Probleme trotz guter Schulnoten

Selbstmord einer 19-Jährigen in Berlin brachte es an den Tag: Vietnamesische Kinder leiden unter dem elterlichen Erfolgsdruck

Als Elena Marburg, die Migrantenbeauftragte von Berlin-Marzahn, vor Jahren die Schulen ihres Bezirkes nach Problemen vietnamesischer Schüler fragte, war die Antwort sehr hoffnungsvoll. »Die Schulen sagten, dass die vietnamesischen Kinder Schüler seien, auf die man stolz sein könne«, erzählt Marburg. »So weit schreitet ihre Integration fort.« Der Bezirk im Osten der Hauptstadt gehört bundesweit zu den größten Ansiedlungsgebieten ehemaliger vietnamesischer Vertragsarbeiter. Weil Vietnamesen in der DDR keine Kinder bekommen durften und viele danach rasch ihren unerfüllten Kinderwunsch nachholten, sind vietnamesische Kinder stark in den Jahrgängen der 8 bis 13-Jährigen vertreten. Diese Jahrgänge kommen jetzt allmählich in die Pubertät. Da werden Konflikte sichtbar, die bisher übersehen wurden oder zurücktraten hinter den oft sehr guten Schulleistungen vietnamesischer Kinder. Brunhilde Krumnow ist Schulleiterin des Wilhelm von Siemens-Gymnasiums in Berlin und hat mit vietnamesischen Schülern Erfahrung. »Sie sind sehr leistungsorientiert und haben besonders in Mathematik und den Naturwissenschaften zumeist hervorragende Leistungen.« Die Erklärung dafür ist einfach: Im Herkunftsland der Eltern genießt Mathematik einen hohen Stellenwert. Eine Studie der Universitäten München und Hanoi vom vergangenen Jahr bescheinigte den Hanoier Kindern der dritten bis sechsten Klassen, dass sie ihre Münchener Alterskameraden in Mathematik um Längen überflügeln. Viele vietnamesische Eltern in Deutschland erwarten deshalb von ihren Kindern in Mathematik Leistungen, die über den deutschen Schulstoff weit hinausgehen. Fahren zehnjährige vietnamesische Kinder aus Deutschland in den Ferien nach Vietnam, dann rechnen ihnen dort Achtjährige etwas vor. Für viele Eltern eine Schande, die sie nicht hinnehmen können. Dass man in Deutschland eher und besser Fremdsprachen lernt, übersehen die Eltern, wenn sie Anforderungen an ihre Kinder stellen. Sie berücksichtigen auch kaum, dass ihre Kinder als nichtdeutsche Erstsprachler unter schwierigen Bedingungen lernen müssen. »Die meisten von ihnen halten an dem Erziehungsmuster ihres Herkunftslandes fest, ohne die veränderte Umwelt ihrer Kinder ausreichend zu berücksichtigen«, sagt Nguyen Do Thien vom Rostocker Verein Dien Hong. »Sie wollen, dass ihre Kinder gut lernen, doch sie können sie dabei nicht unterstützen. Das Einzige, was sie ihnen geben können, ist Druck.« Vietnamesische Kinder, die zum Lernen über den Schulstoff hinaus gezwungen werden und nicht spielen dürfen, sind keine Seltenheit. Der Rostocker Verein ist bereits mit den Folgen konfrontiert: vietnamesische Kinder und Jugendliche, die aus ihren Elternhäusern ausgerissen sind oder Halt in Drogen suchen. In Berlin-Marzahn hat sich im Mai eine 19-jährige Abiturientin aus dem Fenster gestürzt. Das Mädchen war sofort tot. Defizite hätten viele vietnamesische Schüler nach Angaben der Schulleiterin Brunhilde Krumnow in der Rechtschreibung, weil sie in ihrer Freizeit nicht lesen. Aus Sicht vieler Eltern ist das Lesen, sofern es sich nicht am aktuellen Lernstoff orientiert, reine Zeitverschwendung. Defizite gibt es aber vor allem im Sozialverhalten. »Sie dürfen nicht an den Arbeitsgemeinschaften und Freizeitaktivitäten teilnehmen, wo unsere Schüler quasi nebenbei Teamfähigkeit und andere soziale Qualifikationen erwerben.« Der Grund: »Sie werden von ihren Familien stark involviert. Nach Schulschluss müssen sie im Blumengeschäft der Eltern mithelfen, oder wo die Eltern sonst tätig sind.« Diese Belastung werde von ihren vietnamesischen Schülern nach Beobachtungen der Schulleiterin als eine Selbstverständlichkeit hingenommen und nicht kritisch hinterfragt. In der Abiturstufe nehmen der Druck zu guten Leistungen und die Vereinnahmung in der Familienarbeit dann bei einigen Schülern solche Ausmaße an, dass sie dem nicht mehr gewachsen sind. »Sie haben nicht mehr die Kraft, dem Unterricht zu folgen.« Werden die Fehltage zu viel, müssen sie die Schule verlassen. »Die Kinder lieben ihre Eltern. Aber gleichzeitig können sie nicht in dem Rahmen leben, den die Eltern vorgeben«, bringt Elena Marburg den Konflikt auf den Punkt. Der Rahmen heißt: Die Kinder leben, um ihre Eltern, Großeltern, andere ältere Verwandte und Ahnen stolz und glücklich zu machen. Sie müssen ihnen gute Zensuren präsentieren und zusätzlich Geld verdienen, damit die Alten in Vietnam finanziell unterstützt werden können. Ein Anspruch auf ein eigenes Leben als Kind oder Jugendlicher hat darin keinen Platz. Gemäß der konfuzianistischen Tradition genießt auch das reine Faktenlernen einen hohen Stellenwert. Kritisches Hinterfragen des Stoffes, Meinungen im Dialog erarbeiten, das wird nicht geschätzt. Wenn Kinder aber von morgens bis abends in einem Zeitrahmen leben, den Erwachsene für sie vorgeben, können sie auch später nur in einer hierarchisch strukturierten Umwelt bestehen. Sie haben nicht gelernt, eigene Aufgaben zu suchen oder eigene Probleme zu definieren und nach Problemlösungen zu suchen. Der Rostocker Verein Dien Hong hat ein Projekt aufgelegt, in dem qualifizierte vietnamesische Sozialarbeiter vietnamesische Familien aufsuchen und dort Konflikte zwischen Eltern und Kindern vermitteln. Bundesweit ist das Projekt einmalig. Es wäre aber andernorts auch nur schwer realisierbar. Weil Sozialarbeit mit Migranten im Osten jahrelang von schwer vermittelbaren unqualifizierten Langzeitarbeitslosen geleistet werden musste, fehlen qualifizierte Vietnamesen, die die Orientierungen ihrer Landsleute kritisch hint...

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