Der Tod des Bruders
Reinhold Messner wird in Büchern von Ex-Kameraden attackiert
Jeder Ehrgeiz produziert genau auch jene Menge Energie, die zerstörerisch wirkt. In jedem Leuchten verbrennt auch etwas, in jedem Glühen ruht ein dunkler kalter Schatten. »Nur zwischen Selbstverschwendung und Selbstzerstörung bin ich lebendig.« Sagt Reinhold Messner (58), und genau das ist seine Größe, ist sein Größenwahn, ist das, was fasziniert oder abstößt. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben.
Nur bei mittleren Temperaturen kocht nichts über; aus Mitte und Maß formt sich - Mittelmaß; wer ohne Sehnsucht nach dem Extrem auskommt, kann sich glücklich schätzen, weniger angreifbar zu sein. Wer sich jedoch gefährdet, ist immer auch gefährlich, und das nicht nur für sich selbst. Der Körper, der sich ins Wagnis eines unbekannten Weges wirft, gerät in die Prüfung zwischen radikaler Aufgabe aller Rückversicherung und einer drohenden Rücksichtslosigkeit. Der Geist, der hinauf und hinaus will, sagt auf andere Art »Ich« als jener, der die Aufgehobenheiten der Ebene oder einer Überdachung braucht, um bestehen zu können.
Im Juni 1970 verlor Reinhold Messner, 25-jährig, am Nanga Parbat seinen zwei Jahre jüngeren Bruder Günther. Beide hatten nicht nur den 8126 Meter hohen Parbat bestiegen, sondern die Überschreitung des Gipfels geschafft, den Abstieg also über die gegenüberliegende Diamir-Seite. Aber diese Überschreitung, ein Bergsteiger-Traum, war reine Notwehr, sagt Messner; denn Günther, höhenkrank, sei nicht mehr in der Lage gewesen, in die erschütternd steile Rupal-Flanke des Aufstiegsweges zurückzukehren. Schizophren, zermürbt, erfroren war Reinhold Messner irgendwann im Tal angekommen; sein Bruder sei von einer Lawine getötet worden.
Über dreißig Jahre nach dem Unglück erscheinen Bücher ehemaliger Expeditionsteilnehmer, es sind Produkte gereizter Nerven - in Folge eines Bündels gegenseitiger Vorwürfe und Streitpunkte aus jenen Juni-Tagen. Max von Kienlin (»Die Überschreitung«) und Hans Saler (»Zwischen Licht und Schatten«) behaupten nun, sie hätten jahrelang die Version Reinholds mitgetragen, allein schon, um die Eltern Messners zu schonen. Jetzt - spät also - brechen sich bei beiden Moral und Ehrlichkeit Bahn: Reinhold habe von vornherein ehrgeizig eine Solo-Übersteigung des Parbat-Gipfels geplant und den kranken Bruder seinem Ziel geopfert, ihn kaltblütig zurückgelassen.
Wo Kienlin und Saler sehr konkrete Fragen aufwerfen, wo sie gleichsam mit ihren Anwürfen direkt am Berg bleiben, in der Chronik des Unmittelbaren, wo sie mit zweifelnder Vermutung die Logik von Reinhold Messners Version aufzubrechen versuchen - dort wirken ihre Bücher zumindest ernsthaft, suchend, ja auch traurig in der Demission einer früheren Beziehung. Das lese ich aber nicht als Gegenbeweis, schon gar nicht als Kultur des Gegenangriffs, sondern als weiteres Dokument einer interessanten Perspektivverschiebung, die zum Kern aller Wahrheit führt und also eher auf eine Theaterbühne gehört als vor ein Tribunal: Wahrheit zu behaupten, ist die gefährlichste aller Lügen; Wahrheit gleicht in jedem Falle und aus jedem Mund einer Brücke, die bei Vormarsch bricht.
Leider aber liest sich besonders von Kienlins Buch über beträchtliche Strecken als infame, teils listige, teils plumpe Persönlichkeits-Demontage. Es ist Manipulation, wenn der Autor allgemeine, historisierende Gedanken über den Niedergang des Abenteuers so platziert und aufbaut, dass diese Dekadenz in Ethos und Anspruch des Bergsteigens sofort mit Messner assoziiert wird. Gleichsam von Jesus Christus bis zur klassischen Kunst wird humanistisches Gedankengut, werden Solidarität und Selbstlosigkeit beschworen - bis von Reinhold Messner nur ein Darwinist übrig bleibt. Der Gipfel wird dort erreicht, wo von Kienlin Äußerungen Messners über Bergkameradschaft - die es nach dessen Ansicht dort nicht gibt, wo es ums eigene Leben geht - in unmittelbare Korrespondenz zu einem ergänzenden Gedanken bringt, den er kommentiert: »Nein, dieser Satz stammt ausnahmsweise nicht von Reinhold Messner. Er stammt aus "Mein Kampf" von Adolf Hitler.«
Jenseits von persönlichen Abrechnungsmotiven: Was auf dem Nanga Parbat geschah, weiß nur Reinhold Messner allein, und noch so penible Fragen nach einer allgemeinen Moral passen nicht ins Areal eines Abenteuers, das den Menschen in Grenzbereiche seiner Handlungs- und Koordinierungsfähigkeit treibt, an den unwägbar schmalen Grat zwischen Vernunft und Instinkt. Was es mit dem Tod Günthers auf sich hat, behält sein Interesse nicht durch nachträgliche Zurechtrückungsversuche einstiger Freunde - dieses tragische Schicksal bleibt geheimnisvolles »Eigentum« Reinhold Messners und ist Bestandteil des Installationsraums, in den dieser Bergsteiger seine Existenz zu verwandeln vermochte. Zu diesem Leben gehört eine polarisierende Einheit von gelebter Dramatik und philosophischer Reflexion darüber, von forciertem Individualismus und unausweichlichem Egoismus, von einsamstem Erlebnis und größtmöglicher Öffentlichkeit. Einmal mehr wirken von Kienlins und Salers Bücher wie Abarbeitungen an diesem Polarisierungsgenie Messner, und also wirken die Autoren noch in ihrer inneren Getroffenheit kleinlich, angestrengt, zweitrangig. Messner hat aus seiner Schuld am Tod Günthers nie ein Hehl gemacht, aber er hat dieses Schicksal zugleich als spezielle Initialzündung in sein Existenzdrama als Extremist der Erfahrungen, als praktischer Philosoph einer unvergleichlich elitären Lebenskunst des Maximums eingearbeitet (»seitdem lebe ich mein Leben mutiger, frecher«).
Günther Messner: unterm Parbat begraben, nun auch unter einem kleinen Bücherberg. Reinhold Messner hat aus diesem Tod heraus sein packendstes Buch geschrieben (»Der nackte Berg«). Nicht, dass es etwas erklärt, macht dessen Wert aus, sondern die Ahnung Messners, dass er trotz aller Erklärungen nicht jene Wand wird überwinden können, die Martin Walser in die Worte kleidete: »Wahrheit i...
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