»Wir sind doch mehr Russen«

Die Lebensgeschichte einer Koreanerin in Zentralasien

  • Lennart Lehmann
  • Lesedauer: ca. 4.0 Min.

Die koreanische Minderheit in Kasachstan hat sich gesellschaftlich etabliert. Ihr Anpassungsgeschick und ihre Beharrlichkeit erwecken aber auch Neid.


Vera Kim (Name geändert) griff 1944, an ihrem ersten Geburtstag, zum Reis. Der erste Geburtstag eines Kindes wird unter Koreanern groß gefeiert, alle Verwandten werden dazu eingeladen. Man legt dem Kleinkind verschiedene Gegenstände vor: Reiskörner, Salzkristalle, Bleistifte, Münzen, Nadel und Faden oder Bonbons. Greift das Kind zum Kohlestück, wird es niemals frieren, sagt man. Hat es die Garnrolle in der Hand, wird es vermutlich Schneider werden. Wenn das Kind nach den Reiskörnern langt, wird es angeblich immer satt sein. »Vielleicht habe ich ja auch wirklich weniger gehungert als andere«, sagt Vera.
Heute wohnt sie mit ihrem deutschstämmigen Mann Jakob in der Tagebaustadt Rudny. Sie essen gerne, trinken gerne und sehen ganz zufrieden aus. »Aber in der Sowjetunion konnte man mehr reisen«, schränkt Vera ein.
»Ici, ici!«, ruft sie regelmäßig nach ihrer sechs Jahre alten Enkelin. Die ehemalige Französischlehrerin arbeitet daran, dass ihre Enkelin Kosmopolit wird, während die Mutter arbeitet. »Unsere Stärke ist, dass wir uns überall einrichten können.« Vor 66 Jahren wurden ihre Eltern und vier ihrer acht Geschwister aus dem Fernen Osten der Sowjetunion mitten im kalten Winter in Güterwagen in die kasachische Steppe deportiert. Nach amtlichen sowjetischen Angaben wurden während der Zwangsumsiedlung ab September 1937 rund 180 000 Koreaner aus dem an Japan und China grenzenden Gebiet in die zentralasiatischen Sowjetrepubliken »evakuiert«. Aus Angst, dass sich japanische Spione unter die koreanisch-stämmige Bevölkerung mischen könnten. Das ist noch heute die offizielle Begründung. Die Radikalität dieser Maßnahme wird dadurch unterstrichen, dass Veras Vater bis zur Deportation selber für den Sicherheitsdienst NKWD arbeitete.
»In Kasachstan lebten wir in Erdlöchern«, sagt Vera. Um eine ausgehobene Grube wurden Ziegel gemauert, ein Dach darüber, eine Pritsche, ein Ofen - mehr gab es nicht. Tausende überlebten den Transport und die kalten Winter nicht.
Heute beherrschen Koreaner weite Teile des Lebensmittelmarktes in Kasachstan. Berühmt sind sie für ihre Salate aus eingelegtem Gemüse, Pilzen, Fleisch und Fisch, die sie zu hohen Pyramiden aufgeschichtet in den Markthallen verkaufen. Sie betreiben viele der kleinen Restaurants, in denen der Wodka fließt. Auf Nachfrage bekommt man bei koreanischen Gastronomen aber auch Hundefleisch, frittiert oder in der Suppe. »Kein Koreaner ist arm«, hört man Kasachen oft neidvoll sagen. »Ein Koreaner darf nicht betteln«, sagt Kim dazu, »durch Gras und Fisch und Reis kommen sie nach oben«.
Noch mehr als die Deutschen gelten Koreaner in Kasachstan als arbeitsam und clever. Seit Anfang der 90er Jahre - nach der Auflösung der Sowjetunion und der Aufnahme diplomatischer Beziehung zwischen Südkorea und den GUS-Staaten - pflegen auch südkoreanische Geschäftsleute und Missionare aktive Kontakte in Kasachstan.
Kim hat in den 60er Jahren Jakob Eberhard geheiratet. Koreaner gehen häufiger Mischehen ein als etwa Russen, Kasachen, Deutsche oder Tschetschenen. Das hat auch damit zu tun, dass ihnen keine Siedlungsschwerpunkte zugewiesen wurden. Sie wurden über ganz Zentralasien verteilt. Nationale Eitelkeiten gibt es zwischen Vera und Jakob nicht. Die erste Tochter ist laut Pass Deutsche, die zweite Koreanerin. »Die erste ist Katholikin, die zweite Buddhistin«, lacht Jakob.
Wie die Russlanddeutschen waren auch die Koreaner zu Stalins Herrschaftszeit benachteiligt. Sie wurden zur Arbeitsarmee eingezogen, eine akademische Karriere blieb ihnen lange verwehrt. Doch wurden die Beschränkungen nach Stalins Tod gelockert. Veras Vater kämpfte 1941 an der Front gegen die deutsche Wehrmacht. Auch das mag dazu beigetragen haben, dass er nach dem Krieg ein Fernstudium in Taschkent absolvieren durfte.
Koreanische Schulen hatte es zwar noch im Fernen Osten gegeben, in Kasachstan dagegen war den Koreanern ihre Sprache lange verboten. Vera spricht, wie 75 Prozent ihrer Landsleute in Zentralasien, kein Koreanisch mehr, ihre Töchter sprechen Russisch und Kasachisch, das sich zunehmend als Amtssprache durchsetzt. Erst seit Anfang der 90er Jahre organisiert sich die koreanische Minderheit in Vereinigungen, die sich jedoch vorrangig auf Folklore beschränken.
Die wirtschaftliche und berufliche Lage der Koreaner stabilisierte sich allmählich in den 1960er und 1970er Jahren. Es war ihnen erlaubt, in ihre Heimatgebiete zurückzukehren, doch viele blieben, wo sie waren. Die Verschleppten der zweiten Generation hatten sich etabliert. Die geschäftstüchtigen profitierten zudem von der Schattenwirtschaft in der Sowjetunion. Mit dem Verkauf koreanischer Gerichte wie Kimtschi, getrocknetem Gemüse, Sundae (koreanische Wurst) oder auch Blumen ließen sich hohe Gewinne erzielen. Viele Koreaner errichteten ein kleines Treibhaus im eigenen Garten.
Anders als die Russlanddeutschen hat die koreanische Minderheit keine Möglichkeit, ins »Mutterland« auszureisen. Südkorea erlaubt nur Rentnern die Einreise, und nach Nordkorea wollen Kasachstans Koreaner nicht. Nicht nur die wirtschaftliche Lage dort schreckt sie. »Wir sind ja schon mehr Russen als Koreaner«, findet Vera. Dennoch hat ihr Mann für die Familie einen Ausreiseantrag gestellt - nach Deutschland. »Das kann nicht schaden«, lächelt er, während Vera erzählt, wie interessant es war, als sie auf dem Pariser Flughafen einen Koreaner traf, der aus dem Fernen Osten in die USA ausgewandert war. »Wir erkennen einander überall.«
Vera Kim (Name geändert) griff 1944, an ihrem ersten Geburtstag, zum Reis. Der erste Geburtstag eines Kindes wird unter Koreanern groß gefeiert, alle Verwandten werden dazu eingeladen. Man legt dem Kleinkind verschiedene Gegenstände vor: Reiskörner, Salzkristalle, Bleistifte, Münzen, Nadel und Faden oder Bonbons. Greift das Kind zum Kohlestück, wird es niemals frieren, sagt man. Hat es die Garnrolle in der Hand, wird es vermutlich Schneider werden. Wenn das Kind nach den Reiskörnern langt, wird es angeblich immer satt sein. »Vielleicht habe ich ja auch wirklich weniger gehungert als andere«, sagt Vera.
Heute wohnt sie mit ihrem deutschstämmigen Mann Jakob in der Tagebaustadt Rudny. Sie essen gerne, trinken gerne und sehen ganz zufrieden aus. »Aber in der Sowjetunion konnte man mehr reisen«, schränkt Vera ein.
»Ici, ici!«, ruft sie regelmäßig nach ihrer sechs Jahre alten Enkelin. Die ehemalige Französischlehrerin arbeitet daran, dass ihre Enkelin Kosmopolit wird, während die Mutter arbeitet. »Unsere Stärke ist, dass wir uns überall einrichten können.« Vor 66 Jahren wurden ihre Eltern und vier ihrer acht Geschwister aus dem Fernen Osten der Sowjetunion mitten im kalten Winter in Güterwagen in die kasachische Steppe deportiert. Nach amtlichen sowjetischen Angaben wurden während der Zwangsumsiedlung ab September 1937 rund 180 000 Koreaner aus dem an Japan und China grenzenden Gebiet in die zentralasiatischen Sowjetrepubliken »evakuiert«. Aus Angst, dass sich japanische Spione unter die koreanisch-stämmige Bevölkerung mischen könnten. Das ist noch heute die offizielle Begründung. Die Radikalität dieser Maßnahme wird dadurch unterstrichen, dass Veras Vater bis zur Deportation selber für den Sicherheitsdienst NKWD arbeitete.
»In Kasachstan lebten wir in Erdlöchern«, sagt Vera. Um eine ausgehobene Grube wurden Ziegel gemauert, ein Dach darüber, eine Pritsche, ein Ofen - mehr gab es nicht. Tausende überlebten den Transport und die kalten Winter nicht.
Heute beherrschen Koreaner weite Teile des Lebensmittelmarktes in Kasachstan. Berühmt sind sie für ihre Salate aus eingelegtem Gemüse, Pilzen, Fleisch und Fisch, die sie zu hohen Pyramiden aufgeschichtet in den Markthallen verkaufen. Sie betreiben viele der kleinen Restaurants, in denen der Wodka fließt. Auf Nachfrage bekommt man bei koreanischen Gastronomen aber auch Hundefleisch, frittiert oder in der Suppe. »Kein Koreaner ist arm«, hört man Kasachen oft neidvoll sagen. »Ein Koreaner darf nicht betteln«, sagt Kim dazu, »durch Gras und Fisch und Reis kommen sie nach oben«.
Noch mehr als die Deutschen gelten Koreaner in Kasachstan als arbeitsam und clever. Seit Anfang der 90er Jahre - nach der Auflösung der Sowjetunion und der Aufnahme diplomatischer Beziehung zwischen Südkorea und den GUS-Staaten - pflegen auch südkoreanische Geschäftsleute und Missionare aktive Kontakte in Kasachstan.
Kim hat in den 60er Jahren Jakob Eberhard geheiratet. Koreaner gehen häufiger Mischehen ein als etwa Russen, Kasachen, Deutsche oder Tschetschenen. Das hat auch damit zu tun, dass ihnen keine Siedlungsschwerpunkte zugewiesen wurden. Sie wurden über ganz Zentralasien verteilt. Nationale Eitelkeiten gibt es zwischen Vera und Jakob nicht. Die erste Tochter ist laut Pass Deutsche, die zweite Koreanerin. »Die erste ist Katholikin, die zweite Buddhistin«, lacht Jakob.
Wie die Russlanddeutschen waren auch die Koreaner zu Stalins Herrschaftszeit benachteiligt. Sie wurden zur Arbeitsarmee eingezogen, eine akademische Karriere blieb ihnen lange verwehrt. Doch wurden die Beschränkungen nach Stalins Tod gelockert. Veras Vater kämpfte 1941 an der Front gegen die deutsche Wehrmacht. Auch das mag dazu beigetragen haben, dass er nach dem Krieg ein Fernstudium in Taschkent absolvieren durfte.
Koreanische Schulen hatte es zwar noch im Fernen Osten gegeben, in Kasachstan dagegen war den Koreanern ihre Sprache lange verboten. Vera spricht, wie 75 Prozent ihrer Landsleute in Zentralasien, kein Koreanisch mehr, ihre Töchter sprechen Russisch und Kasachisch, das sich zunehmend als Amtssprache durchsetzt. Erst seit Anfang der 90er Jahre organisiert sich die koreanische Minderheit in Vereinigungen, die sich jedoch vorrangig auf Folklore beschränken.
Die wirtschaftliche und berufliche Lage der Koreaner stabilisierte sich allmählich in den 1960er und 1970er Jahren. Es war ihnen erlaubt, in ihre Heimatgebiete zurückzukehren, doch viele blieben, wo sie waren. Die Verschleppten der zweiten Generation hatten sich etabliert. Die geschäftstüchtigen profitierten zudem von der Schattenwirtschaft in der Sowjetunion. Mit dem Verkauf koreanischer Gerichte wie Kimtschi, getrocknetem Gemüse, Sundae (koreanische Wurst) oder auch Blumen ließen sich hohe Gewinne erzielen. Viele Koreaner errichteten ein kleines Treibhaus im eigenen Garten.
Anders als die Russlanddeutschen hat die koreanische Minderheit keine Möglichkeit, ins »Mutterland« auszureisen. Südkorea erlaubt nur Rentnern die Einreise, und nach Nordkorea wollen Kasachstans Koreaner nicht. Nicht nur die wirtschaftliche Lage dort schreckt sie. »Wir sind ja schon mehr Russen als Koreaner«, findet Vera. Dennoch hat ihr Mann für die Familie einen Ausreiseantrag gestellt - nach Deutschland. »Das kann nicht schaden«, lächelt er, während Vera erzählt, wie interessant es war, als sie auf dem Pariser Flughafen einen Koreaner traf, der aus dem Fernen Osten in die USA ausgewandert war. »Wir erkennen einander überall.«

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