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Die letzte Zuflucht der Waldmenschen
Im Regenwald der zu Indien zählenden Inselgruppe der Andamanen leben noch 600 Angehörige von vier verschiedenen Negrito-Völkern
Der Mann steht mitten auf der Straße, er ist muskulös und schwarz wie Ebenholz, einen ganzen Kopf kleiner als ein Durchschnittseuropäer. Ein aus Bast und Blättern geflochtener Panzer schützt seine Brust. Um die Hüften trägt er nur ein rotes Stoffband. Seine Haut ist auffallend glatt, ohne ein einziges Haar. Nur auf dem Kopf, um den sich ein knallrotes Band windet, erkennen wir kleine Haarbüschel. In der linken Hand trägt der Mann einen zwei Meter langen Bogen und drei ebenso lange Pfeile mit Eisenspitzen.
Neugierig und ein wenig ängstlich halten wir. Dunkle, traurige Augen blicken uns an, während sich ein Arm ins Wageninnere schiebt. Hastig suchen wir Bananen aus einer Tüte. Die verschwinden im roten Hüftband und die Hand erscheint abermals. Wir reichen dem Waldbewohner so viele Früchte, wie er haben will, und nehmen gestenreich Abschied.
Von der Hauptstadt Port Blair aus waren wir der »Andaman Trunk Road« nach Norden gefolgt, der einzigen Straßenverbindung über die drei Hauptinseln der Andamanen-Gruppe. Nach einer halben Stunde schon standen wir vor einer Barrikade. Ein bewaffneter Polizist stieg in den Wagen, bevor wir die Erlaubnis erhielten, ins Gebiet der Jarawas, der Ureinwohner der Insel, einzufahren. Bald darauf verschluckte ein nahezu undurchdringliches Pflanzendickicht die Straße. Wir befanden uns in einem der letzten Wälder der Welt, wo niemals Bäume gefällt wurden.
Die Andamanen-Inseln sind von vier verschiedenen Negrito-Völkern bewohnt, die zusammen höchstens 600 Individuen zählen. Die 300 Jarawas bilden die stärkste Gruppe. Ihre Nachbarn, die Groß-Andamaner, wurden von Eroberern und Infektionskrankheiten auf ganze 40 Nachkommen dezimiert. Die Zahl der Onge auf Klein-Andaman ging von über 600 auf weniger als 100 zurück, als man die Wälder der Insel rodete und Ölpalmplantagen anlegte. Auf der Insel Sentinel leben etwa 100 Negritos, die sich bis heute mit Waffengewalt gegen jeden Kontakt zur Außenwelt wehren und ihre Freiheit verteidigen.
Vermutlich sind die Andamaner versprengte Nachkommen der Ureinwohner der südostasiatischen Inselwelt, deren Nachfahren heute auch in Malaysia und auf den Philippinen leben. Als Wildbeuter durchstreifen sie die Wälder, jagen Wildschweine und fangen Fische, sammeln Früchte, Wurzeln und Honig. Die Waldnomaden leben in zeitweiligen Unterkünften aus Hölzern und Blattwerk, das zum Kochen nötige Feuer bewahren sie mit Hilfe glimmender Lunten auf. Die Leipziger Ethnologin Carola Krebs vermutet, dass die Andamaner seit rund 40000 Jahren auf den Inseln zu Hause sind.
Die etwa 200 Andamanen-Inseln und die rund 50 Nikobaren bilden die Gipfel einer maritimen Gebirgskette, die sich parallel zur Küste Myanmars erstreckt. Zu den frühen Besuchern zählten Schiffbrüchige, Piraten und arabische Sklavenhändler. Aber nur wenige kehrten zurück. So erlangten die Inseln den Ruf eines verwunschenen Fleckchens Erde. »Die Bewohner von Andaman sind ein viehisches Geschlecht mit Köpfen, Augen und Zähnen wie Hunde«, berichtete Marco Polo im 13. Jahrhundert. Die Inselgruppe wurde von keiner Armee erobert, von keinem König regiert. Sie blieb ein weißer Fleck auf der Karte, bis im 18. Jahrhundert Europäer in den Golf von Bengalen einfuhren.
Die kleinen Inselvölker behaupteten sich gegen Sklavenfänger, Wilderer und Seeräuber, bekämpften auch jeden Versuch europäischer Kolonialisten, Stützpunkte auf der Inselgruppe zu errichten. Die Briten setzten sich zunächst mit den Groß-Andamanern an den Küsten der Insel Süd-Andaman auseinander. Mit Geschenken und medizinischer Hilfe versuchten sie, ihr Vertrauen zu gewinnen. Gegen den Widerstand einzelner Gruppen schickten sie Strafexpeditionen aus.
Masern, Grippe und Syphilis rafften die Groß-Andamaner zu Tausenden dahin, denn dagegen besaßen sie keine Abwehrkräfte. Doch auch die Eroberer wurden von Malaria und anderen Krankheiten dezimiert. Britischen Truppen gelang es erst beim zweiten Versuch im Jahr 1836, die Siedlung Port Blair auf Süd-Andaman zu etablieren. Die Inseln, mehr als tausend Kilometer vom indischen Festland entfernt, erschienen den Briten bestens geeignet, Schwerverbrecher und indische Freiheitskämpfer zu verwahren. Um die Jahrhundertwende entstand ein riesiges Gefängnis nahe Port Blair: 698 Einzelzellen in sieben Gebäudeflügeln, die sternförmig auf einen Wachturm zuliefen. In Arbeitsbaracken mussten die Häftlinge Kokosnüsse auspressen und Seile knüpfen. Sie nannten den Ort »Kala Pani« - schwarzes Wasser.
Das Gefängnis wurde später zum Nationaldenkmal umgewidmet. In einer Zelle im zweiten Stock prangt ein von roten Vorhängen eingerahmtes Wandgemälde, das den prominenten Gefangenen Vinayak Damodar Savarkar darstellt. Besucher aus Indien legen hier Blumen nieder und beten zu Ehren des Vordenkers nationalistischer Hinduparteien. Chauvinisten glorifizieren Savarkar als Gegenfigur zu Mahatma Gandhi, obwohl die Geschichtsforschung nachwies, dass er den Briten wiederholt seinen Rückzug aus der Politik anbot, um diversen Mordanklagen zu entgehen. Savarkars Anhänger waren es denn auch, die den Friedensapostel Gandhi im Januar 1948 erschossen. Im Mai 2002 benannte Indiens Innenminister L.K. Advani den Flughafen von Port Blair nach dem angeblichen Freiheitshelden. »Veer (der Tapfere) Savarkar hat mich seit meiner Jugend inspiriert«, bekannte Advani.
Die Inselgruppe wird von der Zentralregierung in Delhi wie eine Kolonie verwaltet. In der fernen Hauptstadt schmiedet man Entwicklungspläne für Straßenbau und Holzproduktion, Freihandelszonen und Urlaubsparadiese. In den 50er und 70er Jahren brachte man Tausende von Flüchtlingen aus dem heutigen Bangladesch auf den Inseln unter. Heute locken Subventionen und Sozialleistungen, die den Inselbewohnern das Leben erleichtern sollen, verarmte Bauern vom Festland an. Der tropische Regenwald ist fast um ein Drittel geschrumpft.
Ein Fährschiff setzt uns zur Insel Mittel-Andaman über. Noch einige Kilometer und wir erreichen die Siedlung Kadamtala, ein paar Dutzend Häuser mit Polizeistation und Basar am Rande des Waldes. Nach einer Teepause fahren wir weiter in den nördlichen Teil des Jarawa-Reservats. Diesmal ohne amtlichen Begleiter.
Da sind sie wieder: Fünf jugendliche Jarawas sperren mit einem dünnen Seil symbolisch die Straße. Wir packen die Bananen aus. Die Wegelagerer schreien, drohen, führen Tanzeinlagen auf und verlangen immer wieder Geschenke. Nach einigen Runden Bananen legt sich die Aufregung. Neugierige Blicke, Fragen, eine zaghafte Berührung. Unser Fahrer fädelt ein Gespräch mit einem Mädchen ein: »Alles in Ordnung? Wie heißt du?« - »Piyale« - »Und deine Geschwister?« - »Tatchi und Tatiwar. Dort am Waldrand, da steht mein Onkel.« - »Alles klar, wir fahren weiter.«
Ein absurdes Bild: Mitten im Dschungel tanzt eine Hand voll Nackter um ein Auto, in dem sich ebenso viele bekleidete Bleichgesichter verstecken. Die Kommunikation beschränkt sich auf einen einfachen Deal: Du gibst Bananen, dafür darfst du mich anglotzen und fotografieren. Dank der Besuche durch Regierungsbeamte und Ethnologen kennen die Waldmenschen ein paar Brocken Hindi, so dass eine bruchstückhafte Verständigung möglich ist. Aber worüber können wir uns unterhalten? Über das Wetter? Über den neuesten Kinofilm oder die Börsenkurse?
Die Inselverwaltung versucht die Nomaden mit Wohlfahrtsprogrammen in den so genannten Hauptstrom der Gesellschaft einzubeziehen. Doch viele bezweifeln den Sinn dieser Politik: »Welche Position würden wir ihnen denn zuweisen?« fragt Jarawa-Experte Samir Acharya. »Ich glaube nicht, dass ein Jarawa bereit wäre, sich auf ein Leben als Lohnarbeiter einzustellen. Man sollte sie leben lassen wie zuvor.«
Acharya gründete vor 15 Jahren die Gesellschaft für Andamanische und Nikobarische Ökologie. Sie verhandelt mit Behörden und Politikern, organisiert ökologische Forschungen, ruft Gerichte an, um die Inselwelt und ihre Bewohner zu schützen. Die größte Gefahr gehe von der Verbindungsstraße aus, meint Acharya: »Ich denke, die Jarawas kommen zur Straße, weil es die Straße gibt! Das ist für sie ein bequemer Weg, an bestimmte Dinge heranzukommen. Aber das ist nicht ohne Gefahren - Krankheiten zum Beispiel, gegen die sie keine Abwehrkräfte besitzen. Vor drei Jahren erfasste eine Masern-Epidemie nahezu alle Jarawas. Glücklicherweise konnten sie durch die rasche Intervention eines Arztes gerettet werden. Ich hoffe nur, dass sie sich keine Hepatitis-B oder AIDS einfangen, das wäre ihr Ende. Je eher die Straße geschlossen wird, desto besser stehen ihre Überlebenschancen.«
Jahrelang sammelten Samir Acharya und seine Kollegen Beweise für Misswirtschaft und Korruption in der Forstverwaltung. Die Ergebnisse reichten sie beim höchsten Gericht Indiens ein, das im Oktober 2001 die Einstellung aller forstwirtschaftlichen Aktivitäten anordnete. Seither darf auf den Andamanen und Nikobaren kein Baum gefällt werden. Im Mai 2002 verhandelten die Richter den Fall erneut und drängten die Verwaltung, die Verbindungsstraße zu schließen, zumindest in jenen Abschnitten, die das Reservat berühren. Doch die Verwaltung erhob Einspruch: Die Inseln könnten eine Schließung der Straße wirtschaftlich nicht verkraften. Das Gericht wird sic...
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