Der Traum der Kommune lebt - als Altersheim

Die Zorrows in Berlin Wedding blicken auf eine 20-jährige Geschichte zurück

  • Michael Haering
  • Lesedauer: ca. 5.5 Min.
In der Anfangseuphorie der Wende ist Lehmann zusammen mit ein paar anderen Kommunebewohnern aufs Dach des vierstöckigen Gebäudes gestiegen, um dem nationalen Taumel in den Medien eine andere Weltsicht entgegenzuhalten. Immer abwechselnd stürzte sich einer von ihnen Hals über Kopf mit einem Pinsel in der Hand vom Dach runter, während die anderen ihn an den Beinen festhielten. So kamen die schwarzen Großbuchstaben eines Biermannspruchs an die Hauswand des ansonsten mit bunten Kugeln und Fensterornamenten bemalten Hauses an der Bornholmer Brücke: »Der Traum der Commúne schlief nur und ist doch noch nicht tot.«
Wer sich bei den Zorrows nach der nunmehr 20-jährigen Geschichte der Weddinger Wohnkommune in der Grüntaler Straße 38 erkundigen will, wird auch heute noch an Lehmann verwiesen. Einige der 15 Erwachsenen und zehn Kinder wohnen zwar ebenso lange in der Groß-WG, Lehmann aber kann am besten begründen, warum sie das tun. Der 48-Jährige wird in der autonomen Szene Leh genannt und ist wohl der letzte aus den 70ern übrig gebliebene Anarchohippie der Kommune. Hageres Gesicht, langes, dünn gewordenes Haar und diesen rotzig-trotzigen Ausdruck im Blick, der zu sagen scheint: »Ej, komm mir bloß nicht mit dem Staat, Alter.«
Die Zeit scheint in der Kommune irgendwann in den frühen 80er Jahren stehengeblieben zu sein. Im Gemeinschaftsraum steht ein großer abgenutzter Holztisch, an dem noch immer das wöchentliche Plenum stattfindet, bei dem natürlich nach dem Konsensprinzip entschieden wird. Zehn kunterbunt zusammengewürfelte Stühle in Weiß, Lila und Braun drum herum erinnern an Vor-Ikea-Zeiten. Immer wieder kommt eine Mutter oder ein Vater mit Kind herein, um sich in der mit kunstvoll zersplitterten Wandfliesen gestalteten Küche Essen zuzubereiten. Dazwischen Kindergeschrei, zusammenhanglos erscheinende Aktivitäten von Einzelnen, die sich nur zufällig in einem großen Raum zu begegnen scheinen - wie in einer kleinen Bahnhofshalle. Zwischendurch schaut jeder mal kurz in das Kommunebuch, in das alle Neuigkeiten eingetragen werden, und verschwindet sogleich wieder auf sein Zimmer.
Der Traum der Kommune begann für die Zorrows, als sich im Jahr 1983 zwei Gruppen zusammenfanden. Im damaligen Szenebezirk Charlottenburg wurde ein besetztes Haus geräumt, und über persönliche Bekanntschaften fand man sich zusammen mit Leuten vom Martinswerk, einer Einrichtung zur Schaffung preiswerten Wohnraums. Ein Name für das Selbsthilfeprojekt war schnell gefunden. Man nahm Zorro, den legendären Kämpfer der Entrechteten, als Namenspatron und fand heraus, dass der Zipfel vom Wedding rund um die Grüntaler Straße in den 30er Jahren zu Pankow gehörte. Es klang in den sozial bewegten Zeiten überaus subversiv, sich nach dem Bezirk zu benennen, in dem der damalige Hauptfeind des West-Berliner Establishments residierte, so Lehmann noch heute mit feixender Ironie. Man musste also nur noch das W spielerisch vertauschen, und so entstand der Verein Zorrow in Panko e.V. Zum 20-jährigen Bestehen hat Zorrow jetzt ein großes Hoffest gefeiert, zu dem fast 500 Gäste kamen, davon beinahe 150 ehemalige Kommunarden.
Es gab schon immer hitzige Debatten bei den Zorrows darüber, wie weit man bei der Durchsetzung kommunitärer Lebensformen gehen sollte. Während Lehmann und andere politisch Bewegte eine Vollkommune mit völligem Gemeinschaftswohnen und -eigentum anstrebten, wollten andere lieber in Wohngemeinschaften leben. Man einigte sich auf das Wohnen in Etagen und die Möglichkeit, sowohl in der Gemeinschaftküche als auch in kleinen Etagenküchen zu kochen. Herzstück der Kommune ist bis heute das Vetorecht jedes Mitbewohners, vor allem bei Neueinzügen, und die gestaffelte Miete: 20 Prozent des Einkommens. Kinder leben kostenfrei. In die gemeinschaftliche Haushaltskasse zahlt ein Erwachsener pro Woche etwa 40 Euro. Wer also mit einem Einkommen von 1000 Euro und zwei Kindern bei Zorrow lebt, kann mit 360 Euro die gesamte Grundversorgung seiner Familie sichern. Und tatsächlich gebe es immer wieder mal Leute, die eine Zeitlang garnichts verdienen und trotzdem von der Gruppe mitgetragen werden, so Leh. Bis heute gibt es neben dem für alle nutzbaren Atelier, dem Fotolabor und der gemeinsamen Bibliothek ein Kinderzimmer, das jetzt auch von Kindern aus der Nachbarschaft besucht wird, seit eine Zorrow-Bewohnerin als Tagesmutter arbeitet.
Während bei der Gründung die meisten Zorrows noch Studenten waren, gehen sie heute bürgerlichen Berufen wie Lehrer, Techniker, Redakteur nach. Nur bei Lehmann verhält es sich genau andersrum. Schwer vorstellbar, dass dieser Alt-Autonome ein echter Pfarrer ist. Erst 1991 stieg er auf eigenen Wunsch aus dem bezahlten Kirchendienst aus, wohl weil er erkannte, dass die evangelische Kirche keine Kommune mehr im frühchristlichen Sinne ist. Bis heute gibt er aber noch einmal im Monat einen Hauptgottesdienst in der Lehmkapelle auf dem Mauerstreifen an der Bernauer Straße. Heute lebt Leh vom Taxifahren in einem Kreuzberger Kollektiv und zahlt seine Rentenbeiträge beim autonomen Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RgW) in Kreuzberg ein.
Vor einigen Jahren war Leh noch mit Isabel zusammen. Heute ist ihre gemeinsame Tochter neun Jahre alt. Isabel lebt mit ihrem neuen Freund ebenfalls bei den Zorrows. Auch mit ihm hat sie ein Kind. Leh ist jetzt mit Gabi zusammen, die ein Kind von Uwe hat, mit dem Leh vor Jahren zusammen das Offene Wohnen unterm Dach ausprobiert hatte, Wohnen ohne Wände dazwischen, alles teilen. Leh räumt ein, dass das konfliktreiche Beziehungschaos »eine harte Schule für die Erwachsenen war«, besteht aber darauf, »dass es gut für die Kinder« sei. Den Kindern blieben die Bezugspersonen erhalten. Diese Entwicklung sei auch nur möglich gewesen, weil alle Parteien »den Rückhalt in der Gruppe« hatten. Wahrscheinlich liegt darin der Grund dafür, dass Leh noch immer bei den Zorrows lebt, obwohl er immer schon derjenige war, der »weiter wollte«, der aus Zorrow eine Vollkommune machen wollte, in der alle alles teilen, Anarchismus eben, herrschaftsfrei, libertär.
Seit sich Zorrow vor knapp zwei Jahren einer Supervision unterzogen hatte, gibt sich selbst Lehmann bescheidener. »Ein Zusammenhang wie Zorrow kann dir Kraft geben wie eine Ehe, eine Familie.« Auch Lehrerin Antje hat inzwischen erkannt, dass sich einige hardliner der Kommuneidee an einem »Dogma« festgehalten hatten. Manche der Ehemaligen sind wegen dieses Dogmas ausgezogen, und weil sie die Unverbindlichkeit der Beziehungen untereinander nicht mehr ausgehalten haben. In einem Abschiedsbrief bedauert Eva-Maria, nicht früher gemerkt zu haben, dass »der große Wunsch, es besser zu machen als die Eltern, die Angepassten, die spießigen Nachbarn«, eine Illusion war. »Leider sind wir genau wie diese. Die Machtstrukturen, die wir aufbrechen wollten, haben wir in anderer Form zementiert.«
Von ehemaligen BewohnerInnen gingen aber auch erfolgreiche Projekte wie die Gründung des »Franzenhofs« durch Christiane aus, eine Bildungseinrichtung für Frauen in Brandenburg. Die meisten Ehemaligen sagen heute: »Ich bin froh, dass ich weg bin«, weiß Lehmann aus Gesprächen zu berichten, aber wenn sie ans Alter denken, stellen sie sich eine Kommune wie Zorrow vor. Zorrow als Altersheim, schmunzelt Lehmann.
Heute sind die gemeinsamen Abendessen seltener geworden. Der einst für politische Versammlungen genutzte Veranstaltungsraum ist fast vollständig mit Efeuranken zugewachsen. Der Biermannspruch aus Wendezeiten ist längst verblasst. Nur Leh tingelt noch wie ein gealterter Rockmusiker über Dörfer und Städte, um bei öffentlic...

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