Jagd auf die »Fünfte Kolonne«

Neues zu einem Geheimbrief und Stalins letztem Schlag

  • Fred S. Oldenburg
  • Lesedauer: 7 Min.
Überraschend verstarb am 31. August 1948 der für Kultur und Wissenschaft in der KPdSU (B) zuständige ZK-Sekretär Andrej A. Shdanow, seit Mitte der 30er Jahre einer von Stalins Favoriten. Er hatte nicht ahnen können, dass sein Tod einmal eines der schrecklichsten Dramen der sowjetischen Nachkriegsgeschichte heraufbeschwören sollte. Shdanow war im Juli 1948 mit Herzbeschwerden in das Sanatorium Valdej eingewiesen worden. Ende August verschlechterte sich sein Zustand. Am 28. August wurde die Elektrokardiographin Dr. Lydia Timaschuk aus Moskau nach Valdej eingeflogen. Sie diagnostizierte eine wiederholte Fehlbehandlung durch den ärztlichen Stab des Sanatoriums und der behandelnden Ärzte. Über den Leiter des Personenschutzes der Kremlführung, Generalleutnant Vlasik, signalisierte sie Stalin, dass es bei der Behandlung des Leningrader Politbüromitglieds nicht mit rechten Dingen zugegangen sei. Dessen Tochter Svetlana berichtete, ihr Vater habe diese Nachricht nicht ernst genommen, stand sie doch im Gegensatz zur Diagnose der leitenden Kremlärzte, die einen Herzinfarkt ausgeschlossen hatten. Der inzwischen auch der westlichen Forschung vorliegende Brief der Timaschuk weist sensationeller Weise unter dem Datum 30. August 1948 die Signatur des Generalsekretärs und den Vermerk »Ab ins Archiv« auf. Dort blieb der Brief bis zum Herbst 1952. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Stalin die Mitteilung tatsächlich vergaß. Er erinnerte sich an diese, als er zu seinem »letzten großen Schlag« ausholte. Im Herbst 1952 war Stalin zu der Überzeugung gekommen, dass ein solcher notwendig wäre, um sein Werk vor Revisionisten in der Führung zu bewahren. Er befürchtete, wie er im Dezember 1952 ausführte, seine Nachfolger würden von äußeren Feinden wie »blinde Katzen ersäuft werden«. Er warf ihnen mangelnde Wachsamkeit und fehlende internationale Konfliktbereitschaft vor. Nach Jahrzehnten erfolgreicher Revolution sind erfahrungsgemäß Angehörige der neuen Elite daran interessiert, endlich die Früchte ihrer Anstrengungen zu genießen und gehen selbst historisch notwendigen Konflikten nach Möglichkeit aus dem Wege. Stalin wollte daher einige Funktionäre der alten Garde durch neue, die ihren Aufstieg unmittelbar ihm persönlich verdankten, ersetzen. Dem diente u.a. die Vergrößerung des ZK-Sekretariats (nunmehr 25 Mitglieder und 11 Kandidaten) auf dem XIX. Parteitag der KPdSU im Oktober 1952. In seiner Rede sprach sich Stalin für die Konservierung des von ihm geschaffenen Systems aus. Seine Ankündigung, als Generalsekretär zurückzutreten, wurde jedoch von keinem der Delegierten für bare Münze genommen. Niemand wagte es, den »woshd« (Führer) aufs Altenteil zu setzen - bis auf einen: sein Leibarzt Professor Winogradow. Der riet ihm auf Grund fortschreitender Sklerose und hohen Blutdrucks, seine Ämter abzugeben. Der Führer revanchierte sich, indem er den Wissenschaftlichen Leiter des Kremlhospitals der Mitwirkung an Shdanows Tod beschuldigte. Bereits auf einer im Juli 1951 einberufenen ZK-Tagung war die innenpolitische Generallinie verabschiedet worden, niedergelegt in einem Geheimbrief (datiert vom 13. Juli 1951 und bekannt durch die kürzlich veröffentlichte Studie von Brent und Naumow). Hier wurde Anklage gegen »eine Gruppe von Personen« erhoben, die »durch Fehlbehandlung das Leben der Führer von Partei und Staat verkürzen wollte«. Absichtsvoll wurde an ähnliche Fälle der 30er Jahre erinnert und suggeriert, dass es sich bereits bei der Behandlung des Politbürokandidaten Schtscherbakow 1945 um eine Verschwörung gegen die Gesundheit der Führungsmitglieder gehandelt habe und diese damals vom Staatssicherheitsminister Abakumow geschützt wurde. Stalin ließ Abakumow verhaften und durch einen Mann des Parteiapparates, S. Ignatjew, ersetzen. Dem Staatssicherheitsdienst wurde vorgeworfen, seine schlechte Arbeit dadurch verschleiert zu haben, dass er dem ZK nicht Einzelprotokolle, sondern nur Zusammenfassungen übergeben hätte. Eine vom ZK eingesetzte Überprüfungskommission benötigte nur zwei Tage, um diese Vorwürfe zu bestätigen und eine Säuberung innerhalb des Geheimdienstes in Gang zu setzen. Dessen Untersuchungskollektiven - so ein weiterer Vorwurf - sei es nicht einmal gelungen, die seit Jahren inhaftierten Mitglieder des Jüdischen Antifaschistischen Komitees (JAK) in die Nähe trotzkistischer oder westlicher Feinde der Sowjetmacht zu rücken. Es gehörte aber zu der neuen Generallinie, die reale Kriegsgefahr zur Fixierung einer »Fünften Kolonne«, der Juden, zu nutzen, die vom Ministerium für Staatssicherheit absichtsvoll nicht entdeckt worden war. Hinter diesem aber stünden einige führende Genossen, die zu entlarven und dingfest zu machen seien. Stalin ahnte jedoch, dass seine Kräfte für eine neue »Säuberung« bald nicht mehr ausreichen würden. So drängte er Ignatjew zu härterer Gangart. Dieser ordnete nun physische Folter gegen die verhafteten Ärzte an. Schließlich wurde auch Lydia Timaschuk vor die Untersuchungsrichter geladen und ihr Brief aus dem Jahr 1948 wieder »aufgefunden«. Nunmehr konnte das Puzzle zusammengefügt werden. Auf der ZK-Tagung am 1. Dezember 1952 erklärte Stalin: »Je größer unser Volk ist, umso mehr werden unsere Feinde versuchen, uns zu schaden... Jeder Jude ist ein Nationalist, ein Agent des amerikanischen Geheimdienstes.« Im Ergebnis der ZK-Tagung hieß es, nun sei bewiesen, »dass die feindliche Gruppe von Ärzten verbunden war mit englischen und amerikanischen Botschaften, die unter der Anleitung der amerikanischen und englischen Geheimdienste arbeitete und das Ziel hatte, terroristische Akte gegen die Führung der kommunistischen Partei und die Sowjetregierung zu unternehmen.« Bis zum heutigen Tage dauern die Kontroversen darüber an, ob Stalin die Deportation der damals in der Sowjetunion lebenden Juden ins Auge gefasst hatte. Anlass dazu ist ein kürzlich bekannt gemachter Aktionsplan vom 17. Februar 1953, der von Ignatjew, Suslow und Serow unterzeichnet und an Malenkow gesandt worden war. Er sah die Errichtung von insgesamt vier Lagern vor. Bisher sind jedoch keine Dokumentationen über diese gefunden worden. Auch die Behauptung eines möglichen Tages X, an dem es zu Massendeportationen kommen sollte, konnte nicht bestätigt werden. Allerdings: Ein auffindbarer Nachweis wäre kaum opportun gewesen - nach Auschwitz. Mag sein, dass Stalin hoffte, ihm würde eine Deportationsforderung von den Betroffenen »aufgezwungen« werden. Tatsächlich wird berichtet, dass verschiedene jüdische Intellektuelle aufgefordert worden waren, um eine Ausweisung aus den größeren Industriezentren und Städten zu bitten, damit sie dem zu erwartenden »Volkszorn« entgehen. Aber auch solche Bittbriefe konnten in den zentralen Archiven Moskaus nicht gefunden werden, ebensowenig wie eine vorgesehene Wurfsendung, die sich auf einen Grundsatzartikel in »Woprossy filosofii« des Herausgebers Professor D. Tschesnokow berief. Tatsache ist aber, dass Anfang 1953 die Situation für die Juden in der UdSSR nahezu untragbar wurde, Kinder wurden auf dem Schulweg geschlagen, Ärzte boykottiert. Viele Juden saßen auf gepackten Koffern. 1997 veröffentlichte »Istotschnik« einen undatierten Brief von I. I. Minz und J. S. Chawinson, der die Unterschrift von 58 führenden jüdischen Intellektuellen trägt. In diesem wird einerseits zwischen den Zionisten, den Helfershelfern der reich gewordenen Juden, den schändlichen Feinden der jüdischen Arbeiter und dem Lager der arbeitenden Juden andererseits unterschieden, die nur einen Feind hätten - die imperialistischen Unterdrücker, in deren Diensten sich »die reaktionären Bosse Israels und in deren Diensten wiederum die Spione und Diversanten, alle die Wowsis, Kogans, Feldmans etc.« befänden. Zu den Unterzeichnern dieses Briefes gehörten Ehrenburg, Landau, Romm, Oistrach, Jerusalimski u.a. Der Brief an die »Prawda« war begleitet von einem persönlichen Schreiben Ehrenburgs an Stalin vom 3. Februar 1953, in dem der Schriftsteller als seiner Meinung nach einzige Lösung die komplette Assimilierung der Juden vorschlug. Sie sei dringend notwendig im »Kampf gegen die amerikanische und zionistische Propaganda, die die Menschen jüdischer Nationalität zu isolieren versucht«. Darüber hinaus fragte Ehrenburg vorbeugend bei Stalin an, ob er seine Unterschrift unter das Dokument setzen solle. Der Brief der 58 Intellektuellen wurde niemals publiziert, da, so muss man annehmen, Stalin an einer differenzierten Behandlung von »guten und schlechten Juden« nicht mehr interessiert war. Ende Februar warteten die unglücklichen Juden immer noch auf eine Entscheidung der Parteiführung. Dass diese ausblieb, hat manche Autoren zu der Annahme veranlasst, Stalin habe einen Rückzieher machen müssen. Tatsache ist, dass einige Ärzte tapfer die von ihnen geforderten Aussagen verweigerten, so die Kardiologin Sophia Karpai. Aber auch Abakumow. Am 1. März 1953 traf den Generalsekretär selbst ein letzter (Hirn-)Schlag. Seinen Tod wenige Tage darauf kann keiner den behandelnden Medizinern anlasten. Nicht verschwiegen sei hier aber, dass Winogradow nach seiner Freilassung feststellte, Shdanow wäre von den Ärzten tatsächlich unzureichend, wenn nicht falsch behandelt worden. Was natürlich in keiner Weise Stalins »letzten Schlag« begründete, schon gar nicht rechtfertigte. Unser Autor lehrt Politische Wissenschaften an der Kölner Universität.

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