Glauben an das Sandkorn und daran, dass Gott kein Bundeskanzler ist

Eugen Drewermann über Knechte und freie Menschen, Gleichgewichte aus Notwehr sowie Politik mit der Bergpredigt

Dr. EUGEN DREWERMANN ist der populärste und meistumstrittene katholische Theologe im deutschsprachigen Raum. Dem Priester und Psychotherapeuten, 1940 in Bergkamen geboren, wurde 1991 wegen seiner kritischen Haltung gegenüber klerikalen Dogmen die kirchliche Lehrerlaubnis entzogen. Seine Bücher sind in Millionen Exemplaren verbreitet, u.a. »Psychoanalyse und Moraltheologie«, »Das Eigentliche ist unsichtbar« und eine tiefenpsychologische Deutung von Grimms Märchen. Er lebt - bescheiden, gleichsam von Büchern umzingelt - in Paderborn; ohne Auto, ohne Telefon, ohne Kühlschrank. Im Gespräch ein sehr ernster Mensch. Hinter der Scheuheit feiert die konsequente Konzentration aufs Wesentliche, Unalltägliche ihren stillen, selbstbewussten Triumph.

ND: Herr Drewermann, fühlen Sie angesichts des Zustandes unserer Welt ein Verzweifeln, bei dem Sie vielleicht sogar durch die Macht des Unglaubens bedrängt werden?
Drewermann: Nein. Wenn Sie mich als religiösen Menschen fragen, haben die Gründe zum Glauben eher zugenommen. Die Religion selbst löst sich derzeit von ihren falschen dogmatischen und magischen »Nutzanwendungen« für Staat und Gesellschaft. In diesen Feldern wird sie ersetzt von Wissenschaft und Technik; doch desto mehr hilft sie Menschen, von den eigenen Fehlidentifikationen Abstand zu nehmen. Die Gründe zum Glauben lösen sich mehr und mehr von unlauteren Verflechtungen.

Also etwa auch von der Verflechtung mit dem Willen, die Welt fortschrittlich zu richten?
Mir scheint der Glaube nicht tauglich dafür zu sein, eine Art von Geschichtsphilosophie oder Soziologie zu erstellen und also behilflich zu sein, den Verlauf der Welt erklären zu wollen. Der Glaube ist eher das unabdingbare Instrument, sich selbst als Mensch durchzuhalten. Religion sollte die Stelle markieren, an der man einen Menschen nicht fragt, wozu er nützlich ist und was man mit ihm machen kann, sondern was er für ein Mensch ist.

Worin sehen Sie den qualitativen Unterschied zwischen politischem und religiösem Denken?
Ein Politiker macht einen entscheidenden Fehler, wenn er die Verhältnisse der Macht und die Pragmatik seines Programms nicht auf den greifbaren Erfolg, möglichst in den nächsten vier Jahren, kalkuliert. Dagegen würde ein Mensch religiös alles falsch machen, wenn er in diesem äußeren Sinne Erfolg haben wollte. Religiös heißt: gerade zu stehen und die paar Dinge, die man als Wahrheit für sich erkennen kann, unverzüglich zu leben.

Das können und sollten auch nichtreligiöse Menschen.
Ja, natürlich, wobei die Frage ist, was man unter Religion versteht. Es gibt ein gutes Sprichwort: »Der eine fragt: Was folgt daraus? Der andere: Ists recht?/ Und also unterscheidet sich der freie Mensch vom Knecht.« Dieser Unterscheidungswille hat mit Glauben zu tun, mit einem Vertrauen in etwas, das sich einer rein geschichtlichen Erfolgskalkulation entzieht. Das verstehe ich unter einem gelingenden Leben: Es enthält die absolute Dimension von Existenz, gleich wie man sie definiert.

Dinge, die einem klar sind - wird es nicht immer schwieriger, sie in einem politischen Raum des Niedergangs zu leben, der uns schier unabwendbar umfängt?
Ich glaube nicht, dass es schwieriger geworden ist, Menschlichkeit zu leben - vorausgesetzt, wir lassen uns nicht vollkommen verwirren. Denn freilich sprechen die äußeren Umstände für das, was Sie sagen. Ich entsinne mich eines Gedankens, den Albert Camus bereits 1952 in seinem wichtigen Essay »Der Mensch in der Revolte« äußerte: Angesichts einer grassierenden Rechtfertigung von allem, was zum Machterhalt und zur Machtdurchsetzung nützlich, also auch notwendig scheint, sitzt heute die Unschuld auf der Anklagebank und muss sich vorwerfen lassen, dass sie nicht genug getötet habe. Mit genau diesem Argument versucht man uns derzeit in immer neue militärische Abenteuer hineinzureden. Nachdem wir in Deutschland jahrelang als Lektion des Zweiten Weltkriegs begriffen zu haben glaubten, dass von deutschem Boden nie mehr Krieg ausgehen dürfe, schließen wir uns jetzt US-Eroberungsplänen an, für die humane Zwecke rein propagandistisch vorgeschützt werden. Und es findet keine prinzipielle Debatte mehr darüber statt! Das ist in meinen Augen erschreckend. Aber dass wir allein deshalb nicht klarer sehen könnten, kann ich trotzdem nicht annehmen. Wir hatten im Vorfeld des Irak-Krieges auf den Straßen und Marktplätzen Deutschlands, ja sogar des gesamten westlichen Europas eine ungeahnt intensive Aufwallung der totgeglaubten Friedensbewegung ...

Am Ende schien der Protest aber umsonst gewesen zu sein.
Auch das stimmt. Wir leben offensichtlich nicht mehr in einer Demokratie, deren Entscheidungen wir mit beeinflussen könnten oder sogar sollten. Wir werden von Marionetten ganz anderer Interessenssphären regiert. Dennoch gibt es immer wieder einfache und wunderbare Klarstellungen. Ich glaube, es war im Februar dieses Jahres in Los Angeles - bei den Marines brüllte ein Sergeant martialisch den jungen Soldaten Steven Funk an: Töte, töte, töte! Der Soldat drehte sich um und erwiderte: No, Sir! In so einem Fall wird man als ehrlos aus der US-amerikanischen Armee entlassen. Aber was für eine Haltung! Ich glaube an solche Sandkörnchen im Getriebe.

Statt Friedensbewegung Hoffnung auf das, was von Weltveränderung geblieben ist: der einzelne friedfertige Mensch?
Das ist zweifellos der unerlässliche Beginn von allem; nur gibt es die logischen Ebenen zu unterscheiden. Krieg etwa ist kein individuelles Programm. Die Kirchen höre ich zum Beispiel alle Weihnachten davon reden, dass der Frieden in der Seele jedes Einzelnen beginnt, im Kreise der Familien. Das alles ist eine sehr appetitliche Theologie, aber ganz sicher noch kein Beitrag zum Frieden in der Welt. Wohl ist es wahr: Friede hat eine existenzielle, psychische, individuelle Komponente, wie soll es anders sein. Aber Krieg ist demgegenüber nicht die Summation von Privatpathologien und Individual-Sadismen. Es sind doch meist sehr friedfertige Menschen, die da töten - sie müssen unter Zwang und Kommando ja erst einmal dahin gebracht werden, Killer zu sein und schließlich sogar stolz darauf zu werden, andere Menschen wie im Reflex umbringen zu können.

Indem man ihnen suggeriert, ihr Morden stünde für das prinzipiell Gute?
Ja. Krieg ist nur möglich, indem man menschlich universell gültige Begriffe propagandistisch für den eigenen Gruppenegoismus fraktioniert und verabsolutiert. Die Frage ist nur, warum wir immer wieder bereit sind, wie Schafe mitzumachen und jede Lüge zu glauben. Kriegsgünstig ist alles, was der Entfaltung der Persönlichkeit gesellschaftlich und sozial komplex im Wege steht und was sich letztlich als Staatsautorität ungehemmt auf die eigene Seele legt. Bei der Mündigkeit und Widerstandsfähigkeit des Einzelnen muss angesetzt werden, um zu einer neuen Weltpolitik zu kommen.

Sie haben in dem Zusammenhang immer wieder betont, wir müssten den Begriff der Verantwortung neu definieren.
Wir haben unter Verantwortung, etwa gegenüber dem eigenen Volk, bisher immer nur verstanden, dass wir - schlimmer als jeder denkbare oder erfindbare Feind - bis zu den Zähnen bewaffnet zu sein haben und dass wir Reichtum anhäufen müssen, alles mit dem Ziel, immer noch mächtiger, größer, reicher, stärker zu werden als jene, denen wir als Feinde die Menschlichkeit mehr oder weniger absprechen. Diese Art von Verantwortung war und ist nichts anderes als ein erweiterter Chauvinismus.

Aber wie sollen Freiheit und Gerechtigkeit zusammengebracht werden?
Sie müssen erst einmal zusammengedacht werden! Die Gerechtigkeit des Ostens war in dem Sinne keine Gerechtigkeit, dass sie auf totale, imperiale Gleichmacherei hinsteuerte - und die Freiheit in der westlichen Welt war schon dadurch fragwürdig, dass sie vor allem identisch war mit der Freiheit des Unternehmertums, des Besitzes, des Geldes. Gerechtigkeit ist etwas anderes, und Freiheit ist auch etwas anderes. Wenn George W. Bush heutigen Tags von Gerechtigkeit spricht, so meint er eine Form von internationalisierter Todesstrafe weltweit, und er selber wähnt sich als der Welt oberster Gerichtsherr. Auch das hat weder mit Freiheit, noch mit Gerechtigkeit, noch mit Verantwortung zu tun. Die Frage ist, wie wir der Not anderer Menschen und Völker in freier Verantwortung gerecht werden könnten - statt unsere eigenen Interessen in göttliche Ziele umzulügen.

Gibt die Bergpredigt eine Antwort auf diese Frage?
Offenbar bietet sie eine solche Form von Verantwortung, die im Stande ist, die Ethik der Gesinnung des Friedens mit der Ethik sozialen Engagements, mithin Freiheit und Gerechtigkeit zu vereinen.

Politiker sagen gern, mit der Bergpredigt lasse sich nicht Politik machen.
Ich glaube nicht, dass dies stimmt und dass wir uns im Sinne Max Webers mit der undialektischen Spaltung zwischen Gesinnung und Verantwortung zufrieden geben könnten. Nicht länger durchhalten lässt sich diese Scheinberuhigung einer edlen Sonntags-Gesinnung, die spätestens am Montagmorgen als Illusion entlarvt wird - wenn sich die Werktore öffnen für die oft undemokratische, erniedrigende Wirklichkeit entfremdeter Arbeit.

Wohin aber nun mit dem Zorn, wenn man sich gegenüber machtverderbter Politik letztlich - ich bleibe dabei - mehr und mehr ohnmächtig vorkommen muss? Sie immerhin sind jemand, der, sich empörend und wütend, sich in der Öffentlichkeit ausleben kann.
Ja, aber gerade deshalb nehme ich auf mich selber Einfluss und versuche immer wieder, mich zurückzunehmen ins Feld eines psychosozialen, ökonomischen und ökologischen Durcharbeitens der bestehenden Konflikte. Im Buddhismus pflegt man zu sagen, wohl gebe es Gut und Böse, doch beides habe seine Ursachen. Wo man sich bemüht, diese Ursachen zu verstehen, bleibt wenig Spielraum zum Anklagen und Herumbrüllen.

So möchten Sie auch sein?
Im Grunde hilft nur Verstehen und Geduld. So lange ich es im Gespräch mit dem einzelnen Menschen zu tun habe, glaube ich diese Einstellung durchhalten zu können. Wenn ich dann aber die Zeitung lese und sehe, wie man ganze Kontinente auseinander nimmt, wie man die tropischen Regenwälder verbrennt, wie man jeden Tag über 150 Pflanzen- und Tierarten auf Nimmerwiedersehen ausrottet, wie man 25 Millionen Aids-Kranke in Afrika gleichgültig ihrem Schicksal überlässt, dann packt mich natürlich so etwas wie eine schreiende Wut. Es ist nötig, zu artikulieren, was nicht stimmt. Doch dann gilt es, Evidenzen in Arbeit umzusetzen und Wut umzuwandeln in Mut zum Widerstand.

Als Intellektueller setzen Sie nach wie vor auf die Macht der bewusstseinsbildenden Erklärungen. Sie schreiben Bücher, halten Vorträge.
Ja. Aber ich gestehe Ihnen offen, ich würde auch dann Bücher schreiben und Vorträge halten, wenn ich zur Einsicht gelangen müsste, dass alle Schreiberei und Rederei pragmatisch keinen Zweck hat. Es muss möglich sein, mit sich identisch zu bleiben und somit am verzweifelten Zustand der Welt nicht selber zu verzweifeln. Ich bin oft glücklich zu hören, dass Menschen meine Bücher lesen wie Medikamente. Bücher sind eine Form erweiterten Dialogs. Sie machen Menschen weniger einsam.

Schreiben, Reden - das sind jene wenigen klaren Dinge für Sie, die von Ihnen unverzüglich und unbeirrt zu leben sind?
Man muss für sich selbst die Punkte erkennen, wo zum Beispiel zwischen Einsicht und Wirklichkeit eine begehbare Brücke gebaut wird. Wenn ich rede und schreibe, so sage ich mir: Es ist schon eine Menge getan, wenn ein paar Mächtige ein bisschen weniger ruhig schlafen können. Wir haben zum Beispiel auf sämtlichen Marktplätzen über ein Dreivierteljahr lang erklärt, dass die US-Amerikaner lügen - kein einziger Grund für den Krieg im Irak war stichhaltig. Doch die Proteste hatten unmittelbar keine Wirkung auf die US-Regierung. Aber siehe da, die Wahrheit spricht sich am Ende doch rum, und die Hoffnung ist noch nicht abgestorben. Bush und Blair steckten in der Klemme.

Herr Drewermann, Sie sind ein Hoffender, Glaubender. Wenn man aber alles zusammennimmt, was die Menschheit sich selber und der Erde antut, muss man nicht doch Untergangsnähe feststellen? Und diesen Untergang befürchten?
Ich denke nicht apokalyptisch, ganz im Gegenteil. Die Menschheit ist etwa vier Millionen Jahre alt. Das ist, in biologischen Zeitmaßen gedacht, nicht gerade viel. Wir stehen am Anfang unserer selbst, und dass wir die ganze Welt ruinieren würden, ist eine maßlose Überschätzung, es ist geradezu eine bodenlose Selbstüberhebung. Die Welt ist wirklich viel zu groß, als dass wir sie klein kriegen könnten.

Wenigstens uns kriegen wir aber klein.
Selbst wenn die Spezies Homo sapiens sich ausrottet, besteht der Erdball weiter. Er hat Milliarden Jahre Zeit, neue Lebensformen hervorzubringen und vielleicht sogar das Experiment intelligenten Lebens von vorne zu beginnen - vielleicht auf der Basis von Pflanzenfressern, die in ihrem Gehirn dann vielleicht nicht so viel Wahnsinn produzieren können wie ausgerechnet unsere Spezies. Wir werden uns darauf einrichten müssen, dass bei 15 Milliarden Menschen ein Gleichgewicht entsteht zwischen den Versorgungsinteressen unserer Art und dem, was wir Umwelt nennen. Aber in Wahrheit ist diese »Umwelt« ja die Wurzel unserer ganzen Existenz, und es ist ein Fehler mit fatalen Konsequenzen, anthroposophisch den Menschen in den Mittelpunkt der Weltbetrachtung zu stellen.

Die Katastrophe als Lehrmeister?
Gewiss, wir lernen aus Versuch und Irrtum. Doch viele Irrtümer können wir uns nicht mehr erlauben, und die Frage bleibt, wie viele vermeidbare Formen von Qual, Zerstörung und Opfern wir nötig haben, um zu einer erzwungenen Vernunft des Gleichgewichts von Mensch und Natur zu kommen. An dieser Stelle bin ich, wenn ich ehrlich reden darf, nicht sehr zuversichtlich. Nie haben wir tradierte Handlungsgewohnheiten ohne äußersten Zwang aufgegeben.

Wäre Freiheit des Handelns denn überhaupt möglich?
Ja. Aber dann müssten wir frei werden von der althergebrachten Gier nach Macht und Geld, und vor allem von unserer Angst mit ihrem fast paranoischen Sicherheitsbedürfnis. Ein Beispiel: Wir haben derzeit über 30 Milliarden Euro Schulden, wahrscheinlich werden es noch weit mehr, der Eichel weiß ja gar nicht, wo er überhaupt noch sparen soll. Die Entwicklung im Gesundheitswesen treibt immer mehr Menschen in den Zynismus, zu hoffen, mit 75 schon tot zu sein. Es wird vieles immer inhumaner, doch mitten in diesem Zustand haben wir 16 Milliarden Euro auf der Hand - wofür? Für den Eurofighter! Für ein überflüssiges, aggressives Waffensystem! Für diese Summe, das hat die UNO kürzlich ausgerechnet, könnten wir zwei Jahre lang die etwa 16 Millionen verhungernder Kinder unter fünf Jahren auf dieser Erde retten und ernähren. Würden wir uns entschließen, endlich die wichtigen Dinge ohne Aufschub und selbstverordnete Sichtblenden anzugehen, so hätten wir zu einem Gutteil bereits die ersehnte exemplarische Wende in der Politik.

Wird von den Rändern der Welt eine Internationale des Hasses auf uns westlich Zivilisierte zumarschieren?
Die Bildung einer solchen Internationale ist in vollem Gange.

Welchen Zusammenhang gibt es für Sie zwischen Welt-Frieden und Gesellschafts-Frieden? Die westliche Gesellschaft propagiert sich selbst als eine Ordnung mit großer friedlicher, weil freiheitlicher Potenz.
Das ist mir immer ein großes Wunder geblieben - wie es nur möglich ist, erfolgreich den Aberglauben zu züchten, man könne das aggressivste aller denkbaren Wirtschaftsformsysteme unterhalten, aber am Ende als Resultat Frieden erwarten. Womöglich wäre das der Punkt, an dem Karl Marx ein Stück weitergedacht werden muss.

Die Mehrwerttheorie?
Seine Kritik am Kapitalismus über die Mehrwerttheorie ist schön und gut, eignet sich auch immer noch für Gewerkschaftsreden - aber das wirkliche Problem liegt im Grunde in der Notwendigkeit der kapitalistischen Wirtschaft selbst, nämlich: Investitionen über Kredite vorfinanzieren zu müssen. Dadurch entsteht ein permanenter Druck auf Unternehmer, daraus erwächst die hohe expansive Effizienz, aber eben auch die strukturelle Unmenschlichkeit des Systems. In einer Wirtschaft, die wesentlich auf Konkurrenz basiert, wird es keinen Unternehmer geben, der nicht davon überzeugt wäre, zum Erhalt seiner Firma die Nachbarfirma in den Ruin treiben zu müssen. Das aber geht nur, indem er selber möglichst preisgünstig produziert. Zum einen muss er also die Rohstoffe möglichst billig einkaufen, sprich: er muss die Länder der Dritten Welt, die nur ihre Bodenschätze anzubieten haben, systematisch abkoppeln von der Entwicklung der Ersten Welt. Zum anderen muss er den Faktor Arbeit möglichst billig halten. Kapitalismus und Arbeitslosigkeit, Verelendung der Dritten Welt und Raubbau an den natürlichen Ressourcen sind nicht voneinander zu trennen. Das preiswerte schöne Auto und das billige Kotelett für den Sonntagmittagstisch - beides täuscht darüber hinweg, in welch gigantischem Maße die Gesamtkosten steigen. Indem das erwähnte Kotelett auf dem Ladentisch so preiswert zu haben ist, wird verschleiert, wie viele Millionen Tiere gequält werden müssen und was diese Quälerei ökonomisch und ökologisch für Folgen hat. Dass Meere wie die Ost- und Nordsee allein schon vom Gülleausstoß schwer geschädigt werden können. Dass die Böden auf diese Weise zerstört werden. Dass Bauern in den Ruin getrieben werden. Dass im Agrarsektor immer mehr Menschen arbeitslos werden und im Industriesektor genauso.

Rationalisierung der Produktion durch Vernichtungswettbewerb ist identisch mit Massenentlassungen?
Zu dieser Art von Wirtschaft gehört ein hohes Niveau von Arbeitslosigkeit, ja.

4,3 Millionen Menschen im Sommer, das ist ein Rekord.
Und die alle müssen von den Sozialkassen leben. Wir müssen am Ende das, was wir beim Fleischer oder Autohändler zu sparen geglaubt haben, sofort aus der anderen Tasche wieder über Steuern abführen. Nein, dieses System schafft keinen Frieden.

Verstehen Sie unter diesem Aspekt Menschen, die zum Stein greifen, zur attentäterischen Waffe?
Ich habe gerade, bevor Sie zum Interview kamen, an einem Text geschrieben, der Bilder der Evangelienübersetzung interpretiert. Zum Beispiel das Bild der Verhaftung Jesu: ein Bild aus dem 15. Jahrhundert, das diese von Ihnen aufgeworfene Frage stellt. Man sieht eine völlig entmenschlichte Soldateska. Keine Gesichter, nur Grimassen. Brutalität, Niedertracht, Sadismus sind in jede dieser Charaktermasken eingeschrieben. Jesus ist fast zusammengesunken, wie ein Stück Vieh wird er am Strick hin- und hergezerrt. Wir sehen Judas, der gerade mit dem Geldbeutel verschwindet, noch mal zurückschauend. Und Petrus? Er haut in dieser mondbeschienenen Nacht kreidebleich dazwischen, ohne zu sehen, wohin.

Er griff im Zorn zur Waffe.
Aber das Matthäus-Evangelium im 27. Kapital sagt, wer zum Schwerte greife, werde durch das Schwert umkommen. Nur immer neue Gewalt kann keine Lösung sein. Es führt uns aus der Blutmühle der menschlichen Geschichte nicht heraus, wenn man auf das Böse antwortet mit dem jeweils noch Böseren. Natürlich verstehe ich zum Beispiel die arabischen Kinder auf der Westbank, die Steine auf die israelischen Besatzungstruppen werfen, und ich finde es mehr als ungerecht zu sagen, die israelischen Soldaten hätten im Kampf gegen den Terror die Gerechtigkeit auf ihrer Seite. Aber trotzdem verfechte ich den Gedanken, dass man den eigenen Gegner daran erinnern muss, dass auch er ein Mensch ist.

Viel verlangt!
Freilich sehe ich, dass schon im gesamten 20. Jahrhundert in der Ablösephase des Kolonialismus, also wirklich nicht erst seit dem 11. September 2001, die Sprache des Terrors offensichtlich die einzige war, die die Mächtigen je zu verstehen beliebten. Welches Land der Dritten Welt wäre von einem imperialistischen Regime schon freiwillig in die Freiheit entlassen worden? Man denke nur an Kenia, Vietnam und Algerien. Doch es gab freilich auch Indiens Gandhi.

Den eigenen, unmenschlichen Gegner daran erinnern, dass er ein Mensch ist - das heißt, dass Sie von den Opfern, denen man im Leben die Menschlichkeit sozial und politisch verweigert, im Grunde erwarten, die menschlich Stärksten zu sein.
Natürlich weiß ich, dass es lange dauern kann, bis wir das gültige, beständige Beispiel dafür haben, wie Gewaltlosigkeit die Welt verändert. Der Dalai Lama versuchts, und die Chinesen ruinieren seit vierzig Jahren mit Erfolg die tibetische Kultur. Ist es da nicht eine Illusion zu denken, dass das Wasser stärker sei als der Stein? Natürlich ist das Wasser stärker als der Stein, aber wie viel Wasser muss denn fließen! Wir werden nicht tausend Jahre alt. Noch einmal: Mit Terror und Antiterrorkrieg eskalieren wir die Probleme, statt sie zu lösen.

Darf ich Sie fragen, was Sie Ihrem Gott am wenigsten verziehen haben?
Ich habe Gott nichts zu verzeihen. Ich habe endlos gelitten, seitdem ich nachzudenken begonnen habe über jene strukturelle Grausamkeit, die halt zur Natur gehört. Ich habe jene Theologen nie verstanden, die erst angesichts der Brutalität von Menschen gegen Menschen wach wurden - ja, wie sollen wir denn als Menschen sein nach dieser Art der Evolution? Schon die Grausamkeit von Tieren hat mich immer wieder nachdenklich gemacht, im Sinne Arthur Schopenhauers, und ich habe nicht begreifen können, wieso die Kirchen einen Gott lehren, dem man dankbar sein müsse für diese grausame Welt.

Ganz Verrückte erklären ja, der Teufel hätte die Welt durcheinander gebracht.
Dann wäre Gott in der Situation des Bundeskanzlers, der schöne Pläne hat, dem aber die Opposition ständig die Tour vermasselt - so einer wäre ja wohl kein Gott.

Woran kann man erkennen, dass diese Welt eine Schöpfung ist?
Ich glaube nicht, dass man dies von der Natur aus - mit den Mitteln der Naturphilosophie und der Metaphysik - überhaupt erkennen kann. Für uns Menschen ist nicht die Welt als solche das Erste, nein, entscheidend für jeden Einzelnen ist die Erfahrung von Liebe und Güte.

Und die kristallisiert sich für Sie in der Person des Jesus von Nazareth?
Ja. Sieht man die Welt aus der Perspektive von Leidenden und fragt sich, was nötig wäre, damit sie würdig leben könnten, dann gewinnt man eine Menschlichkeit, die es erlaubt, sich auch inmitten dieser gnadenlosen Natur selber zu bewahren. Und so verstehe ich eigentlich das Sprechen von Gott: Es ist eine Zielrichtung für eine vermenschlichte Lebensform, die in den Absurditäten der Welt sonst kaum durchzuhalten wäre. In dieser Welt geht die Rechnung nie auf. Es war das Problem Dostojewskis: Wie kann ein Mensch denn ein Mensch bleiben ohne Gott? Werden denn der Darwinismus und die Wirtschaftstheorie des Manchester-Kapitalismus nicht widerspruchsfrei die soziale Wirklichkeit verschlingen? Man muss über den Menschen hinaus glauben, um an den Menschen glauben zu können.

Immer wieder: der Liebe mehr glauben als dem Hass.
Erst wenn das so ist, kann ich ausgedehnt glauben, diese Welt sei von einem Gott geschaffen. Um es in einem Bild zu sagen: Sie haben etwas auf dem Tisch ausgebreitet, das Ihnen irgendwie rätselhaft vorkommt und das Sie nicht verstehen können. Wird Ihnen nun aber glaubhaft mitgeteilt, es handle sich bei dem, was Sie da sehen, um das Geschenk einer Person, die Sie sehr lieben - dann erscheint das, worüber Sie eigentlich den Kopf schütteln möchten, in Ihren Augen plötzlich ganz anders.

Man muss die Welt, im Horizont der Liebe, als Geschenk betrachten?
Ja, die Welt als Geschenk, als Ausdruck einer unbegreiflichen Liebe - dies ist die Voraussetzung, um von Schöpfung sprechen zu können.

Trotzdem: Müsste es nicht eine andere Welt geben?
Ich weiß nicht, der Philosoph Leibniz scheint Recht zu haben: An der Struktur der Welt etwas zu verbessern, kann die Konsequenz haben, dass sie kollabiert. Sie wird nicht nur nicht besser, sie hört auf, funktionsfähig zu sein. Natürlich kann ich mir eine Welt ohne zerstörerische Taifune und vernichtende Tornados vorstellen. Dann hätten wir aber nicht das planetare Windsystem und den wohltuenden Austausch von Windströmungen in der Atmosphäre und die Verteilung von Feuchtigkeit über den Globus. Bezogen auf den Einzelnen ist alles Mögliche wünschbar, bezogen auf das Ganze ist es vermutlich so am besten, wie es sich verhält.

Herr Drewermann, wofür sind Sie Ihren Eltern dankbar?
Es gibt eine Szene mit meiner Mutter, das war 1944, als ich mit ihr im Wald hinter unserem Haus Brombeeren suchte. Plötzlich dröhnten Tiefflieger über die Baumgipfel. Es war damals bekannt, dass die auf alles schossen, was sich am Boden bewegte. Es war mordsgefährlich. Ich sah, dass meine Mutter Angst hatte. Und sie wusste, dass ich das sah. Sie hätte sich jetzt hinschmeißen können, in Panik geraten. Sie sagte aber: Pflück weiter! Erstaunlich, nicht? Das ist ein wunderbares Bild. Ich bin meiner Mutter dankbar für diese Reaktion.

Und Ihr Vater?
Mein Vater, der in der Zeit, in der ich groß geworden bin, mehr auf dem Pütt war als zu Hause - er hat mich beeindruckt durch seine Geradlinigkeit. Er sagte, dass Luther »ein rechten Kerl« war, wie er sich ausdrückte, und dafür liebe ich ihn, je älter ich werde, sogar immer mehr.

Würden Sie ein Wunder nennen, dass Ihr Vater ein Unglück im Bergwerk überstand?
Ja. Es gab damals, 1947, ein schweres Schlagwetterunglück auf der Schachtanlage »Kuckuck« in meinem Heimatort Bergkamen. Mein Vater war Steiger und ist mit dem letzten Korb ausgefahren. Er war gerade in der Kaue, als die Explosion Förderkorb und Mannschaftskorb in das Gestänge des Turms schleuderte; über 440 Menschen starben, die gesamte Schicht blieb unter Tage.

Man sagt im Katholischen, der Mensch sterbe so, wie sein Sonntag gewesen sei. Wie verbringen Sie Ihre Sonntage?
Nicht anders als meine Werktage. Ich bin wirklich sehr dankbar dafür, jene Dinge tun zu dürfen, die mir sinnvoll erscheinen. Ich kann mich ausdrücken auf eine Weise, die mir gemäß ist und kenne daher keine großen Anteile an entfremdeter Arbeit. Ich glaube, das ist auch einer der Gründe dafür, dass ich noch nie wirklich krank war, und es ist ein unerhörtes Privileg, für das ich dankbar bin und das ich als Verpflichtung und Auftrag erlebe.

Sie arbeiten auch als Psychotherapeut.
Ich kann von meinen Büchern so weit leben, dass ich alle Therapiegespräche ohne Honorar durchführen kann. Viele Leute könnten gar nicht zu mir kommen, wenn sie dafür Gebühren aufbringen müssten. Das Vertrauen zwischen mir und dem jeweiligen Menschen würde vielleicht auch empfindlich gestört, wenn Geld eine Rolle spielte. So aber sind die Therapiegespräche ein wesentlicher Teil meiner menschlichen Erfahrung. Nur Verstehen und Geduld bewirken etwas Wichtiges.

Zitat Eugen Drewermann: »Man müsste eigentlich demjenigen Geld geben, der einem sein Leben erzählt.«
Es ist doch ein wunderbares Geschenk: Sie hören Menschen so zu, als würde Ihnen ein Roman vorgetragen - eben nur einer, der noch nicht zu Ende geschrieben ist und von dem man das Ende auch noch gar nicht kennen kann. Das macht mich glücklich.

Haben Sie Angst vor dem Tod?
Ich will es mir nicht gern zugeben.

Warum nicht?
Weil ich eigentlich denke wie der alte Epikur: Sind wir, ist der Tod nicht; ist der Tod, sind wir nicht - also geht er uns nichts an. Aber so weise bin ich keinesfalls immer. Jedenfalls glaube ich dem Neuen Testament: Frei ist ein Mensch, der es gelernt hat, durch seine Angst hindurchzugehen. Das lerne ich jeden Tag mehr.

Was halten Sie von TV-Pfarrer Fliege?
Ich war selbst schon in seiner Sendung. Innerhalb der großen Bedenklichkeit, die das Fernsehen darstellt, ist er einer der Seltenen, die sich Mühe geben, Menschen zur Sprache und zu sich selbst kommen zu lassen. Er hat wirkliches theologisches Interesse: Interesse am Menschen. Und, wie gesagt: das im Fernsehen!

Gespräch: Hans-Dieter Schütt

Sonntag, 17. August: E. Drewermann im »Weimarer Salon« des MDR-Fernsehens: »Ein Mensch braucht mehr als nur Moral« (23.20 Uhr).ND: Herr Drewermann, fühlen Sie angesichts des Zustandes unserer Welt ein Verzweifeln, bei dem Sie vielleicht sogar durch die Macht des Unglaubens bedrängt werden?
Drewermann: Nein. Wenn Sie mich als religiösen Menschen fragen, haben die Gründe zum Glauben eher zugenommen. Die Religion selbst löst sich derzeit von ihren falschen dogmatischen und magischen »Nutzanwendungen« für Staat und Gesellschaft. In diesen Feldern wird sie ersetzt von Wissenschaft und Technik; doch desto mehr hilft sie Menschen, von den eigenen Fehlidentifikationen Abstand zu nehmen. Die Gründe zum Glauben lösen sich mehr und mehr von unlauteren Verflechtungen.

Also etwa auch von der Verflechtung mit dem Willen, die Welt fortschrittlich zu richten?
Mir scheint der Glaube nicht tauglich dafür zu sein, eine Art von Geschichtsphilosophie oder Soziologie zu erstellen und also behilflich zu sein, den Verlauf der Welt erklären zu wollen. Der Glaube ist eher das unabdingbare Instrument, sich selbst als Mensch durchzuhalten. Religion sollte die Stelle markieren, an der man einen Menschen nicht fragt, wozu er nützlich ist und was man mit ihm machen kann, sondern was er für ein Mensch ist.

Worin sehen Sie den qualitativen Unterschied zwischen politischem und religiösem Denken?
Ein Politiker macht einen entscheidenden Fehler, wenn er die Verhältnisse der Macht und die Pragmatik seines Programms nicht auf den greifbaren Erfolg, möglichst in den nächsten vier Jahren, kalkuliert. Dagegen würde ein Mensch religiös alles falsch machen, wenn er in diesem äußeren Sinne Erfolg haben wollte. Religiös heißt: gerade zu stehen und die paar Dinge, die man als Wahrheit für sich erkennen kann, unverzüglich zu leben.

Das können und sollten auch nichtreligiöse Menschen.
Ja, natürlich, wobei die Frage ist, was man unter Religion versteht. Es gibt ein gutes Sprichwort: »Der eine fragt: Was folgt daraus? Der andere: Ists recht?/ Und also unterscheidet sich der freie Mensch vom Knecht.« Dieser Unterscheidungswille hat mit Glauben zu tun, mit einem Vertrauen in etwas, das sich einer rein geschichtlichen Erfolgskalkulation entzieht. Das verstehe ich unter einem gelingenden Leben: Es enthält die absolute Dimension von Existenz, gleich wie man sie definiert.

Dinge, die einem klar sind - wird es nicht immer schwieriger, sie in einem politischen Raum des Niedergangs zu leben, der uns schier unabwendbar umfängt?
Ich glaube nicht, dass es schwieriger geworden ist, Menschlichkeit zu leben - vorausgesetzt, wir lassen uns nicht vollkommen verwirren. Denn freilich sprechen die äußeren Umstände für das, was Sie sagen. Ich entsinne mich eines Gedankens, den Albert Camus bereits 1952 in seinem wichtigen Essay »Der Mensch in der Revolte« äußerte: Angesichts einer grassierenden Rechtfertigung von allem, was zum Machterhalt und zur Machtdurchsetzung nützlich, also auch notwendig scheint, sitzt heute die Unschuld auf der Anklagebank und muss sich vorwerfen lassen, dass sie nicht genug getötet habe. Mit genau diesem Argument versucht man uns derzeit in immer neue militärische Abenteuer hineinzureden. Nachdem wir in Deutschland jahrelang als Lektion des Zweiten Weltkriegs begriffen zu haben glaubten, dass von deutschem Boden nie mehr Krieg ausgehen dürfe, schließen wir uns jetzt US-Eroberungsplänen an, für die humane Zwecke rein propagandistisch vorgeschützt werden. Und es findet keine prinzipielle Debatte mehr darüber statt! Das ist in meinen Augen erschreckend. Aber dass wir allein deshalb nicht klarer sehen könnten, kann ich trotzdem nicht annehmen. Wir hatten im Vorfeld des Irak-Krieges auf den Straßen und Marktplätzen Deutschlands, ja sogar des gesamten westlichen Europas eine ungeahnt intensive Aufwallung der totgeglaubten Friedensbewegung ...

Am Ende schien der Protest aber umsonst gewesen zu sein.
Auch das stimmt. Wir leben offensichtlich nicht mehr in einer Demokratie, deren Entscheidungen wir mit beeinflussen könnten oder sogar sollten. Wir werden von Marionetten ganz anderer Interessenssphären regiert. Dennoch gibt es immer wieder einfache und wunderbare Klarstellungen. Ich glaube, es war im Februar dieses Jahres in Los Angeles - bei den Marines brüllte ein Sergeant martialisch den jungen Soldaten Steven Funk an: Töte, töte, töte! Der Soldat drehte sich um und erwiderte: No, Sir! In so einem Fall wird man als ehrlos aus der US-amerikanischen Armee entlassen. Aber was für eine Haltung! Ich glaube an solche Sandkörnchen im Getriebe.

Statt Friedensbewegung Hoffnung auf das, was von Weltveränderung geblieben ist: der einzelne friedfertige Mensch?
Das ist zweifellos der unerlässliche Beginn von allem; nur gibt es die logischen Ebenen zu unterscheiden. Krieg etwa ist kein individuelles Programm. Die Kirchen höre ich zum Beispiel alle Weihnachten davon reden, dass der Frieden in der Seele jedes Einzelnen beginnt, im Kreise der Familien. Das alles ist eine sehr appetitliche Theologie, aber ganz sicher noch kein Beitrag zum Frieden in der Welt. Wohl ist es wahr: Friede hat eine existenzielle, psychische, individuelle Komponente, wie soll es anders sein. Aber Krieg ist demgegenüber nicht die Summation von Privatpathologien und Individual-Sadismen. Es sind doch meist sehr friedfertige Menschen, die da töten - sie müssen unter Zwang und Kommando ja erst einmal dahin gebracht werden, Killer zu sein und schließlich sogar stolz darauf zu werden, andere Menschen wie im Reflex umbringen zu können.

Indem man ihnen suggeriert, ihr Morden stünde für das prinzipiell Gute?
Ja. Krieg ist nur möglich, indem man menschlich universell gültige Begriffe propagandistisch für den eigenen Gruppenegoismus fraktioniert und verabsolutiert. Die Frage ist nur, warum wir immer wieder bereit sind, wie Schafe mitzumachen und jede Lüge zu glauben. Kriegsgünstig ist alles, was der Entfaltung der Persönlichkeit gesellschaftlich und sozial komplex im Wege steht und was sich letztlich als Staatsautorität ungehemmt auf die eigene Seele legt. Bei der Mündigkeit und Widerstandsfähigkeit des Einzelnen muss angesetzt werden, um zu einer neuen Weltpolitik zu kommen.

Sie haben in dem Zusammenhang immer wieder betont, wir müssten den Begriff der Verantwortung neu definieren.
Wir haben unter Verantwortung, etwa gegenüber dem eigenen Volk, bisher immer nur verstanden, dass wir - schlimmer als jeder denkbare oder erfindbare Feind - bis zu den Zähnen bewaffnet zu sein haben und dass wir Reichtum anhäufen müssen, alles mit dem Ziel, immer noch mächtiger, größer, reicher, stärker zu werden als jene, denen wir als Feinde die Menschlichkeit mehr oder weniger absprechen. Diese Art von Verantwortung war und ist nichts anderes als ein erweiterter Chauvinismus.

Aber wie sollen Freiheit und Gerechtigkeit zusammengebracht werden?
Sie müssen erst einmal zusammengedacht werden! Die Gerechtigkeit des Ostens war in dem Sinne keine Gerechtigkeit, dass sie auf totale, imperiale Gleichmacherei hinsteuerte - und die Freiheit in der westlichen Welt war schon dadurch fragwürdig, dass sie vor allem identisch war mit der Freiheit des Unternehmertums, des Besitzes, des Geldes. Gerechtigkeit ist etwas anderes, und Freiheit ist auch etwas anderes. Wenn George W. Bush heutigen Tags von Gerechtigkeit spricht, so meint er eine Form von internationalisierter Todesstrafe weltweit, und er selber wähnt sich als der Welt oberster Gerichtsherr. Auch das hat weder mit Freiheit, noch mit Gerechtigkeit, noch mit Verantwortung zu tun. Die Frage ist, wie wir der Not anderer Menschen und Völker in freier Verantwortung gerecht werden könnten - statt unsere eigenen Interessen in göttliche Ziele umzulügen.

Gibt die Bergpredigt eine Antwort auf diese Frage?
Offenbar bietet sie eine solche Form von Verantwortung, die im Stande ist, die Ethik der Gesinnung des Friedens mit der Ethik sozialen Engagements, mithin Freiheit und Gerechtigkeit zu vereinen.

Politiker sagen gern, mit der Bergpredigt lasse sich nicht Politik machen.
Ich glaube nicht, dass dies stimmt und dass wir uns im Sinne Max Webers mit der undialektischen Spaltung zwischen Gesinnung und Verantwortung zufrieden geben könnten. Nicht länger durchhalten lässt sich diese Scheinberuhigung einer edlen Sonntags-Gesinnung, die spätestens am Montagmorgen als Illusion entlarvt wird - wenn sich die Werktore öffnen für die oft undemokratische, erniedrigende Wirklichkeit entfremdeter Arbeit.

Wohin aber nun mit dem Zorn, wenn man sich gegenüber machtverderbter Politik letztlich - ich bleibe dabei - mehr und mehr ohnmächtig vorkommen muss? Sie immerhin sind jemand, der, sich empörend und wütend, sich in der Öffentlichkeit ausleben kann.
Ja, aber gerade deshalb nehme ich auf mich selber Einfluss und versuche immer wieder, mich zurückzunehmen ins Feld eines psychosozialen, ökonomischen und ökologischen Durcharbeitens der bestehenden Konflikte. Im Buddhismus pflegt man zu sagen, wohl gebe es Gut und Böse, doch beides habe seine Ursachen. Wo man sich bemüht, diese Ursachen zu verstehen, bleibt wenig Spielraum zum Anklagen und Herumbrüllen.

So möchten Sie auch sein?
Im Grunde hilft nur Verstehen und Geduld. So lange ich es im Gespräch mit dem einzelnen Menschen zu tun habe, glaube ich diese Einstellung durchhalten zu können. Wenn ich dann aber die Zeitung lese und sehe, wie man ganze Kontinente auseinander nimmt, wie man die tropischen Regenwälder verbrennt, wie man jeden Tag über 150 Pflanzen- und Tierarten auf Nimmerwiedersehen ausrottet, wie man 25 Millionen Aids-Kranke in Afrika gleichgültig ihrem Schicksal überlässt, dann packt mich natürlich so etwas wie eine schreiende Wut. Es ist nötig, zu artikulieren, was nicht stimmt. Doch dann gilt es, Evidenzen in Arbeit umzusetzen und Wut umzuwandeln in Mut zum Widerstand.

Als Intellektueller setzen Sie nach wie vor auf die Macht der bewusstseinsbildenden Erklärungen. Sie schreiben Bücher, halten Vorträge.
Ja. Aber ich gestehe Ihnen offen, ich würde auch dann Bücher schreiben und Vorträge halten, wenn ich zur Einsicht gelangen müsste, dass alle Schreiberei und Rederei pragmatisch keinen Zweck hat. Es muss möglich sein, mit sich identisch zu bleiben und somit am verzweifelten Zustand der Welt nicht selber zu verzweifeln. Ich bin oft glücklich zu hören, dass Menschen meine Bücher lesen wie Medikamente. Bücher sind eine Form erweiterten Dialogs. Sie machen Menschen weniger einsam.

Schreiben, Reden - das sind jene wenigen klaren Dinge für Sie, die von Ihnen unverzüglich und unbeirrt zu leben sind?
Man muss für sich selbst die Punkte erkennen, wo zum Beispiel zwischen Einsicht und Wirklichkeit eine begehbare Brücke gebaut wird. Wenn ich rede und schreibe, so sage ich mir: Es ist schon eine Menge getan, wenn ein paar Mächtige ein bisschen weniger ruhig schlafen können. Wir haben zum Beispiel auf sämtlichen Marktplätzen über ein Dreivierteljahr lang erklärt, dass die US-Amerikaner lügen - kein einziger Grund für den Krieg im Irak war stichhaltig. Doch die Proteste hatten unmittelbar keine Wirkung auf die US-Regierung. Aber siehe da, die Wahrheit spricht sich am Ende doch rum, und die Hoffnung ist noch nicht abgestorben. Bush und Blair steckten in der Klemme.

Herr Drewermann, Sie sind ein Hoffender, Glaubender. Wenn man aber alles zusammennimmt, was die Menschheit sich selber und der Erde antut, muss man nicht doch Untergangsnähe feststellen? Und diesen Untergang befürchten?
Ich denke nicht apokalyptisch, ganz im Gegenteil. Die Menschheit ist etwa vier Millionen Jahre alt. Das ist, in biologischen Zeitmaßen gedacht, nicht gerade viel. Wir stehen am Anfang unserer selbst, und dass wir die ganze Welt ruinieren würden, ist eine maßlose Überschätzung, es ist geradezu eine bodenlose Selbstüberhebung. Die Welt ist wirklich viel zu groß, als dass wir sie klein kriegen könnten.

Wenigstens uns kriegen wir aber klein.
Selbst wenn die Spezies Homo sapiens sich ausrottet, besteht der Erdball weiter. Er hat Milliarden Jahre Zeit, neue Lebensformen hervorzubringen und vielleicht sogar das Experiment intelligenten Lebens von vorne zu beginnen - vielleicht auf der Basis von Pflanzenfressern, die in ihrem Gehirn dann vielleicht nicht so viel Wahnsinn produzieren können wie ausgerechnet unsere Spezies. Wir werden uns darauf einrichten müssen, dass bei 15 Milliarden Menschen ein Gleichgewicht entsteht zwischen den Versorgungsinteressen unserer Art und dem, was wir Umwelt nennen. Aber in Wahrheit ist diese »Umwelt« ja die Wurzel unserer ganzen Existenz, und es ist ein Fehler mit fatalen Konsequenzen, anthroposophisch den Menschen in den Mittelpunkt der Weltbetrachtung zu stellen.

Die Katastrophe als Lehrmeister?
Gewiss, wir lernen aus Versuch und Irrtum. Doch viele Irrtümer können wir uns nicht mehr erlauben, und die Frage bleibt, wie viele vermeidbare Formen von Qual, Zerstörung und Opfern wir nötig haben, um zu einer erzwungenen Vernunft des Gleichgewichts von Mensch und Natur zu kommen. An dieser Stelle bin ich, wenn ich ehrlich reden darf, nicht sehr zuversichtlich. Nie haben wir tradierte Handlungsgewohnheiten ohne äußersten Zwang aufgegeben.

Wäre Freiheit des Handelns denn überhaupt möglich?
Ja. Aber dann müssten wir frei werden von der althergebrachten Gier nach Macht und Geld, und vor allem von unserer Angst mit ihrem fast paranoischen Sicherheitsbedürfnis. Ein Beispiel: Wir haben derzeit über 30 Milliarden Euro Schulden, wahrscheinlich werden es noch weit mehr, der Eichel weiß ja gar nicht, wo er überhaupt noch sparen soll. Die Entwicklung im Gesundheitswesen treibt immer mehr Menschen in den Zynismus, zu hoffen, mit 75 schon tot zu sein. Es wird vieles immer inhumaner, doch mitten in diesem Zustand haben wir 16 Milliarden Euro auf der Hand - wofür? Für den Eurofighter! Für ein überflüssiges, aggressives Waffensystem! Für diese Summe, das hat die UNO kürzlich ausgerechnet, könnten wir zwei Jahre lang die etwa 16 Millionen verhungernder Kinder unter fünf Jahren auf dieser Erde retten und ernähren. Würden wir uns entschließen, endlich die wichtigen Dinge ohne Aufschub und selbstverordnete Sichtblenden anzugehen, so hätten wir zu einem Gutteil bereits die ersehnte exemplarische Wende in der Politik.

Wird von den Rändern der Welt eine Internationale des Hasses auf uns westlich Zivilisierte zumarschieren?
Die Bildung einer solchen Internationale ist in vollem Gange.

Welchen Zusammenhang gibt es für Sie zwischen Welt-Frieden und Gesellschafts-Frieden? Die westliche Gesellschaft propagiert sich selbst als eine Ordnung mit großer friedlicher, weil freiheitlicher Potenz.
Das ist mir immer ein großes Wunder geblieben - wie es nur möglich ist, erfolgreich den Aberglauben zu züchten, man könne das aggressivste aller denkbaren Wirtschaftsformsysteme unterhalten, aber am Ende als Resultat Frieden erwarten. Womöglich wäre das der Punkt, an dem Karl Marx ein Stück weitergedacht werden muss.

Die Mehrwerttheorie?
Seine Kritik am Kapitalismus über die Mehrwerttheorie ist schön und gut, eignet sich auch immer noch für Gewerkschaftsreden - aber das wirkliche Problem liegt im Grunde in der Notwendigkeit der kapitalistischen Wirtschaft selbst, nämlich: Investitionen über Kredite vorfinanzieren zu müssen. Dadurch entsteht ein permanenter Druck auf Unternehmer, daraus erwächst die hohe expansive Effizienz, aber eben auch die strukturelle Unmenschlichkeit des Systems. In einer Wirtschaft, die wesentlich auf Konkurrenz basiert, wird es keinen Unternehmer geben, der nicht davon überzeugt wäre, zum Erhalt seiner Firma die Nachbarfirma in den Ruin treiben zu müssen. Das aber geht nur, indem er selber möglichst preisgünstig produziert. Zum einen muss er also die Rohstoffe möglichst billig einkaufen, sprich: er muss die Länder der Dritten Welt, die nur ihre Bodenschätze anzubieten haben, systematisch abkoppeln von der Entwicklung der Ersten Welt. Zum anderen muss er den Faktor Arbeit möglichst billig halten. Kapitalismus und Arbeitslosigkeit, Verelendung der Dritten Welt und Raubbau an den natürlichen Ressourcen sind nicht voneinander zu trennen. Das preiswerte schöne Auto und das billige Kotelett für den Sonntagmittagstisch - beides täuscht darüber hinweg, in welch gigantischem Maße die Gesamtkosten steigen. Indem das erwähnte Kotelett auf dem Ladentisch so preiswert zu haben ist, wird verschleiert, wie viele Millionen Tiere gequält werden müssen und was diese Quälerei ökonomisch und ökologisch für Folgen hat. Dass Meere wie die Ost- und Nordsee allein schon vom Gülleausstoß schwer geschädigt werden können. Dass die Böden auf diese Weise zerstört werden. Dass Bauern in den Ruin getrieben werden. Dass im Agrarsektor immer mehr Menschen arbeitslos werden und im Industriesektor genauso.

Rationalisierung der Produktion durch Vernichtungswettbewerb ist identisch mit Massenentlassungen?
Zu dieser Art von Wirtschaft gehört ein hohes Niveau von Arbeitslosigkeit, ja.

4,3 Millionen Menschen im Sommer, das ist ein Rekord.
Und die alle müssen von den Sozialkassen leben. Wir müssen am Ende das, was wir beim Fleischer oder Autohändler zu sparen geglaubt haben, sofort aus der anderen Tasche wieder über Steuern abführen. Nein, dieses System schafft keinen Frieden.

Verstehen Sie unter diesem Aspekt Menschen, die zum Stein greifen, zur attentäterischen Waffe?
Ich habe gerade, bevor Sie zum Interview kamen, an einem Text geschrieben, der Bilder der Evangelienübersetzung interpretiert. Zum Beispiel das Bild der Verhaftung Jesu: ein Bild aus dem 15. Jahrhundert, das diese von Ihnen aufgeworfene Frage stellt. Man sieht eine völlig entmenschlichte Soldateska. Keine Gesichter, nur Grimassen. Brutalität, Niedertracht, Sadismus sind in jede dieser Charaktermasken eingeschrieben. Jesus ist fast zusammengesunken, wie ein Stück Vieh wird er am Strick hin- und hergezerrt. Wir sehen Judas, der gerade mit dem Geldbeutel verschwindet, noch mal zurückschauend. Und Petrus? Er haut in dieser mondbeschienenen Nacht kreidebleich dazwischen, ohne zu sehen, wohin.

Er griff im Zorn zur Waffe.
Aber das Matthäus-Evangelium im 27. Kapital sagt, wer zum Schwerte greife, werde durch das Schwert umkommen. Nur immer neue Gewalt kann keine Lösung sein. Es führt uns aus der Blutmühle der menschlichen Geschichte nicht heraus, wenn man auf das Böse antwortet mit dem jeweils noch Böseren. Natürlich verstehe ich zum Beispiel die arabischen Kinder auf der Westbank, die Steine auf die israelischen Besatzungstruppen werfen, und ich finde es mehr als ungerecht zu sagen, die israelischen Soldaten hätten im Kampf gegen den Terror die Gerechtigkeit auf ihrer Seite. Aber trotzdem verfechte ich den Gedanken, dass man den eigenen Gegner daran erinnern muss, dass auch er ein Mensch ist.

Viel verlangt!
Freilich sehe ich, dass schon im gesamten 20. Jahrhundert in der Ablösephase des Kolonialismus, also wirklich nicht erst seit dem 11. September 2001, die Sprache des Terrors offensichtlich die einzige war, die die Mächtigen je zu verstehen beliebten. Welches Land der Dritten Welt wäre von einem imperialistischen Regime schon freiwillig in die Freiheit entlassen worden? Man denke nur an Kenia, Vietnam und Algerien. Doch es gab freilich auch Indiens Gandhi.

Den eigenen, unmenschlichen Gegner daran erinnern, dass er ein Mensch ist - das heißt, dass Sie von den Opfern, denen man im Leben die Menschlichkeit sozial und politisch verweigert, im Grunde erwarten, die menschlich Stärksten zu sein.
Natürlich weiß ich, dass es lange dauern kann, bis wir das gültige, beständige Beispiel dafür haben, wie Gewaltlosigkeit die Welt verändert. Der Dalai Lama versuchts, und die Chinesen ruinieren seit vierzig Jahren mit Erfolg die tibetische Kultur. Ist es da nicht eine Illusion zu denken, dass das Wasser stärker sei als der Stein? Natürlich ist das Wasser stärker als der Stein, aber wie viel Wasser muss denn fließen! Wir werden nicht tausend Jahre alt. Noch einmal: Mit Terror und Antiterrorkrieg eskalieren wir die Probleme, statt sie zu lösen.

Darf ich Sie fragen, was Sie Ihrem Gott am wenigsten verziehen haben?
Ich habe Gott nichts zu verzeihen. Ich habe endlos gelitten, seitdem ich nachzudenken begonnen habe über jene strukturelle Grausamkeit, die halt zur Natur gehört. Ich habe jene Theologen nie verstanden, die erst angesichts der Brutalität von Menschen gegen Menschen wach wurden - ja, wie sollen wir denn als Menschen sein nach dieser Art der Evolution? Schon die Grausamkeit von Tieren hat mich immer wieder nachdenklich gemacht, im Sinne Arthur Schopenhauers, und ich habe nicht begreifen können, wieso die Kirchen einen Gott lehren, dem man dankbar sein müsse für diese grausame Welt.

Ganz Verrückte erklären ja, der Teufel hätte die Welt durcheinander gebracht.
Dann wäre Gott in der Situation des Bundeskanzlers, der schöne Pläne hat, dem aber die Opposition ständig die Tour vermasselt - so einer wäre ja wohl kein Gott.

Woran kann man erkennen, dass diese Welt eine Schöpfung ist?
Ich glaube nicht, dass man dies von der Natur aus - mit den Mitteln der Naturphilosophie und der Metaphysik - überhaupt erkennen kann. Für uns Menschen ist nicht die Welt als solche das Erste, nein, entscheidend für jeden Einzelnen ist die Erfahrung von Liebe und Güte.

Und die kristallisiert sich für Sie in der Person des Jesus von Nazareth?
Ja. Sieht man die Welt aus der Perspektive von Leidenden und fragt sich, was nötig wäre, damit sie würdig leben könnten, dann gewinnt man eine Menschlichkeit, die es erlaubt, sich auch inmitten dieser gnadenlosen Natur selber zu bewahren. Und so verstehe ich eigentlich das Sprechen von Gott: Es ist eine Zielrichtung für eine vermenschlichte Lebensform, die in den Absurditäten der Welt sonst kaum durchzuhalten wäre. In dieser Welt geht die Rechnung nie auf. Es war das Problem Dostojewskis: Wie kann ein Mensch denn ein Mensch bleiben ohne Gott? Werden denn der Darwinismus und die Wirtschaftstheorie des Manchester-Kapitalismus nicht widerspruchsfrei die soziale Wirklichkeit verschlingen? Man muss über den Menschen hinaus glauben, um an den Menschen glauben zu können.

Immer wieder: der Liebe mehr glauben als dem Hass.
Erst wenn das so ist, kann ich ausgedehnt glauben, diese Welt sei von einem Gott geschaffen. Um es in einem Bild zu sagen: Sie haben etwas auf dem Tisch ausgebreitet, das Ihnen irgendwie rätselhaft vorkommt und das Sie nicht verstehen können. Wird Ihnen nun aber glaubhaft mitgeteilt, es handle sich bei dem, was Sie da sehen, um das Geschenk einer Person, die Sie sehr lieben - dann erscheint das, worüber Sie eigentlich den Kopf schütteln möchten, in Ihren Augen plötzlich ganz anders.

Man muss die Welt, im Horizont der Liebe, als Geschenk betrachten?
Ja, die Welt als Geschenk, als Ausdruck einer unbegreiflichen Liebe - dies ist die Voraussetzung, um von Schöpfung sprechen zu können.

Trotzdem: Müsste es nicht eine andere Welt geben?
Ich weiß nicht, der Philosoph Leibniz scheint Recht zu haben: An der Struktur der Welt etwas zu verbessern, kann die Konsequenz haben, dass sie kollabiert. Sie wird nicht nur nicht besser, sie hört auf, funktionsfähig zu sein. Natürlich kann ich mir eine Welt ohne zerstörerische Taifune und vernichtende Tornados vorstellen. Dann hätten wir aber nicht das planetare Windsystem und den wohltuenden Austausch von Windströmungen in der Atmosphäre und die Verteilung von Feuchtigkeit über den Globus. Bezogen auf den Einzelnen ist alles Mögliche wünschbar, bezogen auf das Ganze ist es vermutlich so am besten, wie es sich verhält.

Herr Drewermann, wofür sind Sie Ihren Eltern dankbar?
Es gibt eine Szene mit meiner Mutter, das war 1944, als ich mit ihr im Wald hinter unserem Haus Brombeeren suchte. Plötzlich dröhnten Tiefflieger über die Baumgipfel. Es war damals bekannt, dass die auf alles schossen, was sich am Boden bewegte. Es war mordsgefährlich. Ich sah, dass meine Mutter Angst hatte. Und sie wusste, dass ich das sah. Sie hätte sich jetzt hinschmeißen können, in Panik geraten. Sie sagte aber: Pflück weiter! Erstaunlich, nicht? Das ist ein wunderbares Bild. Ich bin meiner Mutter dankbar für diese Reaktion.

Und Ihr Vater?
Mein Vater, der in der Zeit, in der ich groß geworden bin, mehr auf dem Pütt war als zu Hause - er hat mich beeindruckt durch seine Geradlinigkeit. Er sagte, dass Luther »ein rechten Kerl« war, wie er sich ausdrückte, und dafür liebe ich ihn, je älter ich werde, sogar immer mehr.

Würden Sie ein Wunder nennen, dass Ihr Vater ein Unglück im Bergwerk überstand?
Ja. Es gab damals, 1947, ein schweres Schlagwetterunglück auf der Schachtanlage »Kuckuck« in meinem Heimatort Bergkamen. Mein Vater war Steiger und ist mit dem letzten Korb ausgefahren. Er war gerade in der Kaue, als die Explosion Förderkorb und Mannschaftskorb in das Gestänge des Turms schleuderte; über 440 Menschen starben, die gesamte Schicht blieb unter Tage.

Man sagt im Katholischen, der Mensch sterbe so, wie sein Sonntag gewesen sei. Wie verbringen Sie Ihre Sonntage?
Nicht anders als meine Werktage. Ich bin wirklich sehr dankbar dafür, jene Dinge tun zu dürfen, die mir sinnvoll erscheinen. Ich kann mich ausdrücken auf eine Weise, die mir gemäß ist und kenne daher keine großen Anteile an entfremdeter Arbeit. Ich glaube, das ist auch einer der Gründe dafür, dass ich noch nie wirklich krank war, und es ist ein unerhörtes Privileg, für das ich dankbar bin und das ich als Verpflichtung und Auftrag erlebe.

Sie arbeiten auch als Psychotherapeut.
Ich kann von meinen Büchern so weit leben, dass ich alle Therapiegespräche ohne Honorar durchführen kann. Viele Leute könnten gar nicht zu mir kommen, wenn sie dafür Gebühren aufbringen müssten. Das Vertrauen zwischen mir und dem jeweiligen Menschen würde vielleicht auch empfindlich gestört, wenn Geld eine Rolle spielte. So aber sind die Therapiegespräche ein wesentlicher Teil meiner menschlichen Erfahrung. Nur Verstehen und Geduld bewirken etwas Wichtiges.

Zitat Eugen Drewermann: »Man müsste eigentlich demjenigen Geld geben, der einem sein Leben erzählt.«
Es ist doch ein wunderbares Geschenk: Sie hören Menschen so zu, als würde Ihnen ein Roman vorgetragen - eben nur einer, der noch nicht zu Ende geschrieben ist und von dem man das Ende auch noch gar nicht kennen kann. Das macht mich glücklich.

Haben Sie Angst vor dem Tod?
Ich will es mir nicht gern zugeben.

Warum nicht?
Weil ich eigentlich denke wie der alte Epikur: Sind wir, ist der Tod nicht; ist der Tod, sind wir nicht - also geht er uns nichts an. Aber so weise bin ich keinesfalls immer. Jedenfalls glaube ich dem Neuen Testament: Frei ist ein Mensch, der es gelernt hat, durch seine Angst hindurchzugehen. Das lerne ich jeden Tag mehr.

Was halten Sie von TV-Pfarrer Fliege?
Ich war selbst schon in seiner Sendung. Innerhalb der großen Bedenklichkeit, die das Fernsehen darstellt, ist er einer der Seltenen, die sich Mühe geben, Menschen zur Sprache und zu sich selbst kommen zu lassen. Er hat wirkliches theologisches Interesse: Interesse am Menschen. Und, wie gesagt: das im Fernsehen!

Gespräch: Hans-Dieter Schütt

Sonntag, 17. August: E. Drewermann im »Weimarer Salon« des MDR-Fernsehens: »Ein Mensch braucht mehr als nur Moral« (23.20 Uhr).

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