»Zeitreserve Sibirien« - eine Hörspielreihe des Deutschlandfunks
Silvia Schulz
Lesedauer: 5 Min.
Sonntags war Zeit zum Singen. Der breite Vater saß auf dem Küchentisch, der Enge wegen, die Gitarre auf den Knien hob die Augen zur weißen Decke und stimmte mit Inbrunst an: »Herrlicher Baikal, du heiliges Meer, auf einer Lachstonne will ich dich zwingen...« Den Text beherrschte er auch auf Russisch - die Szene spielt vor fünfundvierzig Jahren in der DDR. Furcht vor Pathetik war ihm fremd, er hatte Lied und Instrument in den ersten Jahren der FDJ gelernt. Slawnoje morje, swjaschtschennyi Bajkal. Die Töchter staunten über Gitarrenkünste und ungewohnte Worte. Heilig? Wozu sollte dieser Baikal auf einer Lachstonne gezwungen werden? Ein Märchen? Vater samt Mutter mühten sich redlich: Tiefster See der Erde und länger als die ganze DDR! In Sibirien! Da fiel es zum ersten Mal, das magische Wort. Sibirien - unermesslich, riesig, Verbannte, Sträflinge, Taiga, Kälte, Bodenschätze... Aber auch die Eltern kannten nur Filme oder Schilderungen über den unbegreiflichen Raum zwischen Ural und der Insel Sachalin im Stillen Ozean. Ihre Bilder waren noch von der begeisterten Überzeugung geprägt, der Mensch, gerade der sozialistische, könne sich Natur und Landschaft gefügig machen. Was es wirklich bedeutete, auf einer hölzernen Tonne den Baikal zu überqueren, lässt das Lied nur ahnen. »Starker Nordost treibt die Wellen daher, Rettung, sie muss mir gelingen.«
In einem Flugzeug Sibiriens unendliche Landmassen zu überfliegend, schrieb Heiner Müller: »Man sieht eine völlig unbewohnte Landschaft, Berge mit Schnee und Eis, dazwischen Flüsse und das Wesentliche ist die Ausdehnung und die Leere. Es ist so etwas wie eine Zeitreserve...«
Sibirien als Hoffnung und Rettung für die Menschheit? Der Deutschlandfunk scheut sich nicht, dieses Thema so groß anzugehen. Seine Hörspielreihe »Zeitreserve Sibirien« nimmt sich fast ein Vierteljahr davon, um diesen »unbekannten kulturellen Raum« zu erkunden, sendet »Geschichten aus, nicht über Sibirien«. Es sind alte und neue Entdeckungen. Heute Abend zum Beispiel Schukschins »Energische Leute«, an anderen Tagen dann Rasputins »Abschied von Matjora«, »Der ältere Sohn« von Wampilow, das Märchen »Gorbunok, das Wunderpferdchen« von Pjotr Jerschow: »Hinter Bergen, Wäldern Meeren, irgendwo im Ungefähren, aber noch auf dieser Welt...«
Fast nahtlos könnte man daran die Stimme des Erzählers Gottfried John schneiden, dennoch befinden wir uns im Heute: »Eine Landstraße, lichtes Wiesengrün, finsterer Wald. Mitten auf der Wiese eine Grenzsäule. Ein bedeutungsvoller Steinobelisk. Der einem Elefantenfuß ähnelt. Oder einer Atomrakete...« Markiert wird die Grenze zwischen den Erdteilen. »Europa - Asien« hieß das Hörspiel der jungen sibirischen Autoren Oleg und Wladimir Presnjakow, mit dem am 11. Oktober die Reihe begann. Eine falsche Hochzeitsgesellschaft wartet auf ausländische Touristen und naive Landsleute. Sprit wird gemixt und als Wodka ausgeschenkt - wer versagt da schon der jungen Braut, deren Bräutigam im Rollstuhl sitzt, eine fette Geldspende! Hier, wo auf Kommando alle Uhren stehen bleiben, hier spielt die »unnachahmliche russische Art« Zirkus mit den überkommenen Vorstellungen der westlichen Ausländer. Da diese einen »angeborenen Respekt vor "Rübe abschrauben"« besitzen, lassen sie sich etwas bieten. Doch Vorsicht, hier beginnt Sibirien, yes! Über und unter allem summt die obligatorische Fliege, scheinen Wale zu singen, klicken Fotoapparate, rattern Maschinengewehre, tönt verzerrt »Kalinka« oder »Vaterland, kein Feind soll dich gefährden«, besinnt man sich auf Dostojewski, lässt Tiger fauchen. Der Regisseur Wolfgang Rindfleisch hält seine Produktion für eine Art Mischung aus »Peter und der Wolf« und dem alten sowjetischen Spielfilm »Rette sich wer kann«. Er untertreibt. Die beiden Autoren haben Einfallsreichtum und die Lebenskraft der Sibirier grotesk auf die Spitze getrieben.
Real bekräftigt Viktoria Balon diese Haltung in ihrem Feature »Akademgorodok - eine sibirische Utopie« (Sendung am 25. November). »Wenn man sein Schicksal radikal verändern will, muss man so weit wie möglich, nach Osten fahren« - daran glaubten in den sechziger Jahren die Eltern. In der tiefsten Taiga bei Nowosibirsk gab mit dem Ende des Stalinkultes das »Wissenschaftsstädtchen« jungen und bewährten Wissenschaftlern die Chance sich auszuprobieren. In der Arbeit, der Freizeit, der Liebe, der Kunst. Ihren Klub nannten sie »Integral«, das Erdgeschoss »Nenner«, den ersten Stock mit Bar - »Zähler«. »Die Bürger des Integrals gründeten eine Art Spielzeugstaat mit eigener Verfassung, Ideologie und Regierung... Im Grunde haben wir Freiheit angeboten.«
Größte Freiheit und schrecklichster Zwang, Sibiriens Zeichen. »Nach Australien in der Vergangenheit und Cayenne ist Sachalin der einzige Ort, wo man Kolonisierung durch Verbrecher studieren kann...« Am 15. April 1890 macht sich der Dichter Anton Tschechow dahin auf den Weg: »Aber der Dampfer. Der Dampfer. Tutet ständig. Ein Tuten zwischen Eselsgeschrei und Äolsharfe.« Doch die Strapazen beginnen erst, klirrende Kälte, Morast, Fußmärsche, Rauch von Waldbränden, Am 5. Juni hat er in Irkutsk 3000 Werst hinter sich, am 11. Juli trifft er in Alexandrowsk auf Sachalin ein. Eine Sträflingsinsel, wo selbst Schweine angekettet und Frauen streng verteilt werden... Lothar Trolle und Regisseur Klaus Buhlert werfen in »Sachalin - die Insel« (Sendung am 8. November) menschliche Existenz auf ihre einfachsten Grundlagen zurück, eine »Metapher für ein Gesellschaftsexperiment«.
»Deiner fernen Wüste Trauer«, die anrührenden Erinnerungen der Gräfin Maria Wolkonskaja beenden am 13. Dezember die Reihe. Ihr Mann Sergej, Dekabrist, wird 1826 verurteilt und nach Sibirien geschickt. Die Gräfin folgt ihm: »Wie immer dein Schicksal aussieht, ich werde es teilen.« Gerade 21 Jahre alt ist sie, dem Zarenhof nahe, eine Muse Puschkins, verwöhnt und geliebt. An ihre Kutsche hat sie das Klavichord gehängt und bringt es wirklich die tausende von Werst bis zum Verbannungsort ihres Mannes. Sie ist zart und schön, »mit wundervoll blitzenden Augen und einer stolzen Haltung«. Die fensterlosen Gefängniswände in Petrowsk bezieht sie mit Seidenstoff, »meine ehemaligen Gardinen« aus Petersburg, stellt das Klavichord auf - »es sah schmuck bei mir aus«. Fünfundzwanzig Jahre wird sie in Sibirien verbringen. Christine Nagel inszeniert unsentimental. Das Hörspiel schwebt dennoch in einer eigenwilligen Melancholie, geschaffen durch Puschkins Verse und die nachhallende Musik. Die Suche nach dem Sinn des Daseins durchdringt wohl alle Beiträge der Hörspielreihe auf komische oder schmerzhafte Weise. Wie das ständige Tuten des Dampfers, »dem Ton zwischen Eselsgeschrei und Äolsharfe«. Anton Tschechow steht zum Schluss an der Küste Sachalins: »Das Meer toste und schickte graue Wellen an den Strand. Herrgott, warum hast du uns geschaffen? So hörte sich das an...nichts Lebendiges. Kein Vogel, keine Fliege.« Nur die Zeit, viel Zeit und die ewige Hoffnung.
»Zeitreserve Sibirien - Eine Hörspielreihe des Deutschlandfunks«, noch bis 13. Dezember. Jeweils dienstags 20.10 Uhr und samstags 20.05 Uhr.
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