Der Code von Adam und Eva
Was die Gene über unsere Vergangenheit verraten
Die sympathischste Botschaft dieses im vorigen Jahr für den amerikanischen National Book Award nominierten Bestsellers sei gleich an den Anfang gestellt: Genetisch gesehen sind alle Menschen gleich! Wie ein Genetiker-Team aus Berkeley zeigen konnte, gehen alle heute lebenden Menschen in einem bestimmten Punkt ihrer genetischen Ausstattung auf eine Urmutter zurück. Dieser Punkt betrifft die DNA der Mitochondrien, also bestimmter Zellbestandteile, über die jeder Mensch verfügt, die jedoch nur jeweils im mütterlichen Erbgang weitergegeben werden. Deshalb die Rede von der Urmutter.
Ihre hypothetische Ausgangsrolle resultiert aus einem mathematischen Verfahren, wonach rückwärts gerechnet alle Mutterlinien abnehmen, was in der Konsequenz auf einen Ausgangspunkt vor rund 100000 Jahren verweist. Natürlich hat damals nicht nur eine Frau gelebt - aber für die Forscher gilt als einzig denkbar, dass die Tatsache der übereinstimmenden Mitochondrien-Ausstattung der rezenten Menschen darauf zurückzuführen ist, dass nur die entsprechende DNA einer einzigen Frau aus jenen Urgruppen unserer Vorfahren sich durchgesetzt hat. Wir alle gehen auf diese Mitochondrien- Eva, wie sie bald schon genannt wurde, zurück. Ähnliches gelte für die Y-Chromosomen der männlichen Erbgänge; die übrigen Zutaten unserer Genome setzen sich dann - vergleichbaren Rückrechnungen folgend - aus den Ausgangsmaterialien von rund 85000 Menschen dieser frühgeschichtlichen Epoche zusammen. Die genetische Grundausstattung aller Menschen wurzelt mithin in ein und derselben Frühmenschengruppe und baute sich über mehrere Generationen hin auf. Keine Rede mehr von ursprünglich differenten Genausstattungen der rezenten Menschen, von überlegenen und unterlegenen Rassen - vor der Mitochondrien-Eva und dem Y-Chromosomen-Adam sind wir alle gleich! Das ist der Grundstock der genetischen Theorie über Herkunft und Geschichte des Menschen; hier mit dürren Worten referiert. Eine fundamentale Einsicht; und man wünschte sich, dass sie richtig ist. Zumal sich viele Anschlussstellen ergeben, die sie überprüfbar machen.
Steve Olson konzentriert sich dabei vor allem auf die Nachzeichnung der Wanderbewegung aus dem Orte der Menschwerdung heraus. Neben der Genetik der Gemeinsamkeit ist das der zweite wichtige Punkt seiner Darlegungen. Zur Gen-Geschichte gesellt sich die kulturelle Menschheitsgeschichte. In manchen Passagen des Buches scheint letztere unterbelichtet zu sein, was sich jedoch aus dem erklärten Anliegen Olsons ergibt, den Anteil der Gene an unserer Vergangenheit auszumachen. Für die Anfänge der Menschwerdung bietet sich bei einem solchen zentrierten Blick auf die Gen-Geschichte natürlich an, einen einzigen Ausgangspunkt in den Blick zu nehmen. Nicht nur für Olson lag dieser Ausgangspunkt in einem etwa 800 Kilometer breiten Streifen in Ostafrika nördlich und südlich des Äquators, das heutige Territorium Äthiopiens, Kenias, Somalias und Tansanias.
Vor sechs Millionen Jahren etwa spaltete sich in diesem Raum eine Population von Affen in zwei Spezies auf, von denen die eine sich zu den Schimpansen entwickelte, die andere hingegen zum Menschen führte. Diese nun begann nach wiederum zwei Millionen Jahren vorwiegend die hinteren Gliedmaßen zur Fortbewegung zu nutzen. Die Hand wurde frei, es setzte eine tief greifende morphologische Umgestaltung ein; der Australopithekus als erste äffische Menschenform entstand. Nun dauerte es wieder zwei Millionen Jahre, bis diese Australopiteciden zum regelmäßigen Werkzeuggebrauch fanden; es entstand eine Zweibeiner-Spezies mit deutlich größerem Gehirn. Die Gattung Homo hatte sich herausgebildet. Und nun vergingen wieder 1,8 Millionen Jahre, bis sich aus dieser Homo-Gruppe eine Gruppe abzuspalten begann, gekennzeichnet durch leichteren Körperbau, größere Mobilität und kognitive Flexibilität. Das nun ist die Gruppe, von der die moderne Menschheit abstammt.
Ein erster Schädel dieser unserer Ahnen wurde 1967 von Richard Leakey in Äthiopien, am Omo-Fluss, gefunden. Diese Abfolge muss man jedoch nicht als Stufenfolge verstehen. Es war keineswegs so, dass sich die ältere Form stets und in Gänze in die höhere hinaufbegab. Sondern die ältere Form existierte weiter, neben der neuen. Dabei differenzierten sich auch die älteren Formen weiter; vor 1,8 Millionen Jahren rechnet man mit vier Australopitheciden-Gruppen in Ostafrika. Und sie begannen zu wandern. Also nicht nur die neue, am Ursprung der modernen Menschheit stehende Gruppe tat dies; zunächst den Süden Afrikas erschließend, dann die Gebiete im Nahost, Europa, Asien, Amerika und Australien. Nach Olson begannen diese Wanderzüge erst, nachdem dieser moderne Mensch biologisch »fertig« war, also seine biotische Entwicklung abgeschlossen war.
Die Rekonstruktion der Wanderwege macht den größten Teil des vorliegenden Buches aus und gehört insofern direkt zur Thematik, weil über DNA-Analysen (mitochondriale Haplo-Gruppen - man schaue in das Buch!) Herkünfte bestimmbar sind. Das betrifft ebenso die Aborigines wie die amerikanischen Ureinwohner vor 20000 Jahren! Also auch sie gehören zum modernen Menschen dazu! Nicht dazu gehören die Australopitheciden, die vorher schon das Ursprungsgebiet verlassen haben und später die Ureinwohnerschaft Westeuropas und des asiatischen Raumes bildeten. Dort lebten sie jahrtausendelang benachbart mit den Gruppen der modernen Menschen, die viel später ankamen. Das komplizierte Nebeneinander der Neanderthaler mit den nach ihnen einwandernden modernen Menschen ist selbstredend aus heutiger Sicht nicht rekonstruierbar. Hypothesen müssen helfen; und Olson kann nichts anderes tun.
Die Hauptfrage ist: Warum kam es nicht zur Vermischung? Und warum starben die Neanderthaler schließlich überall aus? Olsons These geht in die Richtung, dass die Neanderthaler zu keiner geistigen Kultur in der Lage waren, da sie weder über eine Schrift und voraussichtlich auch nicht über eine Sprache (natürlich über mannigfache andere Verständigungsformen) verfügten und deshalb zugrunde gingen.
Dass sich nicht nur aus den Reihen der Genetiker, sondern vor allem aus den politischen Lagern verschiedenster Couleur bald schon Widerspruch regen musste, ist klar. So ist es auch gekommen - die erste öffentliche Vorstellung der neuen Hypothese zu Beginn der neunziger Jahre wurde in einer führenden amerikanischen Tageszeitung mit der Abbildung einer halb nackten schwarzen Venus glossiert. Angesichts des latenten Rassismus der Neuen Welt eine klare Wegweisung für die öffentlichen Emotionen. Allenthalben regten sich rassistische Aktivitäten. Aber auch für die Weiterführung der Forschungen gab es Erschwernisse verschiedenster Art. Vor allem dort, wo die Ureinwohner der seit dem 17. Jahrhundert vom »weißen Mann« besiedelten Kontinente als Menschen zweiter Klasse betrachtet und behandelt worden waren, drohen nach dem genetischen Nachweis der Irrigkeit einer solchen These eine Fülle politischer Folgerungen. Auf der anderen Seite stehen zur Überraschung der Autoren die Emotionen ganzer Völkerscharen gegen sie. Historisch bedingte Verletzlichkeiten drohen die Genom-Analysen relativ abgeschlossener Ethnien zu torpedieren; gerade das ist aber eine der Hauptmethoden der anthropologisch-geschichtlichen Forschungen, die Olson propagiert. So stellten die Stammesführer der Apachen in Oklahoma als Bedingungen für eine Untersuchung ihrer Gene die Forderung, die Forscher dürfen diese Ergebnisse nicht verwenden, um die Stammesgeschichte zu erforschen. »Als Gruppe möchten die Apachen von Oklahoma ihre genetischen Beziehungen zu früheren Völkern oder anderen Indianergruppen nicht erforscht wissen«. Da muss man von geschäftlichen Interessen gar nicht erst reden.
Hinter Olsons Buch steht jedoch nicht nur eine humane antirassistische Überzeugung, sondern auch ein weltumspannendes Forschungsanliegen, das sich im Human Genome Diversity Project (HGDP) vorstellt, und das natürlich um seine Finanzierung werben muss. Anliegen ist die genetische Migrationsforschung, die ganz im Sinne des von Olson referierten Konzeptes für die öffnende Neufassung der Einwanderungsgesetze aller Staaten votiert. Das vor allem sei die Konsequenz der These von der Gleichheit aller Menschen angesichts ihrer historisch gewachsenen gleichen genetischen Würde. Und in typisch amerikanischer Wendung fügt Olson hinzu, man möge nur auf die schönen Menschen in Hawaii schauen, deren holde Weiblichkeit die Spitzenpositionen aller Miss World Wahlen belegt, um zu erkennen, dass nicht Abgrenzung, sondern allein Vermischung zur allseitig freien, auch biotisch vom Rassismus befreiten Menschheit führen werde. Auch vor der Globalisierung macht die Genetik nicht halt, was auch umgekehrt gilt.
Hat die Genetik tatsächlich das letzte klärende Wort zur Einheit des Menschengeschlechts gesprochen? Die Forschungen von Luca Cavalli-Sforza, Li Jin, Himba Sordyall, Colin Groves, Douglas Wallace - um nur einige Namen aus dieser von Olson referierten Geschichte unserer Gene herauszugreifen - haben zumindest gezeigt, dass manche Folgen historisch bedingten Unrechts an Menschen und Völkern durch striktes naturwissenschaftliches Denken eliminiert werden können. Vor allem dann, wenn sich die Politik anschließt. Ob dieser Blick jedoch die Menschheitsgeschichte nun endgültig erklärt hat, diese Frage zu entscheiden wird wohl noch weiteren Forschungen, vielleic...
Zum Weiterlesen gibt es folgende Möglichkeiten:
Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.