Schon wieder ganz allein
»Deutschland verraten!« Die Generation Rostock und ihr 3. Oktober
Hannes ist ein aussichtsreicher junger Akademiker. Er hat eine Dissertation in England begonnen: Kunst im postfaschistischen Deutschland bis 1960. Mit seiner Tutorin versteht er sich bestens - wenn nur eines nicht wäre: Die Frau ist, wie so viele akademische Linke im Vereinigten Königreich, Trotzkistin von der SWP. Folglich unterzeichnet sie jeden Appell gegen die USA und hat einen Israel-Boykott-Button auf ihrer Internetseite. Aber bei einer Britin ist das ja etwas anderes, sagt Hannes immer. Er selbst würde niemals einen solchen Verweis auf seine Homepage stellen. Er trägt eine Israel-Nadel am Revers, und in Kreuzberg wurde er schon mal deswegen bespuckt. Nahost? Für Hannes verteidigt sich Israel nur. Und auch wenn es anders wäre, hätten Deutsche sich zurückzuhalten: Ist das Nahost-Problem nicht am Wannsee erschaffen worden? Überlebende wie Täter sind noch nicht begraben, und schon soll alles »normalisiert« werden? Hannes wird schnell emotional bei diesem Thema.
Viele glauben, Nahost sei der Schlüssel zu den Konflikten der heutigen Welt - für Hannes ist es der Antisemitismus. Da seien Organisationen wie Hamas, Dschihad und Konsorten, die im Augenblick die frisch übersetzten »Protokolle der Weisen von Zion« verschlängen und gegen die er jede US-Intervention unterstützen würde. Wenn Hannes wütend ist, spricht er sogar vom »islamischen Faschismus«. Aus seiner Sicht läuft aber auch die gut gemeinte Kritik am »Casino-Kapitalismus« allzu oft auf eine Anti-Wall-Street Polemik hinaus, die letztlich auf die vermeintlichen Strippenzieher mit langen Nasen zielt. Viele Globalisierungsgegner, ist Hannes überzeugt, lassen sich auf die völkisch-antikapitalistische Unterscheidung von schaffendem und raffendem Kapital ein. Nicht überall wo »Banken sind böse« draufsteht, gehe es um Emanzipation. Unter anderem daher findet es Hannes wichtig, jedes Jahr am 3.Oktober auf der »antideutschen« Demo dabei zu sein. Heuer unter dem Motto »Deutschland verraten, Kapitalismus abschaffen«.
Hannes ist ein fiktiver Teilnehmer des Aufzugs, der morgen - vermutlich rote Fahnen sowie US- und Israel-Wimpel zugleich mit sich führend - verdutzten Berlinern seminaristische Ansprachen entgegentrompeten wird. »Deutschland«, doziert schon der Aufruf, »heißt, dass der Zweck der Nation, die Herstellung der Identität zwischen Staat und Bevölkerung, völkisch vollzogen wird«. Völkisch die Abwehr der französischen Revolution, völkisch die deutsche Romantik, völkisch auch das Kaiserreich, in dem sich der Antisemitismus unbegrenzt ausbreiten konnte. Völkisch die Jugendbewegung nach dem ersten Weltkrieg, völkisch der Nazi-Rassenstaat. Bis heute sei Deutschland ein »völkisches« Gebilde: das Blutprinzip im deutschen Staatsbürgerrecht, der deutsche Lohnarbeiter, der in Bedrängnis Immigranten verprügele. Völkisch womöglich die Friedensbewegung, die sich über die US-amerikanische Burger-Kultur echauffiere und - objektiv gesehen - im Interesse der eigenen imperialistischen Regierungen deren Hegemonie herausfordere, völkisch die Globalisierungsgegner, die dem abstrakten Kapital nur vermeintlich konkrete »Völker« entgegenzusetzen hätten.
Der fiktive Hannes und seine realen Mistreiter sind zwischen 25 und 35 Jahre alt und stammen überwiegend aus dem Westen. In der Wende-Zeit begannen sie gerade mit dem politischen Denken. Für sie war jedoch nicht die »Wende« prägend, sondern die Begleiterscheinungen: Mannheim-Schönau, Hoyerswerda, Mölln, Solingen und vor allem Rostock-Lichtenhagen. Die leeren Schampusflaschen, schreibt der Historiker Götz Aly, wurden mit Benzin gefüllt und gegen vermeintliche Eindringlinge geschleudert - nach der friedlichen Einheit des Staates Gewalt für die »Reinheit« des Volkes, tagelang vor aller Augen geduldet, gefolgt von halbstaatlichen Lichterketten für »Toleranz« und einer Änderung des Asylrechtes, die den Brandsatzwerfern entgegenkam. Das alles umrahmt von einem »selbstbewussten« Geschichtsdiskurs: Diese Ereignisse haben bei einer kleinen, aber sehr aktiven Szene für einen ungeheueren Politisierungsschub gesorgt.
»Wo ist der Treffpunkt, wo ist der Treffpunkt?/ An der kleinen Zufahrtsstraße, an der kleinen Zufahrtsstraße!/ Muss ich denn, muss ich denn.../ Schon wieder ganz allein?« Niemand hat die Erlebnisse dieser »Generation Rostock« treffender beschrieben als die Hamburger Band »Goldene Zitronen«. Wie oft endete die fast allwöchentliche Fahrt zu irgendwelchen Nazi-Märschen in filmreifen Polizeikesseln? Hubschrauber-Eskorten, bewaffnete Polizisten auf offener Fahrbahn, Plastikfesseln, 15 Stunden Internierung in verlassenen Gefängnissen der DDR: Szenen wie aus einer Dritte-Welt-Diktatur.
Das katastrophische Initiationserlebnis hat den Weg der 92er auf Dauer bestimmt: Abgrenzung aus Prinzip. Als etwa »sozialrevolutionär« orientierte Gruppen am 8. Mai 1995 in Berlin gegen Sozialabbau demonstrieren wollten - »Befreit sind wir noch lange nicht« - , sprengten Rostock-politisierte das Vorbereitungsbündnis. Wie man denn an diesem Tag für die Deutschen auf die Straße wollen könne, wo die doch gerade bewiesen hätten, dass sie lieber Einwanderer anzünden als einen Generalstreik erzwingen würden? Man müsse gegen und nicht für den »deutschen Mob« auftreten... Am Ende gab es dann drei Demonstrationen, deren Vorbereiter sich noch Monate mit unflätigen Maximalvorwürfen beharkten. Ein immer noch gespenstisches Szenario, dass zu den merkwürdigsten Koalitionen führen kann. Wären etwa am dies- oder letztjährigen Berliner 1. Mai Steine in die Schaufenster der für die Stadt, nicht aber für ihre Fondszeichner ruinösen Berliner Bankgesellschaft geflogen, hätte so mancher vielleicht »klammheimliche Freude« empfunden. Die »Antideutschen« dagegen hätten sich unter Berufung auf das Fetischkapitel im ersten Band des »Kapital« distanziert. »Don't fight the players, fight the game« hatte die Gruppe »Kritik und Praxis« plakatiert. Nicht die Spieler, sondern das Spiel bekämpfen - das klingt konsequent. Tatsächlich dokumentiert der Satz nur die Hilflosigkeit dieser Szene.
Einen super-radikalen Anti-Schlageter-Kurs verfolgend, dem zufolge erst das »falsche« Kollektiv Nation zerstört werden müsse, bevor an Emanzipation zu denken sei, drucken die »Antideutschen« genau die Sätze von Ilja Ehrenburg auf ihre Flugblätter, die ihr Urheber schon in den sechziger Jahren zurückgenommen hat. Sie erfinden Namen wie »Gruppe Morgenthau« und verbreiten Losungen wie »Keine Träne für Dresden«. Sie veranstalten Demonstrationen gegen ganze Dörfer, die als kollektiv rassistisch geoutet werden - Dolgenbrodt zum Beispiel, wo das halbe Dorf das Abbrennen eines geplanten Flüchtlingsheims verabredete. Es ging nie um Bündnisse. Es ging um »wir gegen die anderen«.
In der aktivistischen linken Szene wird der Einfluss der Rostock-Generation langfristig abnehmen, auch wenn mit »Konkret« und »Jungle World« zwei viel gelesene Periodika solchen Positionen immer wieder Raum bieten. Denn es ist bereits die nächste Strömung aufgetaucht, die man vielleicht als »Generation Seattle« bezeichnen kann. Mit dem defensiven, katastrophischen Weltbild der Rostock-Generation können die neuen Globalisierungskritiker wenig anfangen. »Eine andere Welt ist möglich!« lautet der Slogan derer, die sich optimistisch »Gipfelstürmer« nennen. Das ist begrüßenswert, denn das düstere Gehabe war auf die Dauer nur schwer auszuhalten: immer kurz vor dem Vierten Reich. Andererseits wäre es verhängnisvoll, wenn der kategorische Skeptizismus und wichtige von den 92ern angeschobene Debatten für den nächsten Bewegungszyklus der Linken einfach verloren gingen: Kritik an Staatsgläubigkeit, am linken Nationalismus, nicht zuletzt am westdeutschen Antizionismus der Siebziger und Achtziger, der selbst in Anschlägen auf jüdische Einrichtungen in Deutschland noch »antifaschistische« Motive zu erkennen bereit war.
Morgen werden sich die »Antideutschen« in der Hauptstadt versammeln. Und wie in dem Song von den Goldenen Zitronen werden sie dabei ganz alleine sein - auch wenn mehr al...
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