Dieser Text ist Teil des nd-Archivs seit 1946.

Um die Inhalte, die in den Jahrgängen bis 2001 als gedrucktes Papier vorliegen, in eine digitalisierte Fassung zu übertragen, wurde eine automatische Text- und Layouterkennung eingesetzt. Je älter das Original, umso höher die Wahrscheinlichkeit, dass der automatische Erkennvorgang bei einzelnen Wörtern oder Absätzen auf Probleme stößt.

Es kann also vereinzelt vorkommen, dass Texte fehlerhaft sind.

Der zweite Tod des Nikolai Bersarin

  • DIETER H. SCHUBERT
  • Lesedauer: 6 Min.

Bersarin samt Begleitung vor dem zerschossenen Reichstag. Dem deutschen Volke sei er gewidmet - wurde behauptet. Was zählt heute die Befreiung von der Barbarei?

Siebenundvierzig Jahre nach seinem tragischen Tod auf dem Motorad an der Lichtenberger Straßenecke Alt-Friedrichsfelde/Schloßstraße starb Berlins erster sowjetischer Stadtkommandant Nikolai E. Bersarin im Herbst dieses Jahres ein zweites Mal. Ein Federstrich tilgte ihn von der Liste der Berliner Ehrenbürger. ..

Worin bestand Bersarins Fehl, seine Verfehlung, worin sein Versagen oder gar Verbrechen, daß ihn ein solcher Bannstrahl traf?

Blättern wir zurück:

Nikolai Erastowitsch Bersarin, mit 14 Jahren in den Wirren des Bürgerkrieges in die Obhut der Armee aufgenommen, nun Generaloberst und Befehlshaber der 5. sowjetischen Stoßarmee, die bei Kienitz als erste die Oder überquert, betritt im Frühjahr 1945 zusammen mit seinen Soldaten als erster der alliierten Truppen Berliner Boden. Am Abend des 22. April überwinden sie die faschistische Verteidigungslinie längs des S-Bahn-Ringes und stoßen vom Ostufer der Spree bis nach Treptow vor. Am 23. April ist der Schlesische Bahnhof (heute Hauptbahnhof) in ihrer Hand. Während die erbitterten Straßenkämpfe in Richtung Reichstag und Führerbunker treiben, wird Generaloberst Bersarin vom Kriegsrat der 1. Belorussischen Front am 24. April 1945 zum sowjetischen Militärkommandanten von Berlin ernannt. Er ist 41 Jahre alt, Held der Sowjetunion und gilt nach dem Urteil des russischen Schriftstellers Wsewolod Wischnewski - als einer der gebildetsten Kommandeure der sowjetischen Armee.

Ein Befehl, der das Gewissen forderte

Die Entscheidung des Mili-' tärrates stürzt den Offizier in eine Gewissenskrise. „Bersarin“'war “sehr aufgeregt“, schreibt später der Krie'gsbe- i riichterätetter Lew r Seliej&iW und notiert sich Bersarins Worte: „Verstehst du, Lew ... nun soll ich auf einmal nicht mehr gegen die Deutschen kämpfen, sondern ihnen helfen. Ich soll ihnen helfen, ein neues Deutschland aufzubauen, Städte, Krankenhäuser, Schulen, Betriebe und Fabriken neu zu errichten. Und das nach zwölf Jahren Faschismus!“

Das ist der Konflikt eines Soldaten und Familienvaters, der vom ersten Tag an im Krieg steht und sagt: „Ich habe während meines ganzen Lebens nichts gesehen, was dem ähnlich war, als die deutschen Offiziere und Soldaten wie Bestien gegen die friedliche Bevölkerung vorgingen. Alle Zerstörungen, die Sie in Deutschland haben, sind Kleinigkeiten, gemessen an den Zerstörungen, die wir erfahren mußten“.

Tatsachen geben Auskunft:

Bersarin ist vier Tage Stadtkommandant, als Plakate seinen berühmt gewordenen Be-

fehl Nr. 1 verkünden: Verbot der Nazipartei... Jeder, der arbeitsfähig ist, soll sich in seinem Betrieb melden und zu arbeiten beginnen... Ab sofort werden von sowjetischer Seite Lebensmittel an die Bevölkerung verteilt ... Kinos, Theater und Gaststätten werden wieder eröffnet... Gottesdienste in den Kirchen sind erlaubt...

„Als erste deutsche Zivilpersonen wurden von Bersarin und seinen Mitarbeitern nicht etwa bekannte Nazis und

Kriegsverbrecher gesucht, sondern Ingenieure und Techniker. Sie erhielten den kategorischen Befehl zur schnellst möglichen Instandsetzung der Elektrizitäts- und Wasserwerke“, heißt es in einem Erinnerungsbericht.

Kühe von der Kommandantur

Nach der kämpfenden Truppe der Roten Armee kamen Lastwagen mit Brot, Mehl und Kartoffeln. In Zahlen: 96 500 Tonnen Kartoffeln, 58 700 Tonnen Mehl, 11000 Tonnen Grütze, 8 000 Tonnen Fleisch, auch große Mengen Zucker, Salz und Fette. Im Bericht über eine Versammlung im damaligen Busch-Kino in Alt-Friedrichsfelde ist nachzulesen: „Punkt 11: Für die

Milchversorgung der Kinder von Berlin hat die russische Kommandantur zehntausend Milchkühe zur Verfügung gestellt.“

Aus Berichten jener ersten Berliner Wochen ist zu erkennen: Bersarin hält wenig an seinem Schreibtisch; er ist täglich mit dem Auto oder seinem Motorrad - er liebte dieses Gefährt - in Berlin unterwegs; er besucht nicht nur seine Truppen, er ist auch in den Berliner Stadtbezirken zu

treffen, spricht mit den Eisenbahnern und Wasserwerkern, besucht einen Straßenbahnhof. Hier wurde ihm eine Stra-ße zu langsam von den Trümmern befreit. Dort gefielen ihm die Schlangen vor den Geschäften nicht. Er forschte nach den Ursachen und drang auf Abhilfe... Häufiger Gast war er auch in deutschen Krankenhäusern und in Kindereinrichtungen, deren Versorgung mit allem Notwendigen er bevorzugt organisiert...

Bereits einen Monat nach Kriegsende fahren in allen Berliner Stadtbezirken die Straßenbahnen auf einer Strecke von 52 Kilometern, die U-Bahn erreicht schon wieder Stationen entlang einer Strecke von 27 Stationen, vier Gaswerke arbeiten, 27 000 Häuser sind wiederhergestellt, zahlreiche Bäder wer-

den auf Befehl des Kommandanten instandgesetzt, 200 Kinos spielen, die Eröffnung der Oper steht bevor; der Magistrat kann bekanntgeben, „daß laut Anweisung von General Bersarin bis zum 10. Juni Zahlungen an Löhnen, Gehältern, Rechnungen von Unterlieferanten erfolgen sollen“.

Bersarins Tür in der Kommandantur in dem Haus Alt-Friedrichsfelde l/Ecke Rosenfelder Straße ist für jedermann offen. „Zu ihm kamen Arbeiter und Künstler, Beamte und Professoren, Gelehrte und Geschäftsleute ... Zu ihm kamen die Menschen mit Gesuchen und Projekten, mit Beschwerden und Anerbieten..., denn schon in den ersten Tagen und Wochen hatte sich mit Windeseile herumgesprochen, daß der Kommandant ein einfacher, offenherziger und zugänglicher Mensch ist.“

Charakteristisch für die Arbeitsweise Bersarins werden seine Expertenkonferenzen: Eine Woche nach der Einsetzung als Stadtkommandant ruft er Ärzte aus allen 20 Berliner Stadtbezirken zu einer Beratung über Sofortmaßnahmen im Gesundheitswesen zusammen; am 11. Mai beraten unter seiner Leitung Versorgungsexperten, am 14. fordert er auf einer Zusammenkunft von Berliner Künstlern die schnelle Wiedereröffnung der Berliner Bühnen. „Sie haben der Bevölkerung der Stadt Berlin, die gut und hart arbeiten wird, die Möglichkeit zu geben, Befriedigung und Entspannung zu finden.“

Schnell und gut muß mitgearbeitet werden

Fünf Tage nach der deutschen Kapitulation am 8. Mai findet die erste Sitzung des von Bersarin berufenen neuen Magistrats statt; die Männer sehen sich an diesem Tag zumeist erstmals in ihrem Leben: „Kurz und präzise machte er unSrin'Welligen.Minuten, mifseineri Absichten vertraut, förderte“ uns auf, sofort die er-' ste Magistratssitzung abzuhalten und - verließ den Raum. Da saßen wir nun und schauten uns erstmal eine Weile erstaunt an, um dann mit der Sitzung zu beginnen, die einige Stunden dauerte und auch schon Beschlüsse faßte“. Zu den 13 von Bersarin berufenen Männern gehören der parteilose Ingenieur Dr. Arthur Werner als Oberbürgermeister, Kommunisten, Sozialdemokraten und bekannte Berliner Persönlichkeiten wie der Pfarrer Heinrich Grüber, der namhafte Architekt Hans Scharoun und später auch der weltbekannte Chirurg Prof. Dr. Ferdinand Sauerbruch.

Bei der feierlichen Amtseinführung des Magistrats „in einem halbzerstörten Saal des Gebäudes der Feuersozietät in der Parochialstraße“ hält der Militärkommandant die Ansprache: „In jedem Stadtviertel, in jedem Haus sollte nur an eins gedacht werden: daß schnell und gut mitgearbeitet werden muß...“

Der zweite Tod des Nikolai Bersarin... Wir hätl ten auch die Namen der Sergeanten Jegorow und Kanturija nennen können, die mit der roten Fahne auf dem Reichstag das Ende der Barbarei verkündeten. Oder den des Russen Massalow. Wer je vor dem Denkmal in Treptow stand, weiß um die Menschlichkeit dieses Rotarmisten. Ihre Namen sind getilgt von der (Ost-)Liste der „ehrenwerten Hauptstädter“.

Heute, kurz nach 10 Uhr, nachdem die Eleonoren-Ouvertüre verklungen ist, wird die Hauptstadt um drei Ehrenbürger reicher sein: Kohl, Reagan, Gorbatschow.

Reicher? Juckt's wen?

Na, vielleicht doch. Immerhin: Bürger einer Stadt - das bedeutet nach der Ordnung des Herrn von Stein zu besonderen Leistungen für die Stadt verpflichtet zu sein. Kohls „besondere“ Leistungen sind

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal