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  • Vor 200 Jahren: Jacques Roux trägt im Pariser Konvent das „Manifest der Wütenden“ vor

„Freiheit* Gleichheit? – Nur ein leerer Wahn!“

  • Prof. Dr. HELMUT BOCK
  • Lesedauer: 6 Min.

Abb. aus: Französische Revolution. Bilder und Berichte, Leipzig 1989

Sansculotten in der Nationalversammlung

Wer waren die ersten, die den frischbackenen Revolutionsministern, den skrupellosen Revolutionsgewinnlern, den Lebensmittel- und Grundstücksspekulanten auf die Finger schauten, ? die, die Interessen des arbeitenden Volkes aussprachen und ihre Erfüllung verlangten? Man kennt Marat, den jakobinischen „Volksfreund“, der auf dem Gipfel der Großen Revolution der Franzosen durch den Dolch seiner liberalistischen Gegner fiel. Man kennt Babeuf, den Kopf der kommunistischen Verschwörung für die „Gleichheit“, dem die Bourgeoisrepublikaner das Schafott bereiteten.

Dank dem Historiker Walter Markov und dem Dramatiker Peter Weiss wird seit einem Viertel jähr hundert noch ein weiterer Name genannt: Abb6 Jacques Roux - freigegraben aus dem Treibsand der Geschichte. Wir finden ihn in den Annalen der Französischen Revolution unter dem Datum des 25. Juni 1793, in einer Szene, die bis zum heutigen Tag ein Musterfall blieb.

Im Königsschloß zu Paris tagte der Konvent, die Nationalversammlung der ersten Republik Frankreichs. Drei Wochen zuvor war das Volk “wieder einmal auf die Straße gegangen. Es hatte nunmehr die Abgeordneten der wohlhabenden Kaufleute und Grundbesitzer, Bankiers und Reeder (späterhin „Girondisten“ genannt) von den Konventsstühlen gefegt und der radikalen Jakobinerpartei zur Macht verholfen. Angestimmt in den Volkskomitees und an die zur Macht steigenden Fraktionen des Bürgertums gerichtet, wurden die Menschenrechte endlich für alle Individuen der sogenannten freiheitlichen Ordnung eingefordert.

r–-Jedoch?- Das Vaterland*-war*

Ttff'Gefährr Drohuhf ; WäW ßen: feudale Interventionsarmeen. Drohung von innen: die Konterrevolution des Adels und des Klerus, des Verrats an den Fronten, des Aufstandes geschundener Bauern in der Vendee, des Hungers der

Sanspiilnttpn unri T.oVinarhei-

ter. Robespierre, Marat und Genossen deklarierten die „Leve'e en masse“, die allgemeine Wehrpflicht. Sie trieben mit revolutionären Gesetzen, moralisierender Propaganda und der Guillotine den nationalen Entscheidungskampf vorwärts. Am 24. Juni 1793 beschlossen sie die neue, die republikanische Verfassung. Wenn auch für Kriegsdauer auf Eis gelegt, war sie für längere Zeit der Historie das fortgeschrittenste Grundgesetz zugunsten von Menschen- und Bürgerrechten, Gesellschaft und Staat.

Robespierre selbst, der als ein Schüler Rousseaus die „Volkssouveränität“ zum Staatsrechtsprinzip erhob, hatte die soziale Not vieler Menschen beklagt. Er wolle das liberalistische „Recht auf Eigentum“ durch das „Recht auf Leben“ eingeschränkt wissen: „Das Eigentumsrecht wird wie alle anderen Rechte begrenzt durch die Verpflichtung, die Rechte des anderen zu achten... Die Gesellschaft ist verpflichtet, für den Lebensunterhalt aller ihrer Glie-

der zu sorgen, indem sie ihnen Arbeit gibt oder denen, die arbeitsunfähig sind, die Existenzmöglichkeit sichert.“ Der Jakobinerführer forderte in der verfassungsmäßigen Bürgerordnung eine humane Gerechtigkeit für alle. Doch hier war der Punkt erreicht, wo auch das Jakobinertum an seine kapitalistischen Grenzpfähle gelangte.

Am 25. Juni nun wurden die Saaltüren des Nationalkonvents aufgerissen, die Wachposten beiseite geschoben, die Abgeordneten aus der feierlichen Rückbetrachtung des Vortages geschreckt. Herein drängte die Bürgerabordnung des Pariser Armenviertels Gravilliers. Auf die Tribüne stieg ihr Sprecher, ein Mann,' dem Robespierre bei der Verfassungsdebatte das Wort verweigert hatte. Er verlas eine Adresse an den Konvent, die in den Bürgerversammlungen zweier Stadtbezirke beraten und beschlossen war. In seiner Stimme bebte das Pathos der Revolution, allerdings formuliert von Volksrevolutionären, die sich betrogen fühlten.

„Habt ihr die Spekulation geächtet? Nein. Habt ihr die Todesstrafe für Schieber verhängt? Nein. Habt ihr bestimmt, worin die Freiheit des Handels besteht? Nein. Habt ihr den Handel mit Hartgeld verboten? Nein. Nun gut - wir erklären euch, daß ihr für das Glück des Volkes nicht alles getan habt. Freiheit - ein leerer Wahn, solange eine Menschenklasse ungestraft die andere aushungern kann. Gleichheit - ein leerer Wahn, wenn der Reiche mit Hilfe des Monopols das Recht über Leben und Tod seines Mitmenschen ausübt. Leerer Wahn auch eine Republik, wenn sich die Konterrevolution tagtäglich durch den Preis der Lebensmittel vollzieht, den drei Viertel der Bürger nicht bezahlen können ... Vier Jahre lang haben nur die Reichen aus der Revolution Nutzen gezogen. Die Reichen haben ihre Gesetze, und natürlich zugunsten der Reichen gemacht.“

Der Sprecher hieß Jacques Roux, katholischer Priester des Armen vierteis, Prediger, Gemeinderat und Anführer der sansculottischen Gruppe,

die in der Historiographie als „EnrageV, demnach als Zornige, Wütende oder gar Rasende selten gutgeheißen, zumeist verschwiegen oder verteufelt wird. „Fackel der Sehenden! Stachel der Trägen!“ nannte er sich selbst. Seine „Fackel“ leuchtete in die Kluft, die zwischen den Revolutionsgewinnlern der Bourgeoisie und den Revolutionserwartungen der unbemittelten Volksschichten gähnte - um es in seiner sozialethischen Urteilsweise zu sagen: in die Kluft zwischen den „Egoisten“ und der „arbeitsamsten Klasse der Gesellschaft“. Sein „Stachel“ sollte Waffe sein: der Armen gegen die Reichen, der Hungernden gegen Spekulanten und Schieber, der Volksmassen gegenüber Abgeordneten, Revolutionsbürokraten und bürgerlicher Regierung. Roux stellte die „neue Aristokratie“ an den Pranger - die Geldaristokratie, die die „Privatvermögen und die Schätze der Republik“ habgierig und arglistig an sich riß: „Ihr bemächtigt euch der Manufakturen, der Seehäfen, aller Handelszweige und aller Produkte der

Erde, um die Freunde des Vaterlands durch Hunger, Durst und Blöße zugrunde zu richten und sie dem Despotismus in die Arme zu treiben.“

Die apostrophierten Vaterlandsfreunde waren Handwerker und Einzelhändler, Lohnarbeiter und Bauern: Männer und Frauen, die in Produktion und Handel als Kleinstbesitzer, Arbeitskraft, Mehrwerterzeuger sowie in Bürgerkrieg und Vaterlandsverteidigung als Bastillestürmer, Adelsschreck, Monarchenstürzer, Revolutionssoldaten gebraucht wurden - und die bei alledem „Freiheit“ und „Gleichheit“ wortwörtlich nahmen. Sie kämpften für die Revolution in der zähen Hoffnung, schon in Lebzeiten der Übervorteilung, Ausplünderung und Unterdrückung ein Ende zu setzen. Dieses existentielle Interesse und diese vollkommene Illusion waren Kraftquell der epochemachenden Umwälzung.

Sie beseelten auch den Appell an ein Abgeordnetenhaus, das weniger als Vertretung des Bürgertums, mehr des Volkes gewünscht wurde. Roux wollte die Konventsdeputierten bewegen, im Namen des Volkes - des höchsten Souveräns - ein Ächtungsgebot gegen Spekulanten und Schieber in die Verfassung aufzunehmen. Er erntete Wutschreie der Empörung. „Wer die Verfassung nicht liebt, verleumdet ihre Freunde!“ posaunte der Konventspräsident. „Das Motiv gab sich volksmäßig, im tiefsten aber war es Brandstiftung!“ dozierte Robespierre. Man sprang von den Sitzen und schrie nach der Polizei, um den Petitionär verhaften zu lassen. Der Kritik, daß die Gesetze von Reichen für Reiche gemacht wurden, stellte sich keiner.

Roux starb im Gefängnis. Seine Anhänger wurden <ver-< “f.ölgt 1 ,^dj.e “Pariser Volkskomi- \ tees zerschlagen. Docn' iKre Fragen überdauerten: Gelten die verheißenden Menschenund Bürgerrechte nur solange, bis die Revolutionsgewinner jeweils weit genug aufgestiegen sind, um dem Volk den Brotkorb hoch- und den Maulkorb umzuhängen?

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