Gorkis Hirn

  • Wladimir Kaminer
  • Lesedauer: ca. 5.0 Min.
Schon früher waren es überwiegend holländische Journalisten, die in der Sowjetunion mit einem Fotoapparat und Diktiergerät an den unmöglichsten Stellen auftauchten. Ob bei einem Rockfestival im Wald bei Moskau, auf einem Hippie-Zeltplatz bei Riga, sogar in der russischen Sauna, der Banja, traf man auf Holländer, die zwischen leeren Bierflaschen mit einem Wörterbuch in der Hand die Geheimnisse des russischen Lebens zu durchleuchten versuchten. Nichts entging ihrer Aufmerksamkeit. Warum die Russen ihre Teppiche nicht auf den Boden legen, sondern an die Wand nageln, wieso sie Spinnen für heilige Tiere und Glücksbringer halten und weswegen sie ausgerechnet Papirossy der Marke »Belomorkanal« rauchen. Neugierig und offen durchforsteten sie das Land und versuchten, mit den Einheimischen ins Gespräch zu kommen. Warum heißt diese Seife »Wo Lenin überall hinkam« - Warum nur? Darum, wehrten sich die Russen, es interessierte sie nicht, sie wollten lieber in Ruhe gelassen werden. Die Holländer ließen aber nicht locker und kamen tatsächlich manchem Geheimnis auf die Spur. Dies gilt auch für Frank Westerman. Man hatte ihn als Korrespondent einer Rotterdamer Wirtschaftszeitung nach Moskau geschickt. Dort bezog er eines der vielen Büros in einem Hochhaus am Platz der Proletarier, das für ausländische Journalisten reserviert war. Tag für Tag starrte er dort auf ein tschechisches Faxgerät, manchmal auch nach draußen auf eine leere Baugrube. Es wurde schon lange nicht mehr gebaut am Platz der Proletarier - die Baugrube war mit Holunder überwuchert und füllte sich langsam mit städtischem Abfall. Westermans Journalistenkollegen vergeudeten derweil ihre Zeit in Moskauer Klubs, lernten die russischen Trink- und Anmachsprüche und beschwerten sich über die angeblich verwanzten Steckdosen in ihren Büros. Westerman kaufte in einer Metro-Unterführung von einem arbeitslosen Geologen vier aufrollbare Karten der Sowjetunion, hängte sie an die Wand seines Arbeitszimmers und studierte sie. In den 80ern hatte er sich mit Hydrotechnik beschäftigt. Dabei lernte er das Werk des deutschen Sinologen Karl August Wittfogel kennen, der in den 30er Jahren vor den Nazis geflüchtet war und sein Hauptwerk »Die orientalische Despotie« 1957 in New York veröffentlicht hatte. Darin vertrat Wittfogel die These, dass tyrannische Regime nur dort entstehen können, wo der Boden und das Klima zum Bau großer Bewässerungsanlagen geeignet ist - und dass umgekehrt jedes große Bewässerungssystem zur Tyrannei führt. Westerman beschloss, mit dieser These drei grandiose Bewässerungsprojekte der Sowjetunion zu recherchieren: Den Belomorkanal, der das Weiße Meer und die Ostsee miteinander verbindet, den Leninkanal in Turkmenistan, der ins Kaspische Meer führt, und den Wolga-Don-Kanal, der die beiden größten Flüsse Russlands zusammenführt. Zunächst beschäftigte Westerman sich mit dem Lebenswerk einiger sowjetischer Schriftsteller - wie Gorki, Paustowski und Platonow, und kam dabei zu dem Ergebnis, dass diese »Ingenieure der Seele« die Bevölkerung im Auftrag Stalins zum Bau der großen Bewässerungssysteme bewegt hatten. Den Anfang machte Gorki, der mit seinem Belomorkanal-Buch, einer kollektiven Arbeit von 120 Schriftstellern, ein Musterbeispiel für die damals geförderte proletarische Literatur schuf. Westerman konnte das Buch in Moskau nicht auftreiben. Er ergatterte aber eine Ausgabe bei einem Online Antiquar in Kalifornien. Im Buch stand eine Widmung »Xmas 1936. A merry christmas to Polly and Clayt. Dorothy«. Wer war Dorothy? Diese Frage bringt Westerman dazu, sich nebenbei auch noch mit den damaligen Beziehungen zwischen Amerika und der Sowjetunion zu beschäftigen. Dann liest er die Bewässerungsromane von Paustowski, die nicht viele Russen gelesen haben: »Kara Bugas« und »Die Wolga fließt ins Kaspische Meer«. »Nomaden!«, schrieb Paustowski, »brecht eure Zelte ab. Stoppt eure Wanderungen durch die tote Wüste und werdet endlich Arbeiter!« Je mehr Westerman sich in die Recherche vertieft, umso unübersichtlicher werden seine Ergebnisse, die immer neue Fragen aufwerfen, anstatt Antworten zu geben. Also wird der Holländer selbst zu einem Nomaden, er bricht die Zelte ab, verlässt sein Büro am Platz der Proletarier und fährt kreuz und quer durch die ehemalige Sowjetunion. Er brettert mit einem Motorrad über die Insel Solowki, studiert dort alte Klostersitten und sowjetische Folterkammern. Als er sich eine kluge Bemerkung über dieses sowjetische Vorzeigelager erlaubt, wird er vom Reiseführer als »ihr Deutscher« beschimpft, »die ja auch nicht nur Schiller und Goethe hervorgebracht haben!« Obwohl Westerman gar kein Deutscher ist, hält er sich zurück. Er fährt nach Karelien, auf den Spuren der Belomorkanal-Schriftstellergruppe, und recherchiert nebenbei, warum die sibirischen Ringelgänse, die sonst jeden Winter von Nowaja Semlja über die Seen Kareliens, den finnischen Meerbusen und die dänische Halbinsel nach Holland geflogen waren, in der Zeit des Kanalbaus fernblieben. Die Bekanntschaft mit einem karelischen Jagdverein bringt ihm die Idee ein, dass die Heerscharen von Gefangenen, die am Bau des Kanals beteiligt waren, die Gänse wahrscheinlich gefangen und aufgegessen hatten. Parallel dazu beschäftigt sich Westerman mit dem sozialistischen Realismus; er trifft sich mit den Nachfahren berühmter sowjetischer Schriftsteller und besichtigt Gorkis Hirn, das in einem Einweckglas im Institut für Neurologie scheibchenweise auf Spuren von Genialität untersucht wird. Mal mit Dollar, mal nur mit einem Lächeln kommt Westerman in versteckte Archive rein, er sieht sich verbotene Filme an, die noch niemand bisher sah, und liest Bücher, die vor ihm nur uniformierte Leser hatten. Zwischendurch fährt er immer wieder nach Turkmenistan ins Reich des Turkmenbaschi, besucht den gescheiterten sowjetischen Kanal-Traum in der Bucht Kara Bugas, wo die letzten Bewohner langsam in der Wüste verdursten und geschäftstüchtige Belgier Krabben züchten. Er beschäftigt sich mit turkmenischer Kosmetik, untersucht die unheimlichen Grätenfische im Leninkanal und klärt sich und uns darüber auf, warum die Flamingos eigentlich so rosig sind. Er teilt seine neu gewonnenen Erkenntnisse gern mit den Einheimischen, zeigt ihnen Bücher ihrer Schriftsteller und andere Zeitdokumente, fragt sie über die revolutionären Ideale der sowjetischen Vergangenheit aus und über die konterrevolutionären Ideen der russischen Gegenwart. »Ah ja«, winken die Russen ab, »wir wollen vor allem unsere Ruhe, ein Häuschen im Grünen, frisches Obst«. Auch das recherchiert Westerman sogleich: Warum keine Radieschen? »Alle Russen träumen vom Landleben«, schreibt er in seinem Buch. Ob er alles richtig verstanden hat? Dafür möchte ich meine Hand nicht ins Feuer legen. Auf alle Fälle hat Westerman eine Reise voller Abenteuer und Gefahren bestanden, mehrere dunkle Flecke auf der sowjetischen Landkarte beseitigt, seine Fremdsprachenkenntnisse enorm erweitert und das beste Buch über Russland geschrieben, das ich seit Jahren gelesen habe. Wer, wie, was, warum - wer nicht fragt, bleibt dumm. Noch zwei, drei solche Holländer, un...

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