»Das Klima in N. ist freundlich ...«

Das Literaturzentrum Neubrandenburg besteht 30 Jahre

  • Christel Berger
  • Lesedauer: ca. 4.0 Min.
Eben jetzt, am Samstagvormittag, wird im Literaturzentrum Neubrandenburg das Glas gehoben und angestoßen auf den dreißigsten Geburtstag. Eigentlich kein Alter? Aber: Am 1. September 1971 gegründet »als nachgeordnete Einrichtung des Bezirkes Neubrandenburg« und nicht abgewickelt, fusioniert, wegen Asbest oder Stasi oder fehlender Mittel geschlossen? Welch eine Leistung! Da reicht ein Glas Sekt nicht. Laut erstem Statut soll sich das Literaturzentrum »in enger Verbindung zum Schriftstellerverband der Förderung literarischen Schaffens und der Pflege des literarischen Erbes im Bezirk Neubrandenburg« widmen. Die X. Tage der Kinder- und Jugendliteratur - was waren das immer für Fest- und Arbeitstage! - sind die erste Bewährungsprobe des kleinen Kollektivs um Tom Crepon und Heide Hampel, die es geschafft haben, seit 1972 in dieser Institution »segensreich« zu wirken. Es folgt die Heine-Ehrung, und zum 80. Geburtstag Hans Falladas gibt es die erste Ausstellung in Feldberg, die in zwei Monaten 5000 Besucher anschauen. Das war 1973, dem Jahr, in dem Brigitte Reimann in Neubrandenburg starb. Sie und Hans Fallada wurden zu den geistigen Säulen der Institution - über die Stürme der Zeit hinweg. Schon 1975 hatte man sich entschlossen, das regionale literarische Schaffen in den Vordergrund der Arbeit zu stellen, und so wurde die Pflege des Nachlasses von Hans Fallada und Brigitte Reimann, aber auch von Johann Heinrich Voß eine Aufgabe mit immer neuen Facetten: In Carwitz/Feldberg entstand ein Museum, ein Fallada-Archiv wird eingerichtet, Ausstellungen in der alten Burg Penzlin werden etabliert, Biografien, Bibliografien und Filme erarbeitet bzw. angeregt. Aber auch den im Bezirk lebenden Autoren gehört die Aufmerksamkeit: Helmut Sakowski, Margarete Neumann, Lisa Jobst und vor allem die Jüngeren wie Uwe Saeger, Maria Seidemann, Detlef Stapf, Volker Keßling, Anita Heiden-Berndt werden mit Lesungen und Publikationen vorgestellt. Literaturwerkstätten finden statt, und es gibt freundschaftliche Beziehungen zu den Schriftstellern in Koszalin. Rührig und zielbewusst waren sie auch zu DDR-Zeiten, die Mitarbeiter des Literaturzentrums, und diese Eigenschaften sowie eine große Portion Beharrlichkeit, Voraussicht, Klugheit (und vielleicht ein bisschen Glück?) haben wesentlich dazu beigetragen, in Wendezeiten und danach bestehen zu können, sich durchzusetzen und zu profilieren. Nicht alles, was zur Wende voller Elan erschaffen und ausgedacht wurde, konnte verwirklicht oder erhalten werden. In der Broschüre, die das Literaturzentrum anlässlich des Geburtstags herausgab, heißt es lakonisch für das Jahr 1992: »Das Lz fügt sich in die gesetzlichen und organisatorischen Gegebenheiten der Bundesrepublik Deutschland.« Dahinter steht ein beharrlicher, kluger Kampf, Verantwortliche für Kultur in die Pflicht zu nehmen. Gremien zu bilden, die Kulturgüter verwalten und darüber entscheiden. Interessierte, Erben und Freunde zu aktivieren. Und was geschaffen wurde, kann sich sehen lassen. Mit Initiative des Literaturzentrums gründete sich 1991 die Hans Fallada-Gesellschaft, die mittlerweile 140 Mitglieder im In- und Ausland hat. (Acht Jahre später folgte die Gründung der Brigitte-Reimann-Gesellschaft.) Aus eher sporadischen Publikationen entwickelt sich der Hausverlag »federchen«. Lesungen, Konferenzen, Führungen und die Arbeit in der Bibliothek und im Archiv sowie mit Archiv- und Bibliotheksbenutzern gehören zum täglichen Alltag des Zentrums. Jedes Jahr entsteht ein »Kunstbuch«, für das sich Künstler verschiedener Genres zu einem bestimmten Thema inspirieren lassen. Heute gilt: Das Literaturzentrum Neubrandenburg e. V. befindet sich in freier Trägerschaft. In die Förderung, sprich Bezahlung, teilen sich Stadt, Land, Landkreis und die entstandene Hans-Fallada-Stiftung. Wie überall müssen für einzelne Projekte Sponsoren gesucht werden. Dafür obliegt dem Literaturzentrum die Leitung des Brigitte-Reimann-Literaturhauses in Neubrandenburg und des Hans-Fallada-Archivs in Carwitz. Apropos »Brigitte-Reimann-Literaturhaus«: Das befindet sich weder an der ganz alten Adresse von vor dreißig Jahren, noch im später bezogenen Wiekhaus am Stargarder Tor. Die Adresse lautet jetzt: Gartenstraße 6. 1993, anlässlich eines Festaktes zum 20. Todestag von Brigitte Reimann hatte die Ratsversammlung - parteienübergreifend! - den Aufbau eines Literaturhauses beschlossen. Hierfür sollte das ehemalige Wohnhaus von Brigitte Reimann rekonstruiert werden. Doch als die Bauarbeiter endlich 1997 damit begannen, stürzte das Haus ein. Die Neubrandenburger machen dennoch weiter. Und das in einer Zeit, da größere Städte als Neubrandenburg Literaturhäuser schließen! Ein neues Literaturhaus am alten Platz entstand, eröffnet 1999 - Domizil für Ausstellungen, Lesungen, Bildungsveranstaltungen. Neben der Bibliothek und den kostbaren Möbeln von Brigitte Reimann zog auch die Bibliothek Joachim Wohlgemuts ein. Die Atmosphäre im neuen Haus mit Garten ist von eigener Art: Gediegen und zugleich behaglich für jeden Bücherfreund. Ein Griff ins Regal, und man kann in den Büchern der Schriftsteller blättern, findet Widmungen, liest sich fest. All die großen Namen aufzuzählen, die in den dreißig Jahren zu Gast waren, fehlt hier der Platz. Nach dem Sekt wird heute Helmut Sakowski sein neues Kinderbuch »Raoul Habenichts gegen den Rest der Welt« vorstellen. Danach gibt es die Buchpremiere von Maria Seidemanns »Hütte und Stern« - eine Produktion des federchen Verlags, und der Abend verspricht ein Hörerlebnis der besonderen Art: Stephan Krawzyks konzertante Lesung von »Ja, sagte die Fremde«. Wie schrieb doch Brigitte Reimann 1969 anlässlich ihres Umzugs von Hoyerswerda nach Neubrandenburg an Christa Wolf: »Das Klima in N. ist freundlich, ein bisschen sibirisch im Sinne von "budjet"«. Das Klima hat sich erhalten, Brigitte, dank auch der freundlichen und klug...

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