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Es gibt (wieder) nichts zu verteilen

  • JOACHIM BISCHOFF
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Unternehmerverbände sprechen von einem Krisenjahr 1993. Gesamtmetall rechnet für die Metall- und Elektroindustrie mit einem Produktionseinbruch von vier bis fünf Prozent. Angesichts dieser zugespitzten Situation fordert Gesamtmetall-Hauptgeschäftsführer Kirchner einen Solidarpakt für Westdeutschland. Ein Kurswechsel sei geboten, wenn der rasante Abbau an Arbeitsplätzen vermindert werden soll.

Solidarität heißt für die Metall-Industriellen: Die ab April 1993 fällige nächste Stufe der Arbeitszeitverkürzung in Westdeutschland soll verschoben und die Lohnanpassungen für Ostdeutschland sollen ausgesetzt werden; rechtzeitig vor der nächsten Lohnrunde im Januar 1994 sollten die IG Metall und Gesamtmetall angesichts des Notstandes in der Branche einen Einkommens-Tarifvertrag vereinbaren, der für einen längeren Zeitraum innerhalb der allgemeinen Preissteigerungsrate bleibt. Das Motto: „Ohne Wirtschaftswachstum gibt es nichts zu verteilen.“

Die von den Unternehmen geforderte verteilungspolitische Askese müßte folgerichtig auch für den Staat gelten.

Da aber wollen die Arbeitgeberverbände Großzügigkeit gewahrt wissen. Gerade jetzt müßten die Mittel für Investitionszulagen und Exportförderung fließen. Der weitere Verlauf dieses Spiels ist hinreichend bekannt: Haben die Unternehmen dank großzügiger Finanzzuschüsse den Anschluß an die Weltmarktkonjunktur gefunden, gucken Beschäftigte und öffentliche Hand erneut in die Röhre. Wer wird denn die gerade genesene Konjunktur ruinieren wollen? Um den Wirtschaftsstandort Deutschland zu sichern, sind erneut öffentliche Zuschüsse und lohnpolitische Bescheidenheit gefordert.

Seit Jahren inszenieren die Unternehmerverbände dieses moderne Trauerspiel recht er-

folgreich. Die Lohnabhängigen kommen nie zum Zuge .und,«.„sind, .doch beständig schuld an der nachlassenden Konkurrenzfähigkeit und dem beträchtlichen Verlust an'Arbeitsplätzen. Im Grunde müßte dieses Land froh sein, daß sich immer noch risikofreudige Menschen finden, die sich der wenig einträglichen Sisyphusarbeit unternehmerischer Kapitalanlage unterziehen.

In der Krise gibt es nichts zu verteilen und bei guter Konjunktur ist Rücksicht auf die Wettbewerbsfähigkeit angesagt. Und woher kommt die wachsende Schieflage in der Vermögensverteilung? In kaum einem anderen kapitalistischen Staat sind Besitztitel und Vermögen bei einem so kleinen Teil der Bevölkerung konzentriert wie in der BRD.

Aber auch hierfür haben die Interessenvertreter von BDI und BDA eine Antwort parat: Wahrscheinlich gehen die leidgeprüften Unternehmer eben viel sparsamer mit ihren geringen Erträgen um und

bringen es daher zu etwas, wohingegen die Lohnabhängigen im Umgang mit ihren Einkünften wenig Augenmaß ] beweisen.

Angesichts des Krisenjahres 1993 kommt die Forderung nach Solidaropfern immer hartnäckiger. In der Tat: Ohne Kurskorrektur in der Verteilungspolitik wird die Wirtschaftsflaute den Aufschwung Ost weiter verzögern. Aber keiner freue sich zu früh: Wer unter Verweis auf die gewaltige „Gerechtigkeitslücke“ Solidaropfer der Reichen verlangt, der bekommt zu hören, daß mit derlei „Systemkorrekturen“ die Fundamente der freiheitlichen Wirtschaftsordnung untergraben werden. Wie stellte doch der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Schäuble, fest: „Ohne Rücksicht auf wirtschaftliche Realitäten in Deutschland werden unter dem Vorwand sozialer Gerechtigkeit Neidkomplexe in der Bevölkerung geschürt.“ Gesundes Neues Jahr!

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