Ein Leben als Sohn
Vor dem hundertsten Geburtstag von Theodor W. Adorno
Theodor Wiesengrund-Adorno war ein glückliches Kind. Selten gibt es so etwas Ungetrübtes zwischen Eltern und Sohn. Keine Rebellion, keinen Misston. Nur eine große gegenseitige Nachsicht und verspielte Zärtlichkeiten. Noch der fast fünfzigjährige streng anmutende Theoretiker und Kopf der Frankfurter Schule schreibt seiner Mutter Briefe wie ein kleiner Junge. Der »Nilpferdkönig« (manchmal auch »Niltrottel«) an die vergötterte »Wundernilstute«. Mit dem Tod der Mutter 1952 bricht dieser herrlich energievolle Briefwechsel (»Schreibt bald an das arme Kind«) ab. Er zeigt uns den kühlen Zeit-Kritiker Adorno als das temperamentvoll-unbefangene Wunder-Kind, das er im Grunde geblieben ist. Von der Wirklichkeit immer Besseres erwartend, als sie uns zu geben vermag. Vor allem: überall Musik! Liest man die soeben bei Suhrkamp erschienenen, geradezu sensationellen »Briefe an die Eltern«, zeigt sich der Mensch im Theoretiker. Den einen müssen wir achten, den anderen dürfen wir lieben. Der Panzer der Fremdheit, den Adorno sich anlegte in einer feindlichen Welt; bei seinen Eltern legt er ihn noch als Erwachsener zutraulich ab.
Der Vater Oscar Wiesengrund, assimilierter Jude und deutscher Bürger, war zum Protestantismus konvertiert. Für die Nazis blieb er dennoch Jude, sie konfiszierten sein Weingroßhandelsgeschäft in Frankfurt (Main). Von der katholischen Mutter hatte das Kind Theodor die Liebe zur Musik, die sein Leben bestimmte - und den Namen, den er sich bei seiner Einbürgerung in die USA wählte. Maria Cavelli-Adornos Karriere als kaiserliche Hof-Opernsängerin lag bereits hinter ihr, als sie mit 37 Jahren den einzigen Sohn zur Welt brachte. Auch ihre Mutter, eine Deutsche, war bereits Sängerin gewesen. Ihr Vater, ein französischer Offizier korsischer Herkunft, stammte aus der Familie des Dogen von Genua (die Republik Genua musste Kosika wegen drohenden Staatsbankrotts an Frankreich verkaufen). So aufregend kann Familiengeschichte sein.
Schwere Emigrationszeiten lang ist für Adorno doch der engere Kreis seines Lebens intakt: Die Eltern sind da. Gerettet aus Deutschland 1939 in letzter Minute. Er selbst war mit dem von Max Horkheimer geleiteten Frankfurter Institut für Sozialforschung 1938 in die USA gekommen. Die Eltern leben die erste Zeit auf Cuba. Auf dieser Insel des Rums und später in New York, wo man schon damals vor allem Coca Cola trank, fühlte sich der Weinliebhaber Oscar Wiesengrund in einer doppelter Emigration. Mehrmals ermuntert ihn Adorno, doch ein Buch über den Wein zu schreiben, damit man auch in dieser Wüste der Weinkultur etwas über die Geschichte des Weins lernen könne. Es ist nichts daraus geworden, obwohl Adorno es beständig wiederholt: »Was meine literarische Weinidee anlangt, so halte ich sie für keine Schnapsidee.«
Der Tod der Eltern (der Vater starb 1946) schneidet Adorno endgültig ab vom glücklichen Kontinent seiner Kindheit. Das Schutz suchende Kind im Denker panzert sich nach außen - mit Distanz. Sein Stil gilt als schwierig, der Verdacht steht im Raum, er wolle gar nicht für jeden verständlich sein. Der deutsche Universitätsbetrieb der Weimarer Republik hatte es Adorno allzu schwer gemacht; seine Habilitation wurde mit vorgeschobenen Gründen abgelehnt. Erst mit Hilfe von Paul Tillich und Horkheimer gelingt es, den nonkonformen Denker durch das akademische Sperrfeuer hindurchzubringen. Schon 1933 war ihm wegen seiner jüdischen Herkunft die Lehrerlaubnis wieder entzogen worden. Ebenso vergeblich bewirbt sich Adorno als Musikkritiker bei einer Zeitung, obwohl er sich als origineller Deuter der neuen Musik von Bela Bartók, Alban Berg bis Schönberg bereits einen Namen gemacht hatte. Adornos Vertrauen in die Wahrnehmungsfähigkeit seiner Umwelt bleibt danach lebenslang schwer gestört.
Amerika bietet Schutz, aber dennoch ist er schnell amerikamüde: »Dies ist das Land der Marktschreier.« Ein großer Geist ist auch groß in seinen Irrtümern. Adornos in den Eltern-Briefen nachlesbare politische Fehlprognosen sind zahlreich (»Die Blitzkriegspraxis wird im Westen nicht funktionieren«). Jedoch, der Philosoph bietet auch gleich die Erklärung dafür, dass sich Wirklichkeit immer anders verhält, als man von ihr erwarten könnte: »Aber die Welt ist so dialektisch geworden...«
Die großen Theorie-Entwürfe, die »Negative Dialektik« oder die »Ästhetische Theorie« sind sperrige, fast hermetische Texte, von denen man fast denkt, der Autor schere sich keinen Deut darum, ob seine Leser ihn auch verstehen. Aber es gibt auch die kleinen Aufsätze, etwa die »Noten zur Literatur«, die geradezu aphoristischen Miniaturen der »Minima Moralia«, den Schlüsseltext »Der Essay als Form«, den »Versuch über Wagner« oder die »Philosophie der Neuen Musik«. Was er in »Der Essay als Form« schreibt, ersetzt ganze Abhandlungen. Es ist die Wiederaufnahme der romantischen Tradition des Fragments als Mittel der Selbstvervollkommnung unter den Bedingungen der verwalteten Welt. Eines Kapitalismus, in dem Adorno immer schon die Tendenz zum Faschismus angelegt sieht.
Kritik ist ihm dabei ein Zurücklassen des bloßen Augen-Scheins, ein Über-das-Gesehene-hinaus-Denken. Adorno, der die empirische Sozialforschung etabliert, weiß zugleich, alles Denken des Neuen ist auch ein Sichtbarmachen von Möglichkeiten in der Wirklichkeit. Es ist die Position des Denkers als Warner, der um Untergang und Rettung als den zwei Wegen aus der Krise der Zivilisation gleichermaßen weiß. Der Ausweg, den Adorno wählt, ist der des Experiments, eine geistig-literarische Versuchsanordnung: »Die Aktualität des Essays ist der Anachronismus. Die Stunde ist ihm ungünstiger als je. Er wird zerrieben zwischen einer organisierten Wissenschaft, in der alle sich anmaßen, alle und alles zu kontrollieren, und die, was nicht auf Consens zugeschnitten ist, mit dem scheinheiligen Lob des Intuitiven oder Anregenden aussperrt; und einer Philosophie, die mit dem leeren und abstrakten Rest dessen vorlieb nimmt, was der Wissenschaftsbetrieb noch nicht besetzte und was ihr eben dadurch Objekt der Betriebsamkeit zweiten Grades wird.« Adornos Kritik an der »verwalteten Welt«, der »instrumentellen« (also instrumentalisierten) Vernunft ist schneidend. Seine 1966 geschriebenen »Meditationen zur Metaphysik« (ein Baustein der »Negativen Dialektik«) haben nichts mit Tagespolitik, jedoch viel mit den Jahrhundertzusammenhängen europäischer Geistesgeschichte zu tun.
Will man Adorno zu seinem bevorstehenden hundertsten Geburtstag gerecht werden, dann muss man ihn wohl als einen gänzlich illusionslosen Verteidiger des Geistes begreifen, balancierend auf der Klinge der Massenkultur. So wenig wie Adorno das Geistige in der Kultur aufgeben wollte, so wenig bedeutete vielen seiner politisierten Studenten dieser Geist. Welten trennen Adorno von jenen linken Politik-Aktionisten, denen er erst zur Ikone und dann zum Feindbild wurde, als er sich dem ideologischen Eingetaktet-Werden strikt verweigerte und auf seiner Position des distanzierten Beobachters und Bedenkers beharrte. Im Frühsommer 1969 sprengten Polit-Aktivisten seine Vorlesung. Wozu über das Metaphysikproblem bei Kant nachdenken, wenn man auch unter simplen Losungen demonstrieren gehen kann? Adorno wusste, da lauert die Infantilitätsfalle. Auf bloß guten Willen gab er nichts. Als radikale (Nicht-)Studenten schließlich sein Institut besetzten, rief er die Polizei. Notwehr eines Denkers, der den Geist überall - und auch mit fragwürdigen Mitteln - verteidigt.
Niemals war Adorno ein Denker der politische Revolte wie Herbert Marcuse. Die »Negative Dialektik« zog die konsequent-skeptische Konsequenz aus der Unmöglichkeit jeder positiven Geschichtsverheißung. Alle Aufklärungs-Absichten unterliegen für ihn einer realen Dialektik; in jeder Frohbotschaft ist schon die Untergangsdrohung enthalten. Geschichte versteht er als einen Prozess, der sich von Unheil zu Unheil wendet. Einen Ausweg - die Versöhnung einer Spätkultur mit den eigenen Ursprungsabsichten - sieht Adorno allein in der »Ästhetischen Theorie«, seinem großen unvollendeten Spätwerk. Aber die radikale Linke verzieh ihm den Ruf nach der Staatsmacht nicht. Im Sommer 1969 starb Adorno an Herzversagen.
Gerhard Schweppenhäuser hat in seiner lesenswerten Adorno-Einführung das Eingangskapitel überschrieben: »Der Versuch, die Kindheit verwandelnd einzuholen«. Das blieb ein unausgesprochenes Programm bei Adorno, der jeden Anschein einer Reise nach Utopia (Bloch!) vermieden sehen wollte. Aber im Hintergrund stand doch die Sehnsucht nach den glücklichen Anfängen. Sie ist es, die im Zeit-Kritiker Adorno immer auch den andächtigen Bewunderer bewahrt. Wenn je eine Philosophie aus dem Geist der Musik hervorgegangen ist, dann die Adornos. Das Nietzsche-Wort: ohne Musik sei das Leben ein Irrtum; Adorno hat es tief verinnerlicht. Es macht Vergnügen, Adornos »Briefe an die Eltern« zu lesen, ebenso die bislang unbekannte Dokumente anschaulich versammelnde große Bildmonographie des Suhrkamp Verlages. Ein ähnliches Vergnügen wohl wie dem jungen Adorno die Lektüre von Kants »Kritik der reinen Vernunft« unter Anleitung des Feuilletonisten Siegfried Kracauer, über den er später schrieb, er übertreibe nicht, wenn er sage, bei ihm mehr gelernt zu haben als bei seinen akademischen Lehrern.
Seinen Eltern berichtet Adorno auch ganz unverblümt, wie er andere Emigranten erlebt. An manchem Streit ist er selbst nicht unschuldig. Da ist etwa »die Sache« mit Ernst Bloch. Der hatte an Adorno geschrieben, mit der Bitte um finanzielle Unterstützung durch das Institut für Sozialforschung. Begründet hatte er sein Anliegen damit, dass er seinen Job als Tellerwäscher (!) verloren habe (man kolportierte im Emigrantenkreis, er sei zu langsam gewesen) und packe nun Pakete. Statt der erhofften diskreten Hilfe durch den ewigen Konkurrenten setzt Adorno jedoch in den »Aufbau« einen Spendenaufruf für Ernst Bloch, was diesen zutiefst erbittert. So geht es unter Deutschland emigrierter Geisteselite zu wie im Mädchenpensionat: Klatsch, Missgunst, Kaffeesatzlesen.
Ende 1941 war Adorno von New York zu Horkheimer nach Kalifornien übersiedelt. Adornos Nachbarn sind Thomas Mann, Eisler, Brecht, Fritz Lang und Ludwig Marcuse. Er begegnet auch Chaplin, Alexander Granach - und vielen Schauspielerinnen, deren Hauptvorzug ihre Schönheit gewesen sein muss. Dieser Enthusiasmus schlägt sich in seinen Briefen nieder. Er schwärmt von der jungen Anti-Hollywood-Diva Luise Rainer (heute uralt aber immer noch hinreißend!), um gleichzeitig zu sagen, dass ihm ihre Eltern gar nicht gefallen haben. Adorno, so versichert er eilig der »Wundernilstute«, hat eben doch die besten Eltern von der Welt. Es erbost ihn wie einen pubertierenden Schüler, als er erfährt, dass in Italien der Mob Mussolinis Geliebte (eine Schauspielerin) gelyncht hat: »Die Rache des Volkes scheint sich stets weniger gegen seine Unterdrücker als gegen schöne Schauspielerinnen zu richten - aus Sexualneid.«
1949 kehrt Adorno als Professor nach Frankfurt zurück. Nach außen hin ein Triumph. Innerlich für den Künstler von Naturell eine Last, an der er zerbrechen muss. Kritik - diese Zentralmetapher seines Werks -, der Wille, alles selbst zu prüfen, verlangt den eigenen Lebens-Ausdruck. Für Adorno, den erst akademisch ausgestoßenen, dann akademisch gefesselten, ist das der Essay. Das träumende und musizierende Kind im Denker, seiner Eltern als innerer Schutzmacht beraubt, wird unheilbar melancholisch. Unwiderruflich vorbei die Zeit, als er so übermütig wie 1940 an seine Mutter schreiben konnte: »Ich bete zur großen Nilsau.«
Theodor W. Adorno: Briefe an die Eltern 1939-1951. Hrsg. v. Chr. Gödde und H. Lonitz, Suhrkamp, 576S., geb., 39,90.
Adorno - Eine Bildmonographie. Hrsg. vom Adorno-Archiv, Suhrkamp, 309S., brosch., 24,90.
Gerhard Schweppenhäuser: Theodor W. Adorno zur...
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