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Santiago 1973

Von Jürgen Scheich, 1973 Korrespondent des DDR-Rundfunks in Chile

  • Lesedauer: 3 Min.
Ausgangssperre. Mehrmals wird sie verschoben. Der Militärsprecher kündigt sie für den frühen Nachmittag an. Dann für den Abend. Menschen hasten durch die Straßen Santiagos. Die Moneda, der Präsidentenpalast, liegt seit Mittag dieses 11. September in Trümmern. Carabineros, schwer bewaffnete Polizei, und Soldaten durchkämmen die Umgebung, dringen vom Zentrum an die Ränder der Stadt. Der Industriekordon im Süden und Westen hallt von Schüssen wider. Empörte Nachbarn rufen die DDR-Botschaft an. Techniker eines DDR-Landwirtschaftsbetriebes sind vom SIM, dem militärischen Geheimdienst, verhaftet und in die Militärakademie verschleppt. Wir machen uns auf den Weg dorthin. In der Militärakademie haben Offiziere schon vor Monaten mit den Planungen für den »D-Day« begonnen. Nun ist ihre Stunde gekommen. Allende ist tot. Die Hatz auf seine Anhänger setzt ein. Die Verhafteten sehen den Konsul und mich, nicken vorsichtig uns zu. Hinter ihnen ein Soldat, den Karabiner im Anschlag. Wo finden wir den Kommandeur? Er ist ein kleiner, dicklicher Obrist. Im nagelneuen Kampfanzug, das Seidentuch um den Hals, empfängt er uns. Er bedauert. Ausgerechnet Deutsche, die er so verehrt und ganz besonders einen: Adolf Hitler. Wir treten entsetzt den Rückzug an. Mit den Freigelassenen. Vor Einbruch der Dunkelheit erreichen wir die Botschaft. Die Ausgangssperre beginnt. Kurz zuvor bringt der Direktor von Radio Magallanes das Tonband mit der letzten Rede Allendes. Botschafter Trappen nimmt sie Tage später im diplomatischen Gepäck nach Berlin mit. Die neuen Machthaber werden im Fernsehen präsentiert. Pinochet mit dunkler Brille, die Arme vor der Brust verschränkt. Salvador Allende hatte ihn vor vier Wochen zum Oberkommandierenden der Streitkräfte ernannt. Nun ist der General Allendes Brutus. Pinochet, ein misstrauischer, vorsichtiger Mann, schließt sich spät den Putschisten an. Dann aber setzt er sich brutal an deren Spitze. Er bietet Allende freies Geleit ins Ausland an. Doch der demokratisch gewählte Präsident geht auf das Scheinangebot nicht ein. Er zieht den Freitod vor. Es ist ein politischer Schritt, herauszuhören in seiner letzten Rede, die allein der Sender der Kommunisten überträgt. Am Mapocho-Fluss die ersten Toten. Trotz Ausgangssperre versuchen Männer und Frauen verzweifelt, Schutz vor ihren Verfolgern zu finden. In ausländischen Vertretungen beispielsweise. Aber nicht alle Botschaften öffnen sich für die Bedrängten. Die diplomatische Dependance der Bundesrepublik Deutschland bleibt für sie geschlossen. Auch die der UdSSR. Die Kubaner werden noch am selben Tag ausgewiesen. Bewundernswert der Schwede Edelstamm. Seine Botschaft steht den Flüchtenden offen. Und es sind nicht nur Chilenen, die dorthin drängen. Argentinier, Bolivianer, Brasilianer, Paraguayer, Uruguayer - das Chile der Unidad Popular bot ihnen Asyl und Exil. Die Geheimpolizei ihrer Heimatländer observiert sie schon lange in Chile. Nun ist deren Zeit gekommen. Edelstamm kennt die Ängste der Verfolgten. Als junger Konsul seines Landes in Norwegen half er vor den Nazis Fliehenden. Und auch der französische Botschafter Pierre de Menthon öffnet die Tore seiner Ambassade. Pierre Kalfon von »Le Monde«, mit dem Allende auf Pressekonferenzen so gern geistiges Florett focht, dieser noble Korrespondentenkollege, zeigt vielen den Weg in die scharf bewachte Botschaft. Ebenso mein wunderbarer schwedischer Fernseh- und Rundfunkkollege, dessen Kameramann von Pinochets Soldateska erschossen wird. Und last, not least Friedel Trappen, der letzte DDR-Botschafter in Chile, und seine Equipe. Hunderten Gejagten wird geholfen. In äußerster Bedrängnis ist der Generalsekretär der Sozialistischen Partei, Carlos Altamirano, Er findet später in der DDR-Botschaft Zuflucht, bis er konspirativ außer Landes gebracht wird. Noch ist der Pinochetsche Geheimdienst nicht auf der Höhe der Zeit. Indes der Terror regiert. Im Nationalstadion werden Scheinerschießungen vorgenommen, die Garotte elektrisch aufgeladen. Der Sänger Victor Jara ermordet. Über 3000 Menschen bringt das Regime in 17 Jahren Gewaltherrschaft um und hinterlässt ein traumatisiertes Land...

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