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  • Brandenburg
  • „Eiszeit“: „Der verführte Mann“ - ein Film des Franzosen Patrice Chereau

Mit Haßliebe auf dem Eisblock treibend

  • Mario Stumpf
  • Lesedauer: 2 Min.

Zugegeben, es ist verdammt lästig, sich in einer häßlichen Kleinstadt unter die gierigen Augen der Nachbarn oder Straßenpassanten zu begeben. Nie ist man allein: einfach- greulich. Wird man schließlich noch, wie der achtzehnjährige Henri (Jean-Hugues Anglade) von seiner hysterischen Mutter am Gängelband gezerrt wie ein heißgeliebter Straßenköter und hat diesen muffligen, desinteressierten Vater (Armin Mueller-Stahl) ständig auf der Pelle, ist der Ausbruch nach Rimbaudscher Manier vorprogrammiert: Eines Nachts auf dem Bahnhof eröffnet sich Henri eine bisher unvorstellbare Welt, die er bis zum brutalen Abschluß durchmessen wird. Haßliebend streift sein Körperblick den älteren Jean (Vittorio Mezzogiorno), der sich künftig unentwirrbar in sein Schicksal einspinnt,

Patrice Chereaus Film „Der verführte Mann“ - mit seinen hervorragenden

Schauspielern - ist weniger ein Film über Homosexuelle, sondern mehr einer über Leidenschaft, über die Suche eines jungen Mannes nach dem Leben. Dabei wird der Zuschauer durch ein Milieu als Gewalt, Liebe, Verrat und Prostitution geführt. Henri beginnt nicht nur den Mann, das „Schwein“ Jean in allen möglichen Variationen zu lieben oder zu hassen, sondern fühlt sich genauso magisch vom Schmutz, von den angeblich Asozialen, den Lebenskünstlern und Bohemiens angezogen. Die Welt, die Chereua nach Motiven von Jean Genet („Tagebuch eines Diebes“) entstehen läßt, ist ein universalisiertes Geschäft, kalt und entseelt von der Jagd nach Geld. Seine Figuren handeln nicht mehr, sondern schwingen ihre Beinchen, machen ihren Sex wie Marionetten. Das Maß für Geborgenheit ist die Sekunde des gekauften Orgasmus.

Die Poesie Genets ist ausgetrieben von der atmosphärischen, sprachlosen Dichte der Bilder, die keine Hintergründe ausleuchten, sondern nur gegenwärtige Kaputtheit ohne Aussicht auf Veränderung in der Draufsicht zeigen. Es gibt weder Vergangenheit noch Zukunft, einzig das Treiben auf dem bedingungslosen Eisblock des Augenblicks zählt. Alle sozialen Bindungskräfte sind bedeutungslos oder der Verrat und das Mißtrauen sind das Einzige, was die Gesellschaft noch zusammenhält. Kein Gedanke, keine Spur von Solidarität: Benutze, solange du nutzen kannst und gebe niemals etwas über dich selbst preis. Chereau zieht den Zuschauer in die beklemmende Stimmung seines Weltentwurfes hinein, verbarrikadiert den Kinoausgang mit kafkaesken Gefängnismauern.

MARIO STUMPFE

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