Der Unbeirrbare

Martin Stade wird siebzig

  • Karl-Heinz Jakobs
  • Lesedauer: ca. 5.5 Min.
Wenn Martin Stade heute zum Fenster seines Arbeitszimmers hinausblickt, liegt vor ihm die mittelthüringische Landschaft, sanfte Hügel, satte Felder, grüne Wälder und im Hintergrund Arnstadt. In Arnstadt trat Johann Sebastian Bach 1703 seine erste Organistenstelle an. Diese Situation hat Stade 1985 in seinem Roman »Der junge Bach« dargestellt: Er mache Musik zum Lobe Gottes, wird die Lebenshaltung des jungen Bach erläutert, und wenn sich die Leute nebenan die Köpfe einschlagen, setze er sich an die Manuale und vergesse den Streit der Welt. Es war Stades dritter Roman, der in der DDR aber erst fünf Jahre später erscheinen konnte. Stade ist nämlich in seine eigentliche Heimat zurückgekehrt. Seit 1996 lebt er wieder in Haarhausen, in seinem Vaterhaus. Vaterhaus? Ja, aber etwas anderes sei noch entscheidender gewesen für den neuerlichen Wohnortwechsel, und seine Stimme bekommt etwas Raunendes: Seit zehn Jahren habe er sich mit den Ereignissen befasst, die hier im mittleren Thüringen stattfanden: Von 1934 bis 1945 wurden im Jonastal, das nur fünf Kilometer von seinem Vaterhaus entfernt liegt, umfangreiche unterirdische Anlagen in die Muschelkalkhänge getrieben: Hier wollte Hitler sein neues »Führerhauptquartier« in die Felsen sprengen lassen. - Ach, Du veräppelst mich. - Und was liegt da auf dem Schreibtisch? - Ja, was liegt denn da? Auf seinem Schreibtisch liegt das 400- Seiten-Manuskript eines Sachbuches, in dem sinngemäß davon erzählt wird, was in den Hohlräumen des mittelthüringischen Raums möglicherweise noch alles versteckt wurde außer einem Führerhauptquartier: Produktionsstätten für Raketen vielleicht, vielleicht Beschleuniger für positiv geladene Elementarteilchen, das Bernsteinzimmer, Produktions- und Lagerstätten für Flugscheiben. Flugscheiben? In der Nazizeit seien viele verblüffende Erfindungen gemacht worden. Flugscheiben zum Beispiel sollen, mit Wasserstoff angetrieben, imstande gewesen sein, die Schallmauer zu durchbrechen ... 500 Wissenschaftler der verschiedensten Forschungsgruppen hätten hier im Raum seiner engeren Heimat gearbeitet. Hier gab es ein Sonderlager des Konzentrationslagers Buchenwald, in dem ständig mehr als 2000 Häftlinge untergebracht waren. In den Hohlräumen unter der Erde im Thüringer Wald waren insgesamt 104 000 Häftlinge in Rüstungsbetrieben tätig. Von ihnen soll in dem Buch die Rede sein und von dem, was sie im Auftrag der Nazis bauten. Im Moment korrigiert er noch das Manuskript, arbeitet neueste Erkenntnisse ein. Immerhin ist er Vorstandsmitglied der »Geschichts- und Technologiegesellschaft Großraum Jonastal«, die sich die weitere Erforschung der künstlichen Hohlräume im dortigen Muschelkalkmassiv zum Ziel gesetzt hat. Ich erinnere mich, dass ich seinen Namen zum ersten Mal las, als desjenigen, der das Buch eines verstorbenen Kollegen zu Ende schrieb: Claus Back - »Der Baumeister von Sanssouci«, von Knobelsdorff war die Rede. In seinem eigenen ersten Roman dagegen, »Der König und sein Narr«, beschrieb er 1975 das Lebensdrama des Historikers und Rechtsgelehrten Jakob Paul Freiherr von Gundling, der sich am Hofe des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm I. zum Hofnarren machen ließ und aus Spott in einem Weinfass begraben wurde. Roman und Film sind heute noch mit Gewinn zu lesen und anzusehen. Stades Spürnase für außergewöhnliche epische Situationen brachten ihn zu seinem zweiten historischen Roman: »Der närrische Krieg«. Das Tagebuch eines Leutnants der Gothaischen Garnison aus dem Jahre 1747 nahm er zum Anlass, in pikaresker Manier die Entstehung eines Krieges darzustellen. Das närrische Treiben einer dünkelhaften Obrigkeit mit ihren außer Rand und Band geratenen Offizieren. Es ist zunächst nur ein kleiner Krieg, der da vorbereitet wird, doch vielleicht gelingt es den Strategen, daraus einen größeren zu entwickeln. Mitte der siebziger Jahre war Martin Stade zusammen mit Ulrich Plenzdorf und dem kürzlich verstorbenen Klaus Schlesinger der Initiator der so genannten »Berliner Anthologie«. In einem Land, wo jede Veröffentlichung der Imprimatur des Zensurministers bedurfte, hatten diese drei es gewagt, Kollegen aufzufordern, ihnen Manuskripte zu schicken, die sie im Selbstverlag herausbringen wollten. Das war eine gefährliche Ungeheuerlichkeit. Schriftsteller, die es wagten, die Zensur zu umgehen, wurden empfindlich bestraft: Entlassungen aus dem Beruf sind bekannt, Strafversetzung in Produktionsbetriebe, Gefängnisstrafen, Geldstrafen, in jedem Fall Entehrung, Isolierung. Genau das geschah mit Stade und seinen Freunden damals. Zu ihrer ständigen Kontrolle wurden drei Offiziere im Hauptmannsrang benannt, sowie ein Oberleutnant und ein Leutnant, die ein Dutzend Informeller Mitarbeiter aus Schriftstellerkreisen am Gängelband hielten, um ihn, dem sie den diffamierenden Namen »Narr« gegeben hatten, zu »zersetzen«, wie die Fachvokabel damals hieß. Ursprünglich war auch Martin Stade ein aufgeschlossener Schriftsteller der DDR, der manchen kulturpolitischen Gedanken der SED für richtig empfand. Als es hieß: »Schriftsteller an die Basis« verließ er wie viele andere, wie Christa Wolf zum Beispiel, Sarah Kirsch und Franz Fühmann, den Schreibtisch und begab sich zwecks Quellen- und Milieustudiums als Hilfsarbeiter in einen volkseigenen Betrieb. Und natürlich hat er dabei nicht nur die Arbeitsweise des Parteisekretärs studiert, sondern auch Lebensgeschichten anderer interessanter Leute. In den Akten liest es sich so: »Hauptfiguren seines in Arbeit befindlichen Romans sind ein haftentlassener Arbeiter, ein wegen Unterschlagung in die Produktion versetzter Angehöriger der Volkspolizei und ein aus dem Schuldienst entlassener Lehrer. Um diese Figuren herum siedelt der Autor sehr gezielt die verschiedensten in der DDR angeblich vorhandenen gesellschaftlichen Konflikte an und gelangt dabei zu grundsätzlich feindlich-negativen politischen Aussagen. So wird direkt und indirekt die Partei angegriffen, die angeblich eine Herde von Schafen sei, die mit Hunden zusammengehalten werden müsse. Mitglieder der Partei erscheinen als unmoralische, betrügerische, seelenlose, militante und karrieristische Typen.« Das war natürlich nicht die gestalterische Triebkraft des damals jungen aufstrebenden Schriftstellers. Er wollte nur Stoff für einen konfliktgeladenen Gegenwartsroman finden mit - wie es Sinn der Literatur ist, seit es sie gibt - gebrochenen Charakteren. Man hätte »Stade und Konsorten« machen lassen sollen. Doch die Leitenden und Führenden lauschten anderen Einflüsterern. Im September 89 fiel ihm angesichts der Ereignisse der Stift aus der Hand. Zuerst engagierte er sich im Neuen Forum. Dann stellte die SPD ihn als Kandidaten für den Kreistag auf, und als er durchkam bei der Wahl, vertraute man ihm das Amt des Dezernenten für Kultur und Bildung im Kreis Seelow an, später das des Fraktionsvorsitzenden seiner Partei. In seinem letzten Buch »Wilhelms Haus« veröffentlichte Martin Stade wieder Erzählungen, die in Thüringischer Dorflandschaft spielen wie schon frühere Bücher, 1970 »Der himmelblaue Zeppelin«, 1973 »Vetters fröhliche Fuhren« und 1976 »Siebzehn schöne Fische«. In der ersten Geschichte des neuen Bandes erinnert sich der Protagonist an die Zeit, als am Ende des Zweiten Weltkrieges die Amerikaner Thüringen besetzten und er mit Schulkameraden versuchte, das Beste für sich aus der Sache zu machen: Von heimlich vergrabenen Schinken und Würsten ist die Rede, von erster verblüffender Begegnung mit afroamerikanischen Soldaten, von Vertreibung vom Hof, von Waffendiebstahl, doch angesichts einer geklauten Brieftasche mit Familienfotos aus einem amerikanischen Dorf beschleichen ihn Gewissensbisse. Als die Amis nach acht Tagen den Hof verlassen, ist die Tonne mit heimlich vergrabenen Schinken und Würsten leer. Von den Amis zurückgelassene wertvolle Kleidungstücke und Schuhe sind freilich hinzugekommen, ein Scherenfernrohr und sogar ein riesiger Wandspiegel. Doch als der Erzähler, damals vierzehn, hineinschaut, erschrickt er: Was ist aus ihm geworden? Wer bin ich? Wer war ich? Eine ganz andere Person, als die, für die er sich hielt, schaut ihn an. Wenn dieser kleine Text vielleicht als Baustein zu einer autobiografischen Lebensgeschic...

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