»Man hat uns einfach zu viele Lügen erzählt«

Vor zwei Jahren wurde Carlo Giuliani während des G8-Gipfels in Genua von der Polizei erschossen

  • Anna Maldini, Rom
  • Lesedauer: ca. 6.0 Min.
Carlo Giuliani war gerade mal ein paar Stunden tot, als der stellvertretende italienische Ministerpräsident Gianfranco Fini erklärte: »Es war ganz offensichtlich ein Fall von Notwehr.« Für diese Behauptung brauchte er nichts abzuwarten: weder die Autopsie, noch die ersten Verhöre mit den verschiedenen Personen - Ordnungskräfte und Demonstranten - die dabei waren, als Carlo am 20. Juli 2001 während des G8-Gipfels in Genua erschossen wurde, und schon gar nicht die gerichtliche Untersuchung oder das Urteil. Im Nachhinein muss man anerkennen, dass Fini über eine gehörige Dosis von Hellseherei verfügte, denn immerhin hat die italienische Justiz dem Politiker zugestimmt: Carlo Giuliani wurde aus Notwehr getötet, weil er dabei war, einen Polizisten anzugreifen, der in einem Jeep saß, der von Demonstranten umringt war. Der Schuldige, ein 20-jähriger Rekrut, musste sich noch nicht einmal vor Gericht verantworten - der Fall wurde bereits in der Ermittlungsphase eingestellt.
Haidi Gaggio, Lehrerin in Pension, ist die Mutter von Carlo. Mit ihrem geschiedenen Mann und der Tochter kämpft sie vom ersten Tag an für die Wahrheit: »Nicht für Carlo, sondern im Namen von Carlo«, wie sie immer wiederholt. Von Anfang an war das Verantwortungsgefühl der Familie beeindruckend: »Wir wollen keine Rache«, sagte der Vater, ein Gewerkschaftsfunktionär, unmittelbar nach dem Tod seines Sohnes mit versteinertem Gesicht vor den Fernsehkameras, als die Ereignisse in Genua noch mehr zu entgleiten drohten und die Medien jede Stunde neue Schreckensnachrichten verbreiteten: Es war von schwer verletzten und sogar toten Demonstranten und Polizisten die Rede - Nachrichten, die sich glücklicherweise später als falsch erwiesen. »Wir bitten die Freunde von Carlo, im Rahmen der Legalität zu demonstrieren, sich auf keinen Fall provozieren zu lassen«, erklärte Giuliani. »Carlo hat Gewalt abgelehnt. Er hat gegen die Ungerechtigkeit in dieser Welt gekämpft.«

Zahlreiche Zweifel an der offiziellen Tat-Version
Aber mit der offiziellen Version über die Ereignisse vor zwei Jahren in Genua wollen sie sich nicht abgeben: »Der Staatsanwalt, der die Untersuchung durchgeführt hat«, sagt Frau Gaggio, »hat nie angezweifelt, dass Mario Placanica, der junge Rekrut der Karabinieri, auf der Piazza Alimonda geschossen hat. Er wollte noch nicht einmal die Waffen der anderen Personen kontrollieren, die in dem Jeep saßen; er hat nie nach den Patronen oder Hülsen suchen lassen. Und mit der Untersuchung der Waffe von Placanica hat er die Karabinieri selbst betraut. Und die haben sich natürlich intensiv mit dem Opfer und seinen Freunden beschäftigt, ihrem Kollegen aber kaum Aufmerksamkeit geschenkt - und das trotz seiner unterschiedlichen und konfusen Erklärungen über das, was sich an jenem Nachmittag ereignet hat«.
Freunde der Familie - Rechtsanwälte und Sachverständige - haben in einer wahren Sisyphusarbeit alles vorhandene Material, Fotos, Videoaufnahmen, Erklärungen, Aussagen akribisch untersucht, abgeglichen und zumindest viele Zweifel an der offiziellen Version angemeldet (das Material und einige Schlussfolgerungen kann man auf der Webseite www.piazzacarlogiuliani.it nachlesen). Da ist zum Beispiel die Tatsache, dass Elena Giuliani ihren Bruder um 21 Uhr (er war da schon seit etwa drei Stunden tot) auf seinem Handy anrief, und ihr eine fremde Stimme antworte, es sei alles in Ordnung und Carlo werde sich gleich melden. Oder dass auf einem Foto der Presseagentur Reuters ganz klar zu erkennen ist, dass die Pistole, mit der Carlo erschossen wird, auf eine ganz bestimmte Art und Weise gehalten wird, wie es eigentlich nur speziell ausgebildete Einsatzkräfte machen, sicherlich aber nicht ein 20-jähriger Rekrut. Oder auch die Autopsie, deren Ergebnis erst vier Monate nach den Ereignissen bekannt gegeben wurde: Aus ihr geht hervor, dass der Körper von Carlo, abgesehen von der Schusswunde, keinerlei schwere Verletzungen aufweist - und das obwohl viele Zeugen erklärten und Fotos untermauern, dass der Jeep, in dem die Polizisten saßen, gleich zwei Mal über den am Boden liegenden Jungen hinweg gerollt ist. Die Mutter: »Ich weiß nicht, wer meinen Sohn getötet hat. Im Gegensatz zum Staatsanwalt habe ich viele Zweifel. Man hat uns einfach zu viele Lügen erzählt. Carlo ist von demjenigen getötet worden, der auf den Abzug gedrückt hat. Aber auch von denen, die die öffentliche Ordnung in jenen Tagen in Genua unverantwortlich und kriminell gehandhabt haben, von denen, die am Reißbrett beschlossen haben, die Bewegung der Globalisierungsgegner niederzuknüppeln. Ich werde mich niemals mit dieser Mauer aus Stillschweigen abfinden können, die man um die direkten und die politisch Verantwortlichkeiten für den Mord an Carlo errichten will.« Offensichtlich ist aber weder die Regierung noch die Justiz an der Wahrheit über die Ereignisse 2001 in Genua interessiert. Erst vor kurzem hat die Regierungsmehrheit im Parlament abgewehrt, dass ein Untersuchungsausschuss mit weitgehenden Befugnissen eingerichtet wird.
Um die Verwandten und Freunde von Carlo Giuliani hat sich eine außerordentliche Solidaritätsbewegung entwickelt. Das Besondere daran ist in erster Linie, dass sie völlig spontan begonnen hat, mit Mundpropaganda, über das Internet und zumindest am Anfang ohne die Unterstützung großer Organisationen oder Institutionen. Haidi Gaggio: »Uns hat der enorme Zuspruch von zahlreichen ehrlichen Menschen umgeben, die nie an die Lügen geglaubt haben, die einen entrüsteten Jungen gesehen haben, der versucht hat, sich einer großen Gewalt zu widersetzen. In Italien und in anderen Ländern. So wollten wir unseren Ohren kaum trauen, als man uns erzählt hat, dass der Name von Carlo auf vielen Mauern steht, von Spanien bis Litauen, dass man sich in Chiapas und im Urwald des Amazonas an ihn erinnert. Jugendliche auf der ganzen Welt haben bei den italienischen Botschaften protestiert, haben sich an das Europaparlament gewandt oder sind wegen der Misshandlungen in Genua vor den Gerichtshof in Strasbourg gezogen. Uns hat diese enorme Solidarität verwundert, weil wir sie nicht erwartet haben. Und wenn sich einige nicht geäußert haben, so hat uns das nicht verletzt, eben weil wir ja im Grunde nichts erwartet haben.«

Die Verzweiflung ins Positive gekehrt
Carlos Mutter ist nicht verbittert. Sie und andere haben ihre Verzweiflung immer ins Positive gekehrt, oder es zumindest versucht: Bei der großen Veranstaltung der Globalisierungsgegner in Florenz im letzten Jahr ist die schmale Frau auf die Tribüne gestiegen und hat dort vor über einer Millionen Menschen geredet: »Ich bin eigentlich furchtbar schüchtern, und da ich befürchten musste, dass mir die Stimme versagt, habe ich mir einfach einen dicken Schal umgebunden und gesagt, ich hätte Halsschmerzen. So ist meine Panik nicht so aufgefallen«, sagt sie mit einem schwachen Lächeln. Jetzt versucht sie, mit anderen ein Netzwerk zu schaffen, um die vielen ungeklärten Morde mit offensichtlich politischem Hintergrund aufzudecken, die es in den letzten 40 Jahren in Italien gegeben hat: »Wir haben verschiedene Komitees und Vereinigungen zusammengefasst, die nach den "Staatsmassakern", den faschistischen und Mafiamorden entstanden sind, bei denen die Ordnungskräfte, die Justiz oder die Geheimdienste verschleiert, falsche Fährten gelegt oder verhindert haben, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Wir wollen Informationen austauschen, sichtbarer werden, nicht mehr allein sein. Wir werden diese Fälle nie zu den Akten legen.«
Anlässlich des zweiten Todestages finden in Genua aber auch in anderen Städten eine Vielzahl von Initiativen statt - ein »Fest für das Leben«, heißt es im Programm. »Wir wollen das Recht auf Leben aller unterstreichen«, sagt Haidi Gaggio. »Für die jungen Menschen, die kommen werden. Wir wollen nach vorne blicken. Wenn wir weiter über Carlo sprechen, dann nicht, weil es ihm nutzt - ihm nutzt überhaupt nichts mehr. Und uns nutzt es auch nicht, da wir ihn nie wiedersehen werden. Aber wenn man für die Wahrheit kämpft und angesichts der Lügen nicht klein beigibt, dann kann man vielleicht verhindern, dass die Geschichte sich wiederholt. Noch ein...

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