Tour de Tortur: Leiden macht Helden
Gestern war bei der Tour de France Ruhetag. Heute gehts mit dem Bewundern und Bedauern weiter
Nach der 15. Etappe vom Montag war gestern bei der Tour de France Ruhetag. Noch fünf Tagesabschnitte stehen den Rennern bis zum Ziel in Paris bevor. Von 198 Fahren sind noch 151 im Rennen. Die Tour de France ist eben auch eine Tour de Tortur.
Fußballer sind Leistungssportler. Das behauptet der durchschnittliche Profi jedenfalls, wenn er auf seine Hunderttausend-Euro-Monatsgage angesprochen wird. Natürlich ist Fußball anstrengend. Doch als wirklich hart wird man dieses Sport-Spiel und seine Protagonisten wohl nicht bezeichnen können. Zu geläufig sind da auch die Bilder von den »Schwalben«, die theatralischen Schmerzensschreie und die so genannten Vollprofis, denen nach 60 Minuten die Puste ausgeht. Ein völlig anderes Bild bei den Radsportlern. Zwar sehen sie meist schmächtig aus. Die dünnen, sehnigen Arme haben hauptsächlich eine Stützfunktion. Da braucht es keine mächtigen Bizeps. Kletterspezialisten verfügen über eine langfaserige Beinmuskulatur. Auch die wirkt klein, schmal und schmächtig. Wenn dann noch vergleichsweise gewaltige Adern aus dem Gewebe hervortreten, die wichtig sind für eine reichliche Blut- und Sauerstoffzufuhr, dann glaubt man sich nicht dem antiken Sportlerideal gegenüber, sondern allenfalls einer biotechnischen Spezialapparatur. Doch die ist immens leistungsfähig. Mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 36,75 km/h preschen diese menschlichen Sonderanfertigungen den 2645m hohen Galibier hinauf und anschließend noch zur Skistation nach Alpe d`Huez. Ebenfalls hinauf. Und nicht im Sessellift. Vom Vortag haben sie bereits 230 km Anfahrt in die Alpen, darunter einen 14 km langen Anstieg mit 7-prozentiger Steigung auf 1619 m in den Beinen. Zurückgelegt wurde diese Strecke mit 37,78 km/h. Dieses Tempo erreicht beispielsweise der gewöhnliche Berliner Prenzlauer-Berg-Fahrradfahrer nur dann, wenn er den »Berg« in Richtung Alex hinunterbraust. Die Leistungen der Teilnehmer der Tour de France erheben sich über anderen sportlichen Anstrengungen wie der Mont Ventoux über die Hügelkette der Provence: unheimlich, drohend und auch faszinierend. Vor allem aber ohne wirkliches Pendant. Man könnte den »Iron Man« im Triathlon heranziehen. Immerhin fahren die »eisernen« Männer 180 km mit dem Rad, sie laufen eine Marathonstrecke und schwimmen 3,5 Kilometer. Doch dann ist auch schon Schluss. Die Tour de France mit ihren 20 Etappen ist - konservativ gerechnet - mindestens sechs Mal ein »Iron Man« hintereinander. Umrechnungen sind schwierig. Olaf Ludwig, 1990 Sprintkönig der Tour und jetzt Telekom-Sprecher, will keinen Vergleich wagen. »Wir wissen, wie hart das ist. Doch wenn wir Beispiele bringen, werden wir oft missverstanden.« Es bleibt also nur noch der Weg zur Sportwissenschaft, zu Watt-Tabellen. Können Sie sich an Ihren letzten Kraft-Ausdauer-Test erinnern - Liegestütz, Klimmzüge, Rumpf- und Kniebeugen etwa? Geben Sie alles, halten Sie die Übungen ungefähr eine Stunde durch und multiplizieren Sie die Leistung im Geiste mit dem Faktor 5,5 (ca. fünfeinhalb Stunden dauert eine Bergetappe bei der Tour de France). Stellen Sie sich dann noch vor, Sie hätten zusätzlich einen Sack von der Schwere ihres Körpergewichts auf den Rücken geschnallt. Dann hätten Sie es geschafft, einmal zu sein wie Jan Ullrich. Wie ein Jan Ullrich an schlechten Tagen. Diese Tour de France scheint härter als die vorhergehenden. Kein Favorit ist stark genug, die bunte Schlange der Pedaleure zu kontrollieren. Von Beginn an ritten einzelne Desperados Attacken. In den Bergen wurde Lance Armstrong von einem halben Dutzend Fahrern entzaubert. Beim Spurt ging es nervös wie nie zu. Stürze waren die Folge. Mit Knochenbrüchen und tiefen Risswunden schieden Fahrer aus. Andere machten weiter. Der kleine Franzose Jimmy Casper fuhr mit Halskrause in die ersten Berge. Tyler Hamilton setzt trotz eines Schlüsselbeinbruchs die Tour fort, hielt sich bis zum gestrigen Ruhetag auf Gesamtplatz 7! »Ich konnte es am Abend nach dem Sturz nicht über die Lippen bringen, dass ich aus der Tour aussteige«, erinnert er sich. Die zerbrochenen Knochen getaped, von Teamkollegen umringt, fuhr der Amerikaner die Flachetappen. Er war (nach Aussage von Betreuern) Bester seines Teams CSC im Mannschaftszeitfahren und griff in den Alpen sogar Armstrong an. Auch wer nicht so schwer auf die Straße geknallt ist wie Hamilton, ist durch Unfälle beeinträchtigt. Micchele Ferrari, von Dopinggerüchten umwehter, von seinem Klienten Armstrong als »weltbester Experte« gefeierter medizinischer Guru, verweist auf Folgeschäden an Muskeln und Gelenken, wenn man die verletzten Regionen schützt und dafür andere Teile des Körpers überbelastet. Hamilton, der noch immer Kurs auf seine beste Tour hält, zahlt mittlerweile den Preis. Die Schmerzen in der Schulter werden geringer, wegen der schiefen Sitzposition auf dem Rad wird jedoch der Hintern eine einzige Wunde. Zudem hat sich ein Nerv eingeklemmt. Erschwerend kommt die Hitze hinzu. Sie stand zwei Wochen lang nicht nur wie eine heiße Wand da. Sie sprang wie ein Höllentier die Fahrer an und legte sich schwer auf Kopf und Rücken. Die Flüssigkeit, die ausgeschwitzt wurde, konnte gar nicht wieder nachgeführt werden. Wer zu wenig trank, schwächelte. Wer zu hastig oder zu kalt trank, verdarb sich den Magen und musste aufgeben. Nur wer seinen Körper wie eine Hochleistungsmaschine behandelt, in keiner Feinjustierung fehl geht und Reserven anzapft, von denen vorher niemand ahnen konnte, vermag sich zum Protagonisten aufzuschwingen. Aber vielleicht ist es gerade der Aufenthalt in Grenzregionen, das Überstehen unermesslicher Anforderungen, was aus Männern Helden macht. Für ihre Leistung verdienen die Sportler Bewunderung. Machen wir uns aber klar, dass wir, auch wenn die Leidenschaft uns hinreißt, nicht in ihre Haut schlüpfen, wenn wir sie im Fernsehsessel sitzend vorantreiben. Auch dann nicht, wenn wir sonntags magenta- oder celestefarbene, gelbe oder rot-weiß gepunktete Kunststoffhüllen über uns ziehen und ein Rennrad spazieren fahren. Vergessen wir gleichfalls nicht, dass bereits Maurice Garin, der Sieger der ersten Tour de France, bei der zweiten disqualifiziert wurde, weil er ein Teilstück mit der Eisenbahn zurücklegte. Fleckenlos sind Heroen nur auf Denkmälern. Zu guter Letzt sei daran erinnert, dass der Ursprung der dreiwöchigen Via Dolorosa nichts anderes als der Versuch einer Auflagen- und Einschaltquotensteigerung war und ist. Mehr Leiden = mehr Hel...Zum Weiterlesen gibt es folgende Möglichkeiten:
Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.