommen werden. Schon als Kind. Wahrscheinlich habe ich mich auch deswegen für einen naturwissenschaftlichen Beruf entschieden. Ich habe früher nur einige Bücher der Mutter gelesen, mich wenig für ihr Werk interessiert - ein Verlust, den ich erst später bemerkte. Als Jugendliche hatte ich Schwierigkeiten mit dem »Siebten Kreuz«: die verschiedenen Erzählebenen. Erst später wurde mir bewusst, wie schön dieser Roman ist.

Hat die Mutter Ihnen nicht hin und wieder ein Manuskript zum Lesen angeboten, um Ihre Meinung zu hören?
Nein. Aber sie hat manchmal vor sich hin gemurmelt, wenn ein Werk gerade noch in der Mache war.

Nicht nur als Tochter der großen A.S. gesehen zu werden - verständlich. Aber 1989 sind Sie für Ihre Mutter auf die Barrikade gestiegen, haben sie verteidigt.
Das hatte sie nicht nötig. Darum ging es nicht. Ich habe nach allem, was nach der Wende plötzlich über meine Mutter behauptet wurde, angefangen, mich mit ihrem Werk intensiv zu beschäftigen.

Was ist Ihr Lieblingsbuch?
Ich habe Ihre Sagen sehr gern.

Sind Sie eine Romantikerin?
Ich weiß nicht, was ein Romantiker ist.

Sie haben einen schweren Beruf ausgeübt, der nicht viel Zeit für romantische Schwärmereien lässt, kühlen und schnellen Entschluss erfordert: Kinderärztin. Wollten Sie nie Dichterin werden?
Ach, wenn ich das Talent meiner Mutter geerbt hätte.... Freilich habe ich als junges Mädchen ein paar Gedichte geschrieben. Meine Schwierigkeit bestand darin, dass ich zweisprachig aufgewachsen bin. Ich war fünf Jahre alt, als wir aus Deutschland nach Paris gingen.

Wer hat Sie zur Medizin »verleitet«?
Nach dem Abitur in Mexico City habe ich dort erst einmal in einem Krankenhaus in einem Armenviertel gearbeitet. Ich war entsetzt über das, was ich dort, im Hospital del nino sehen musste. Mein Bruder Peter und ich sind wohlbehütet aufgewachsen - abgesehen von den Abenteuern auf der Flucht vor der Wehrmacht. Unsere Mutter hatte Angst, dass wir Hunger hätten. Sie hat manchmal von Empfängen etwas mitgebracht. Ich weiß auch noch, dass es einmal Ärger in der Schule gab, weil Peter einen Beutel mit Würfelzucker, den er für sich aufsparen wollte, in der Wasserspülung der Toilette versteckt hatte. Und ich habe heimlich im Keller Fadennudeln nur für mich gekocht. Aber die Not, die ich im Hospital del nino kennen lernte, übertraf unsere bei weitem. Ich wäre einmal vor Scham am liebsten in den Erdboden versunken: Der Vater eines kranken Jungen hatte eine Flasche Milch für seinen Sohn mitgebracht. Die Flasche war dreckig, verschmiert, glitt mir aus den Händen und zerbrach. Er hatte sie sich von seinen letzten Pesos abgespart.
Jedenfalls haben mich die Erlebnisse nicht bestärkt, Ärztin zu werden. Dennoch schrieb ich mich, als ich meinem Bruder 1946 nach Paris folgte, in der medizinischen Fakultät ein, promovierte und bin 1954 in die DDR übergesiedelt.

Hat die Mutter Sie gerufen?
Nein. Sie hätte mich nie gerufen, dazu war sie viel zu schlau. Sie wusste von meinem Widerspruchsgeist. Unsere Eltern haben nie Druck auf uns ausgeübt, wir sollten unser eigenes Leben leben. Kaum in der DDR, habe ich zu arbeiten begonnen, statt erst einmal Urlaub zu nehmen und mit Mutter Wiedersehen zu feiern.

Wo fingen sie an?
Im Klinikum Buch, damals Hufeland- Krankenhaus. Mein Deutsch war sehr mangelhaft, und ich war so überfleißig. Ich bin gleich zur strengsten Ärztin gekommen. Später wurde ich nach Stalinstadt, heute Eisenhüttenstadt, geschickt, wo eine Kinderklinik aufgebaut wurde. Ich bin etwas abenteuerlustig und gern mit der Oberärztin in die Provinz gefahren. Ein Jahr war ich dort.

Jahre später haben Sie noch einmal Berlin für zwei Jahre verlassen.
1964 bis 1966 war ich in einem Krankenhaus auf der Insel Pemba vor Tansanias Küste tätig. Kurz vor dem Abflug sagte mir ein Mann vom Gesundheitsministerium, ich sollte der Delegationsleiter sein. Da habe ich einen Schock bekommen. Der Deutsche braucht einen Chef. Ich musste mich innerhalb von Sekunden einverstanden erklären - wir waren auf dem Weg zur Verabschiedung beim Minister. Das war damals mein Sturm auf das Winterpalais. Ich war nämlich überhaupt kein Cheftyp.

Und haben Sie es gelernt?
Ich weiß nicht. Vielleicht bin ich eine strenge Chefin geworden. Ich war mit dem Beruf verwachsen. Mein Bruder - für mich immer noch der liebe Peter, obwohl er schon lange Pierre heißt, Kernphysiker in Frankreich ist - musste mich jedes Mal, wenn er zu Besuch nach Berlin kam, daran erinnern: »Du bist nicht in deinem Krankenhaus.«

Vergleichen Sie heute manchmal die Gesundheitssysteme der DDR und BRD?
Na klar. Das Gesundheitssystem in der DDR war besser organisiert. Es fehlte natürlich viel. Als ich nach meiner Tätigkeit aus Tansania zurück war und im Säuglings- und Kinderkrankenhaus in der Buschallee in Berlin arbeitete, sagte ich, wenn wieder nichts klappte: »Vom Busch in die Buschallee.«

Was sagen Sie zur Gesundheitsreform?
Sie trifft mich - als Patientin.

Und was sagt die ehemalige Ärztin?
Es ist nicht gut, wenn Geld die Beziehung zwischen Arzt und Patient regelt.

Zurück zu Ihrer Mutter. Haben Sie als Kind manchmal um ihr Leben gebangt? Sie waren fünf Jahre alt, als die Gestapo Anna Seghers verhaftete.
Ich weiß nicht, ob das schon die Gestapo war. Sie war wohl auch nur einen Tag eingesperrt. Sie hatte einen ungarischen Pass, durch die Heirat mit meinem Vater Laszlo Radvanyi. Ich erinnere mich aber, dass eines Tages die Polizei kam und unsere Wohnung durchsuchen wollte. Da hat meine Mutter gesagt: »Hier ist Scharlach.« Mein Bruder war bereits in so einem Sanatorium, ich lag in meinem Bett, übersät mit roten Flecken. Da haben die Männer auf dem Absatz kehrtgemacht. Mutter hat mich zur Großmutter gebracht. Und nachdem sie entlassen worden ist, ist sie nach Basel geflohen. Meine Oma hat uns, Peter und mich, später nach Strasbourg gebracht...

Wäre Sie doch gleich mitgegangen!
Damals lebte Opa noch. Und die Leute wussten ja nicht, dass die Hitlerdiktatur so lange dauert. Jedenfalls haben wir dann in einem Vorort von Paris, in Bellevue gelebt, sind dort auf eine Privatschule mit einem fortschrittlichen Direktor gegangen - bis zur 6. Klasse. Unsere Eltern kamen immer spät abends nach Hause. Meine Mutter fuhr tagsüber nach Paris, setzte sich dort ins Café und schrieb.

Im Mai 1940 marschierte die Wehrmacht in Frankreich ein. Sie flohen nach Marseille ins unbesetzte Frankreich...
Diese Flucht verlief in zwei Teilen. Zwischendurch lebten wir illegal in Paris. Bei jeder Etappe schickte uns Mutter in die Schule. Und sie beschwor uns, öffentlich kein deutsches Wort zu sagen.

Als Sie später in Mexiko waren, hat Anna Seghers versucht, ihre Mutter aus Nazideutschland zu holen. Vergebens.
Großmutter wurde 1942 deportiert. Sie ist in einem Vernichtungslager gestorben. Großvater war bereits tot, er hatte einen Schlaganfall bekommen, nachdem man ihn enteignet, ihm seine Kunsthandlung genommen hatte. Es hat meine Mutter belastet, dass sie ihre Mutter nicht hat retten können. Ich weiß noch, wie sie in Mexiko in unserer Wohnung unruhig auf und ab ging und nur ein Wort vor sich hin sagte: »Mutter!«
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Die Tochter über die Mutter
Empfinden Sie es als eine Last, eine berühmte Mutter zu haben?
Ich habe mich daran gewöhnt.
Welche Stärke schätzen Sie an Ihrer Mutter?
Dass sie Verständnis hatte für alle Menschen.
Welche Schwäche haben Sie an ihr entdeckt?
Dass sie uns immer schonen wollte.
Welche ihrer Eigenschaften würden Sie gern selbst besitzen?
Ihre Schönheit, ihre sehr große Sensibilität und ihre Gabe, Schreiben zu können.
Hatten Sie eine glückliche Kindheit?
Trotz der Verhältnisse im Exil: Ja.
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Wie stand Ihre Mutter zu ihrem Judentum, wie stehen Sie dazu?
Die Großeltern waren jüdisch-orthodox. Meine Mutter bekannte sich zu ihren Wurzeln, war aber nicht religiös. Sie erzog uns nicht jüdisch. Sie trat 1928 in die KPD ein, das hat nichts mit ihrer Familie zu tun. Ich selbst habe keinen Bezug zur Religion. Das Wort »Rasse« hat für mich einen Bezug zu Hitler.

Haben Sie etwas von den Zweifeln und Qualen Ihrer Mutter bemerkt, wenn gute Freunde oder Kollegen von ihr unter ungerechte Anschuldigungen gerieten?
Nein. Denn Mutter hatte Prinzipien. Und ein Prinzip war, mich nicht mit ihrem Ärger zu behelligen. Sie war stolz, dass ich Ärztin war. Sie hat ihre Seelennot nicht versteckt, aber sie hat mich mit ihren Auseinandersetzungen auch nicht quälen wollen. Vor allem nicht mit ihren persönlichen Diskussionen im Schriftstellerverband. Vielleicht wollte sie mich auch schützen. Sie wusste, dass ich sehr leidenschaftlich werden konnte. Ich weiß aber noch genau, dass sie sehr traurig war, dass die Kollegen nicht zu ihr gekommen sind, als die Sache mit Wolf Biermann war. Christa Wolf hat mir später gesagt, man habe sie bewusst nicht aufgesucht, um sie nicht zu belasten. Und ich weiß noch, wie sie einmal sagte: »Warum hat unsere Regierung nur solche Angst vor Petöfi-Klubs.«

Die alte Angst der Macht vor dem Geist.
Ich habe ziemlich naiv gesagt: »Das ist doch nicht wichtig.« Da hat sie mich entgeistert angeguckt: »Kultur ist wichtig.«

1956 hat Anna Seghers versucht, ihren Freund Georg Lukács aus Ungarn zu holen. Der Anfang einer unerquicklichen Geschichte voller Missverständnisse? Die Vorwürfe von Walter Janka in der Wendezeit müssen Sie sehr getroffen haben.
Nach der Wende musste jemand für sie eintreten. Ich fühlte mich dazu verpflichtet. Zu DDR-Zeiten, da brauchte sie mich nicht. Aber dann, als ich eher zufällig im Fernsehen sah, wie der Schauspieler Ulrich Mühe den Janka-Bericht vorlas. Da war ich platt. Janka warf meiner Mutter vor, dass sie kein Wort für ihn eingelegt und geschwiegen habe, als er 1957 verurteilt wurde. Inzwischen weiß man, dass sie bei Walter Ulbricht persönlich interveniert hatte.

Auf Jankas Anschuldigung hin räumten die Bibliotheken Seghers-Bücher aus.
Ich beschloss, der Sache nachzugehen. Das war gar nicht so leicht. Ich habe Mutters Schriftstellerkollegen befragt, habe alles Mögliche gelesen, was damals erschienen ist. Und dann habe ich Janka zu einem persönlichen Gespräch gebeten.

Hat sich Janka bei Ihnen entschuldigt?
Janka und entschuldigen?! Ich habe ihn gefragt, warum er meine Mutter so schlechtgemacht hat. Vielleicht war es von ihr nicht gerade klug gewesen, ihn als Lektor im Aufbau-Verlag angesprochen zu haben, um Lukács zu helfen. Aber er hat ihr vorgeworfen, dass sie im Prozess gegen ihn nicht aufgesprungen ist, nicht für ihn gesprochen hatte. War es nicht ein Solidaritätsbeweis, dass meine Mutter zum Prozess hingegangen ist? Sie hat sich nicht aus Voyeurismus reingesetzt. Ich weiß, dass sie zu Berta Waterstradt gegangen ist, die bei ihr um die Ecke wohnte. Und da hat sie stundenlang geheult. Meine Mutter hat ihr Bestes versucht, zu Ulbricht durchzukommen... Sie hat sich gekümmert. Sie hat ihre Leute verteidigt. Viele fragen, warum die Porträtfotos der Anna Seghers so traurig sind. Ich glaube, das hat damit zu tun.

Ihre Mutter selbst wurde observiert...
Ich glaube, sie hat es nicht wahrgenommen, dass da stets jemand an ihrer Seite war. Und auch ich hab solche Sachen nicht für möglich gehalten. Wenn meine Kollegen im Krankenhaus auf das merkwürdige Knacken im Telefon zu sprechen kamen, habe ich gesagt: »Ihr spinnt.« Ich wusste nicht, dass die Stasi überall war.

Aber Ihre Mutter sprach gern in Codes?
Das hatte nichts damit zu tun, das war nur so eine Marotte, wohl aus der Exil-Zeit. Da hat sie uns die Geheimsprache gelehrt. »Leo« stand für die Sowjetunion.

Sie haben als Kind im mexikanischen Exil namhafte deutsche Schriftsteller kennen gelernt: Ludwig Renn, Alexander Abusch, Egon Erwin Kisch, Bodo Uhse u.a. Wer imponierte Ihnen am meisten?
Fast jeder von denen war einmal dran, uns Jugendlichen Kultur beizubringen. Uhse wollte, dass wir Goethes »Faust« lesen und etwas darüber schreiben. Ich habe einen Schreck bekommen, weil ich mich sicherer in der französischen Sprache und Kultur fühlte. Und da habe ich geschwänzt. Kisch dagegen liebten wir, er war ein Freund der Kinder. Und jeder von uns dachte, er sei sein ganz besonderer Freund. Er konnte zaubern.

Wie würden Sie den Vater beschreiben?
Ein alter Brummbär.

Das Gegenteil von der Mutter?
Ja. Sie hatten auch andere Lebensgewohnheiten. Mein Vater arbeitete sehr viel nachts. Und er hatte besondere »Macken«, während meine Mutter viel normaler war. Ich werde nie vergessen, wie ich als junge Frau während einer Bahnfahrt zwischen Halle und Berlin zufällig beim Gespräch eines Pärchens mir gegenüber bemerkte: »Die reden ja über meinen Vater.« Das war sofort an der Beschreibung der Person erkennbar. Sie haben ihn »Texas Joe« genannt. Ich fand das herrlich. Es gibt viel mehr Anekdoten über meinen Vater als über meine Mutter.

Erzählen Sie doch bitte eine.
Einmal, ich weiß nicht mehr wann, wurde angeordnet, dass die Professoren sich vor Vorlesungen Notizen machen, sie sollten nicht mehr frei sprechen. Mein Vater war ein didaktischer Typ. Nun also hat er während seiner Vorlesungen immer in einem Heft geblättert. Irgendjemand hat sich dann mal sein Heft angeguckt. Da stand nichts drin. Das war mein Vater.
Auf einer internationalen Konferenz beschwerte sich einst ein Kollege: »Der Johann-Lorenz Schmidt hört ja gar nicht zu.« Er hatte die Simultan-Kopfhörer nicht auf. Brauchte er auch nicht, denn er beherrschte zwölf Sprachen. Und er hat sich Notizen in armenisch oder auf grusinisch gemacht, das konnte kein Mensch bei uns lesen. Vater war eine ulkige Nudel.
Und meine Mutter war wirklich eine wunderbare Frau und Mutter. Ich liebte sie.

Bereits erschienen: Andrej Bahro (23.8.02), Till Bastian (19./20.10.02), Jan Robert Bloch (7./8.12.02), Peter Marcuse (22./23.2.03), Thomas Kuczynski (15./ 16.3.), Rudi-Marek Dutschke (12./13.4.). ND: Sie sagten einmal, Sie wollten nicht nur als Tochter von Anna Seghers wahrgenommen werden...
Radvanyi: Es hat mich immer geärgert, wenn es hieß: »Ah, die Tochter der Anna Seghers.« Ich wollte als eigenständiger Mensch wahrgenommen werden. Schon als Kind. Wahrscheinlich habe ich mich auch deswegen für einen naturwissenschaftlichen Beruf entschieden. Ich habe früher nur einige Bücher der Mutter gelesen, mich wenig für ihr Werk interessiert - ein Verlust, den ich erst später bemerkte. Als Jugendliche hatte ich Schwierigkeiten mit dem »Siebten Kreuz«: die verschiedenen Erzählebenen. Erst später wurde mir bewusst, wie schön dieser Roman ist.

Hat die Mutter Ihnen nicht hin und wieder ein Manuskript zum Lesen angeboten, um Ihre Meinung zu hören?
Nein. Aber sie hat manchmal vor sich hin gemurmelt, wenn ein Werk gerade noch in der Mache war.

Nicht nur als Tochter der großen A.S. gesehen zu werden - verständlich. Aber 1989 sind Sie für Ihre Mutter auf die Barrikade gestiegen, haben sie verteidigt.
Das hatte sie nicht nötig. Darum ging es nicht. Ich habe nach allem, was nach der Wende plötzlich über meine Mutter behauptet wurde, angefangen, mich mit ihrem Werk intensiv zu beschäftigen.

Was ist Ihr Lieblingsbuch?
Ich habe Ihre Sagen sehr gern.

Sind Sie eine Romantikerin?
Ich weiß nicht, was ein Romantiker ist.

Sie haben einen schweren Beruf ausgeübt, der nicht viel Zeit für romantische Schwärmereien lässt, kühlen und schnellen Entschluss erfordert: Kinderärztin. Wollten Sie nie Dichterin werden?
Ach, wenn ich das Talent meiner Mutter geerbt hätte.... Freilich habe ich als junges Mädchen ein paar Gedichte geschrieben. Meine Schwierigkeit bestand darin, dass ich zweisprachig aufgewachsen bin. Ich war fünf Jahre alt, als wir aus Deutschland nach Paris gingen.

Wer hat Sie zur Medizin »verleitet«?
Nach dem Abitur in Mexico City habe ich dort erst einmal in einem Krankenhaus in einem Armenviertel gearbeitet. Ich war entsetzt über das, was ich dort, im Hospital del nino sehen musste. Mein Bruder Peter und ich sind wohlbehütet aufgewachsen - abgesehen von den Abenteuern auf der Flucht vor der Wehrmacht. Unsere Mutter hatte Angst, dass wir Hunger hätten. Sie hat manchmal von Empfängen etwas mitgebracht. Ich weiß auch noch, dass es einmal Ärger in der Schule gab, weil Peter einen Beutel mit Würfelzucker, den er für sich aufsparen wollte, in der Wasserspülung der Toilette versteckt hatte. Und ich habe heimlich im Keller Fadennudeln nur für mich gekocht. Aber die Not, die ich im Hospital del nino kennen lernte, übertraf unsere bei weitem. Ich wäre einmal vor Scham am liebsten in den Erdboden versunken: Der Vater eines kranken Jungen hatte eine Flasche Milch für seinen Sohn mitgebracht. Die Flasche war dreckig, verschmiert, glitt mir aus den Händen und zerbrach. Er hatte sie sich von seinen letzten Pesos abgespart.
Jedenfalls haben mich die Erlebnisse nicht bestärkt, Ärztin zu werden. Dennoch schrieb ich mich, als ich meinem Bruder 1946 nach Paris folgte, in der medizinischen Fakultät ein, promovierte und bin 1954 in die DDR übergesiedelt.

Hat die Mutter Sie gerufen?
Nein. Sie hätte mich nie gerufen, dazu war sie viel zu schlau. Sie wusste von meinem Widerspruchsgeist. Unsere Eltern haben nie Druck auf uns ausgeübt, wir sollten unser eigenes Leben leben. Kaum in der DDR, habe ich zu arbeiten begonnen, statt erst einmal Urlaub zu nehmen und mit Mutter Wiedersehen zu feiern.

Wo fingen sie an?
Im Klinikum Buch, damals Hufeland- Krankenhaus. Mein Deutsch war sehr mangelhaft, und ich war so überfleißig. Ich bin gleich zur strengsten Ärztin gekommen. Später wurde ich nach Stalinstadt, heute Eisenhüttenstadt, geschickt, wo eine Kinderklinik aufgebaut wurde. Ich bin etwas abenteuerlustig und gern mit der Oberärztin in die Provinz gefahren. Ein Jahr war ich dort.

Jahre später haben Sie noch einmal Berlin für zwei Jahre verlassen.
1964 bis 1966 war ich in einem Krankenhaus auf der Insel Pemba vor Tansanias Küste tätig. Kurz vor dem Abflug sagte mir ein Mann vom Gesundheitsministerium, ich sollte der Delegationsleiter sein. Da habe ich einen Schock bekommen. Der Deutsche braucht einen Chef. Ich musste mich innerhalb von Sekunden einverstanden erklären - wir waren auf dem Weg zur Verabschiedung beim Minister. Das war damals mein Sturm auf das Winterpalais. Ich war nämlich überhaupt kein Cheftyp.

Und haben Sie es gelernt?
Ich weiß nicht. Vielleicht bin ich eine strenge Chefin geworden. Ich war mit dem Beruf verwachsen. Mein Bruder - für mich immer noch der liebe Peter, obwohl er schon lange Pierre heißt, Kernphysiker in Frankreich ist - musste mich jedes Mal, wenn er zu Besuch nach Berlin kam, daran erinnern: »Du bist nicht in deinem Krankenhaus.«

Vergleichen Sie heute manchmal die Gesundheitssysteme der DDR und BRD?
Na klar. Das Gesundheitssystem in der DDR war besser organisiert. Es fehlte natürlich viel. Als ich nach meiner Tätigkeit aus Tansania zurück war und im Säuglings- und Kinderkrankenhaus in der Buschallee in Berlin arbeitete, sagte ich, wenn wieder nichts klappte: »Vom Busch in die Buschallee.«

Was sagen Sie zur Gesundheitsreform?
Sie trifft mich - als Patientin.

Und was sagt die ehemalige Ärztin?
Es ist nicht gut, wenn Geld die Beziehung zwischen Arzt und Patient regelt.

Zurück zu Ihrer Mutter. Haben Sie als Kind manchmal um ihr Leben gebangt? Sie waren fünf Jahre alt, als die Gestapo Anna Seghers verhaftete.
Ich weiß nicht, ob das schon die Gestapo war. Sie war wohl auch nur einen Tag eingesperrt. Sie hatte einen ungarischen Pass, durch die Heirat mit meinem Vater Laszlo Radvanyi. Ich erinnere mich aber, dass eines Tages die Polizei kam und unsere Wohnung durchsuchen wollte. Da hat meine Mutter gesagt: »Hier ist Scharlach.« Mein Bruder war bereits in so einem Sanatorium, ich lag in meinem Bett, übersät mit roten Flecken. Da haben die Männer auf dem Absatz kehrtgemacht. Mutter hat mich zur Großmutter gebracht. Und nachdem sie entlassen worden ist, ist sie nach Basel geflohen. Meine Oma hat uns, Peter und mich, später nach Strasbourg gebracht...

Wäre Sie doch gleich mitgegangen!
Damals lebte Opa noch. Und die Leute wussten ja nicht, dass die Hitlerdiktatur so lange dauert. Jedenfalls haben wir dann in einem Vorort von Paris, in Bellevue gelebt, sind dort auf eine Privatschule mit einem fortschrittlichen Direktor gegangen - bis zur 6. Klasse. Unsere Eltern kamen immer spät abends nach Hause. Meine Mutter fuhr tagsüber nach Paris, setzte sich dort ins Café und schrieb.

Im Mai 1940 marschierte die Wehrmacht in Frankreich ein. Sie flohen nach Marseille ins unbesetzte Frankreich...
Diese Flucht verlief in zwei Teilen. Zwischendurch lebten wir illegal in Paris. Bei jeder Etappe schickte uns Mutter in die Schule. Und sie beschwor uns, öffentlich kein deutsches Wort zu sagen.

Als Sie später in Mexiko waren, hat Anna Seghers versucht, ihre Mutter aus Nazideutschland zu holen. Vergebens.
Großmutter wurde 1942 deportiert. Sie ist in einem Vernichtungslager gestorben. Großvater war bereits tot, er hatte einen Schlaganfall bekommen, nachdem man ihn enteignet, ihm seine Kunsthandlung genommen hatte. Es hat meine Mutter belastet, dass sie ihre Mutter nicht hat retten können. Ich weiß noch, wie sie in Mexiko in unserer Wohnung unruhig auf und ab ging und nur ein Wort vor sich hin sagte: »Mutter!«
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Die Tochter über die Mutter
Empfinden Sie es als eine Last, eine berühmte Mutter zu haben?
Ich habe mich daran gewöhnt.
Welche Stärke schätzen Sie an Ihrer Mutter?
Dass sie Verständnis hatte für alle Menschen.
Welche Schwäche haben Sie an ihr entdeckt?
Dass sie uns immer schonen wollte.
Welche ihrer Eigenschaften würden Sie gern selbst besitzen?
Ihre Schönheit, ihre sehr große Sensibilität und ihre Gabe, Schreiben zu können.
Hatten Sie eine glückliche Kindheit?
Trotz der Verhältnisse im Exil: Ja.
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Wie stand Ihre Mutter zu ihrem Judentum, wie stehen Sie dazu?
Die Großeltern waren jüdisch-orthodox. Meine Mutter bekannte sich zu ihren Wurzeln, war aber nicht religiös. Sie erzog uns nicht jüdisch. Sie trat 1928 in die KPD ein, das hat nichts mit ihrer Familie zu tun. Ich selbst habe keinen Bezug zur Religion. Das Wort »Rasse« hat für mich einen Bezug zu Hitler.

Haben Sie etwas von den Zweifeln und Qualen Ihrer Mutter bemerkt, wenn gute Freunde oder Kollegen von ihr unter ungerechte Anschuldigungen gerieten?
Nein. Denn Mutter hatte Prinzipien. Und ein Prinzip war, mich nicht mit ihrem Ärger zu behelligen. Sie war stolz, dass ich Ärztin war. Sie hat ihre Seelennot nicht versteckt, aber sie hat mich mit ihren Auseinandersetzungen auch nicht quälen wollen. Vor allem nicht mit ihren persönlichen Diskussionen im Schriftstellerverband. Vielleicht wollte sie mich auch schützen. Sie wusste, dass ich sehr leidenschaftlich werden konnte. Ich weiß aber noch genau, dass sie sehr traurig war, dass die Kollegen nicht zu ihr gekommen sind, als die Sache mit Wolf Biermann war. Christa Wolf hat mir später gesagt, man habe sie bewusst nicht aufgesucht, um sie nicht zu belasten. Und ich weiß noch, wie sie einmal sagte: »Warum hat unsere Regierung nur solche Angst vor Petöfi-Klubs.«

Die alte Angst der Macht vor dem Geist.
Ich habe ziemlich naiv gesagt: »Das ist doch nicht wichtig.« Da hat sie mich entgeistert angeguckt: »Kultur ist wichtig.«

1956 hat Anna Seghers versucht, ihren Freund Georg Lukács aus Ungarn zu holen. Der Anfang einer unerquicklichen Geschichte voller Missverständnisse? Die Vorwürfe von Walter Janka in der Wendezeit müssen Sie sehr getroffen haben.
Nach der Wende musste jemand für sie eintreten. Ich fühlte mich dazu verpflichtet. Zu DDR-Zeiten, da brauchte sie mich nicht. Aber dann, als ich eher zufällig im Fernsehen sah, wie der Schauspieler Ulrich Mühe den Janka-Bericht vorlas. Da war ich platt. Janka warf meiner Mutter vor, dass sie kein Wort für ihn eingelegt und geschwiegen habe, als er 1957 verurteilt wurde. Inzwischen weiß man, dass sie bei Walter Ulbricht persönlich interveniert hatte.

Auf Jankas Anschuldigung hin räumten die Bibliotheken Seghers-Bücher aus.
Ich beschloss, der Sache nachzugehen. Das war gar nicht so leicht. Ich habe Mutters Schriftstellerkollegen befragt, habe alles Mögliche gelesen, was damals erschienen ist. Und dann habe ich Janka zu einem persönlichen Gespräch gebeten.

Hat sich Janka bei Ihnen entschuldigt?
Janka und entschuldigen?! Ich habe ihn gefragt, warum er meine Mutter so schlechtgemacht hat. Vielleicht war es von ihr nicht gerade klug gewesen, ihn als Lektor im Aufbau-Verlag angesprochen zu haben, um Lukács zu helfen. Aber er hat ihr vorgeworfen, dass sie im Prozess gegen ihn nicht aufgesprungen ist, nicht für ihn gesprochen hatte. War es nicht ein Solidaritätsbeweis, dass meine Mutter zum Prozess hingegangen ist? Sie hat sich nicht aus Voyeurismus reingesetzt. Ich weiß, dass sie zu Berta Waterstradt gegangen ist, die bei ihr um die Ecke wohnte. Und da hat sie stundenlang geheult. Meine Mutter hat ihr Bestes versucht, zu Ulbricht durchzukommen... Sie hat sich gekümmert. Sie hat ihre Leute verteidigt. Viele fragen, warum die Porträtfotos der Anna Seghers so traurig sind. Ich glaube, das hat damit zu tun.

Ihre Mutter selbst wurde observiert...
Ich glaube, sie hat es nicht wahrgenommen, dass da stets jemand an ihrer Seite war. Und auch ich hab solche Sachen nicht für möglich gehalten. Wenn meine Kollegen im Krankenhaus auf das merkwürdige Knacken im Telefon zu sprechen kamen, habe ich gesagt: »Ihr spinnt.« Ich wusste nicht, dass die Stasi überall war.

Aber Ihre Mutter sprach gern in Codes?
Das hatte nichts damit zu tun, das war nur so eine Marotte, wohl aus der Exil-Zeit. Da hat sie uns die Geheimsprache gelehrt. »Leo« stand für die Sowjetunion.

Sie haben als Kind im mexikanischen Exil namhafte deutsche Schriftsteller kennen gelernt: Ludwig Renn, Alexander Abusch, Egon Erwin Kisch, Bodo Uhse u.a. Wer imponierte Ihnen am meisten?
Fast jeder von denen war einmal dran, uns Jugendlichen Kultur beizubringen. Uhse wollte, dass wir Goethes »Faust« lesen und etwas darüber schreiben. Ich habe einen Schreck bekommen, weil ich mich sicherer in der französischen Sprache und Kultur fühlte. Und da habe ich geschwänzt. Kisch dagegen liebten wir, er war ein Freund der Kinder. Und jeder von uns dachte, er sei sein ganz besonderer Freund. Er konnte zaubern.

Wie würden Sie den Vater beschreiben?
Ein alter Brummbär.

Das Gegenteil von der Mutter?
Ja. Sie hatten auch andere Lebensgewohnheiten. Mein Vater arbeitete sehr viel nachts. Und er hatte besondere »Macken«, während meine Mutter viel normaler war. Ich werde nie vergessen, wie ich als junge Frau während einer Bahnfahrt zwischen Halle und Berlin zufällig beim Gespräch eines Pärchens mir gegenüber bemerkte: »Die reden ja über meinen Vater.« Das war sofort an der Beschreibung der Person erkennbar. Sie haben ihn »Texas Joe« genannt. Ich fand das herrlich. Es gibt viel mehr Anekdoten über meinen Vater als über meine Mutter.

Erzählen Sie doch bitte eine.
Einmal, ich weiß nicht mehr wann, wurde angeordnet, dass die Professoren sich vor Vorlesungen Notizen machen, sie sollten nicht mehr frei sprechen. Mein Vater war ein didaktischer Typ. Nun also hat er während seiner Vorlesungen immer in einem Heft geblättert. Irgendjemand hat sich dann mal sein Heft angeguckt. Da stand nichts drin. Das war mein Vater.
Auf einer internationalen Konferenz beschwerte sich einst ein Kollege: »Der Johann-Lorenz Schmidt hört ja gar nicht zu.« Er hatte die Simultan-Kopfhörer nicht auf. Brauchte er auch nicht, denn er beherrschte zwölf Sprachen. Und er hat sich Notizen in armenisch oder auf grusinisch gemacht, das konnte kein Mensch bei uns lesen. Vater war eine ulkige Nudel.
Und meine Mutter war wirklich eine wunderbare Frau und Mutter. Ich liebte sie.

Bereits erschienen: Andrej Bahro (23.8.02), Till Bastian (19./20.10.02), Jan Robert Bloch (7./8.12.02), Peter Marcuse (22./23.2.03), Thomas Kuczynski (15./ 16.3.), Rudi-Marek Dutschke (12./13.4.).

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