Die Opfer sind weiblich, jung und schön

Seit zehn Jahren verschwindet pro Woche mindestens eine Frau in Ciudad Juárez

  • Andreas Behn, Mexiko-Stadt
  • Lesedauer: ca. 4.0 Min.

»Die Polizei hat nahe Ciudad Juárez erneut die Leiche einer jungen Frau gefunden«, berichtet die Zeitung »Diario de Chihuahua«. »Die Leiche wies Spuren sexueller Misshandlung auf, was auf einen weiteren Fall der mysteriösen Mordserie an Frauen hinweist.«

Im nordmexikanischen Bundesstaat Chihuahua sind solche Meldungen fast alltäglich. Vor allem Ciudad Juárez, unmittelbar an der Grenze zu den USA gelegen, hat traurige Berühmtheit erlangt: Über 320 Frauen und Mädchen sind hier seit 1993 brutal ermordet worden, zwischen 400 und 500 sind spurlos verschwunden. Verzweifelt suchen ihre Familien nach ihnen, meist ohne Erfolg und oftmals ohne Unterstützung durch die Behörden, klagt Evangelina Arce. Ihre Tochter Silvia war im März 1998 nicht nach Hause gekommen. »Sie haben nicht einmal richtige Ermittlungen eingeleitet. Ich will doch nur, dass sie meine Tochter suchen«, sagt sie verbittert. Die Opfer weisen viele Gemeinsamkeiten auf. Alle sind Frauen, jung und schön. Die meisten stammen aus sehr bescheidenen Verhältnissen. Nicht alle - laut Polizei lediglich zwei von fünf Mordopfern - waren sexueller Gewalt ausgesetzt. Deswegen sagen die Behörden, es sei übertrieben, von einer Sexualmordserie zu sprechen. Angehörige und Menschenrechtsgruppen halten es dagegen nicht für zufällig, dass so wenige der Verbrechen aufgeklärt werden. Sie verdächtigen staatliche Stellen vielmehr, mit den Serientätern Verbindungen zu haben. Sollte es wirklich ein kriminelles Kartell geben, das es auf junge Frauen abgesehen hat, dann wäre Mexikos Norden dafür eine geeignete Region. Außerhalb der Städte ist es einsam, nur selten kommt man auf den staubigen Landstraßen an Dörfern vorbei. Zahlreicher sind die Ruinen von Bauernhäusern und verlassene Landhäuser. Die Landschaft ist wüstenartig, Kakteen und dürre Sträucher, so weit das Auge reicht. In der Umgebung haben sich viele Maquilas angesiedelt, so genannte Teilfertigungsfabriken. Hier lassen große US-amerikanische oder japanische Unternehmen die arbeitsaufwändigen Phasen ihrer Produktion erledigen. Mexikos Regierung preist das als wirtschaftlichen Fortschritt, weil Investitionen und Arbeitsplätze ins Land kommen. Doch die Löhne in den rund 300 Maquilas sind ärmlich, die Arbeitsbedingungen prekär, eine gewerkschaftliche Vertretung ist fast unmöglich. Die große Mehrheit der Maquila-Beschäftigten sind Frauen - weil ihnen noch weniger gezahlt werden kann und weil sie im Gegensatz zu vielen Männern bereit sind, so niedere Tätigkeiten anzunehmen, um ihre Kinder zu ernähren. Viele sind nur wegen dieser Jobs in diese Gegend gezogen, allein oder mit Kindern. Andere arbeiten als Prostituierte oder Kellnerinnen in Bars und Restaurants. Die Vereinzelung, die Armut und Arbeitsschichten, die oft mitten in der Nacht enden, machen es potenziellen Frauenmördern leicht. Unheimlich ist, dass bislang kein Motiv für die vielen Verbrechen ermittelt wurde: Zwangsläufig lässt man der Fantasie freien Lauf. Mal ist von satanischen Ritualen zu hören, mal von grenzüberschreitendem Frauenhandel, von Psychopathen oder von Drogenhändlern, die ihre Finger im Spiel haben sollen. Der Zustand, in dem die Opfer von Sexualverbrechen aufgefunden wurden, lässt immer wieder auch die grauenhafte Version aufkommen, Hersteller so genannter Snuff-Videos, gewaltverherrlichender Pornostreifen, steckten hinter der Mordserie. »Ich denke, dass alle Erklärungen in Frage kommen. Aber die wesentliche Ursache ist die Straflosigkeit«, sagt die Frauenrechtlerin Irma Campos Madregal aus Ciudad Juárez, »denn wenn niemand zur Rechenschaft gezogen wird, wenn die Täter machen können, worauf sie Lust haben, dann wird alle Welt in Ciudad Juárez Verbrechen begehen können.« »Seit zehn Jahren verschwindet pro Woche mindestens eine Frau in Ciudad Juárez. Warum wird nichts dagegen getan?« fragt auch die Angehörigen-Gruppe »Por Nuestras Hijas« (Für unsere Töchter). Sie beklagt, dass Polizei und Regierung zu wenig unternehmen, Ermittlungen fast immer im Sande verlaufen. Und das, obwohl die Nationale Menschenrechtskommission Mexikos (CNDH) sich mehrfach zu Wort gemeldet und den Präsidenten gemahnt hat, in der Sache tätig zu werden. Die außergewöhnliche Brutalität der Verbrechen steht im Mittelpunkt einer Studie von Amnesty International. Viele der Opfer - die jüngsten gerade zwölf Jahre alt - wurden nicht einfach umgebracht. Sie wurden vergewaltigt, gefoltert, misshandelt und dann erhängt oder zu Tode geprügelt. »Als wir sie fanden, bezeugte der Körper meiner Tochter all das, was sie ihr angetan hatten«, berichtete Norma Andrade, Mutter von Lilia Alejandra, die vor zwei Jahren auf einer Brache direkt neben der Maquila, in der sie gearbeitet hatte, tot aufgefunden wurde. Es ist gar nicht so lange her, da wurden die Frauen von den Behörden sogar selbst für ihre Lage verantwortlich gemacht. »Frauen, die abends ausgehen, oft noch spät, und Kontakt mit Betrunkenen haben, gehen ein Risiko ein. Wer auf die Straße geht, lebt gefährlich«, kommentierte vor vier Jahren Chihuahuas damaliger Staatsanwalt Arturo González Rascón. Auch die Art und Weise, wie sich die Frauen kleiden, provoziere Verbrechen. Seit der Amnesty-Kampagne schlägt die Polizei andere Töne an. Derzeit werde in 228 Fällen ermittelt, erklärte am 6. September der Sonderstaatsanwalt für organisierte Kriminalität, José Luis Santiago Vasconcelos. Offenbar hat die Bundesanwaltschaft die Frauenmorde zur Chefsache erklärt. Nicht zuletzt weil Morde seit einigen Monaten nicht nur in der berüchtigten Grenzstadt begangen werden. Auch in der Staatshauptstadt Chihuahua nimmt die Zahl der Verbrechen an Frauen zu. Santiago Vasconcelos stimmt mit den Angehörigen überein, dass es sich »um Serienmorde handelt, hinter denen womöglich gewalttätige Kulte, Videoproduktionen oder auch Nachahmungstäter stehen«. Für das Desinteresse der meisten Menschen in Chihuahua macht der Staatsanwalt das »Wegbrechen des sozialen Netzes« mitverantwortlich. Diese Verwahrlosung führe dazu, dass »alle Verbrechen, vom Handel mit gestohlenen Autos bis hin zu Entführungen und Drogenhandel, einfach tole...

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