Über 21 Stationen mit falschem S-Bahn-Zugführer

Fahrer ist vorbestraft/Ermittlungsverfahren gegen den Täter und die Polizeibeamten

  • Peter Kirschey
  • Lesedauer: ca. 3.5 Min.
Zwei Tage nach einer mysteriösen S-Bahnfahrt stehen die Ermittler noch immer vor Rätseln. Unklar sind vor allem die Motive des Täters. Gestern teilte Justizsprecher Björn Retzlaff erste Untersuchungsergebnisse mit. Danach befand sich am Sonnabend gegen 16 Uhr ein Zug der Linie 42 auf der Ringbahn in Richtung Königs Wusterhausen. Auf dem S-Bahnhof Bundesplatz war der 19-jährige Steffen B. mit S-Bahn-Weste und DB-Jacke zugestiegen. Er wurde von der Fahrerin gleich in den Führerstand gelassen. Offenbar war sie nach ersten Ermittlungen erleichtert darüber, dass ein Kollege in der Nähe war, der ihr in einer schwierigen Situation zur Seite stehen konnte. Da sie über Unwohlsein geklagt haben soll, bot der Mann ihr an, die Fahrt zu übernehmen. Ob es tatsächlich so war, ist noch nicht geklärt. Die Frau soll sich während der gesamten Fahrt im Triebwagen aufgehalten haben. Steffen B. steuerte den Zug ohne Probleme nach Königs Wusterhausen, hielt ordnungsgemäß an den einzelnen Bahnhöfen. Von den Fahrgästen hatte niemand etwas bemerkt. Auf der Endstation Königs Wusterhausen muss er dann im Beisein der Fahrerin den Wagen verlassen haben, um sich in den Führerstand in Richtung Berlin zu begeben. Danach fuhren sie zurück in die Innenstadt - alles in allem saß Steffen B. 21 Stationen am Steuerpult. Inzwischen hatte eine S-Bahnmitarbeiterin die Betriebsaufsicht informiert. Sie hatte zufällig gesehen, wie der Mann in die Fahrerkabine gestiegen war und wusste, dass er von der Aufsicht gesucht wurde. Denn er war in den letzten Wochen wiederholt in Diensträumen der S-Bahn aufgetaucht und hatte sich dort als Mitarbeiter ausgegeben. Auf der Station Eichwalde stiegen dann gegen 18.10 Uhr S-Bahnmitarbeiter in die Führerkabine und verlangten, dass der Fahrer seinen Betriebsausweis und den Triebwagenführerschein vorlegen soll. Als das nicht geschah, übernahm ab S-Bahnhof Grünau das Kontrollpersonal die Weiterfahrt. Auf dem Bahnhof Hermannstraße wurde der falsche Fahrer dem Bundesgrenzschutz übergeben. Dabei gab B. an, seine Papiere in seiner Wohnung in der Storkower Straße liegen gelassen zu haben. Mit einem Auto fuhren die Grenzschützer zum mutmaßlichen Wohnort. In der Storkower Straße angekommen, konnte er aber sein Wohnhaus nicht zeigen. Als eine herbeigerufene Polizeistreife den Mann durchsuchen wollte, riss er sich los und flüchtete. Es kam zu einem ersten Schusswechsel, bei dem der Mann aber nicht getroffen wurde. Schließlich versteckte sich Steffen B. in einem Hauseingang der Rudolf-Seiffert-Straße. Dort gaben die Polizeibeamten zwei Schüsse auf den mutmaßlichen Täter ab, nachdem er der Aufforderung, seine Waffe niederzulegen, nicht nachgekommen war. Die Kugeln trafen ihn am linken Oberschenkel und im Brustbereich. B. brach daraufhin zusammen und ließ sich widerstandslos festnehmen. Er wurde sofort ins Krankenhaus Friedrichshain gebracht und notoperiert. Er befindet sich nach Aussagen des Justizsprechers nicht in Lebensgefahr, ist aber noch nicht vernehmungsfähig. B.s Waffe stellte sich als ein echt aussehender Gas-Trommelrevolver heraus. R. ist bei der Justiz kein Unbekannter. Er wurde zur Vollstreckung einer Reststrafe per Haftbefehl gesucht, nachdem er bereits eine Jugendstrafe von 18 Monaten wegen Betrugs verbüßt hatte und ein weiteres Mal straffällig geworden war. Die juristischen Ermittlungen erstrecken sich nicht nur auf Steffen B. Er muss sich möglicherweise wegen des Verdachts des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte verantworten. Auch gegen die beiden Beamten wird ermittelt. Gegen sie läuft ein Verfahren wegen des Verdachts der gefährlichen Körperverletzung. Unklar ist nach bisherigem Stand der Untersuchungen, warum die S-Bahnfahrerin den Zug einer betriebsfremden Person übergab. Es gibt bei der S-Bahn Sicherheitsmechanismen, die in außergewöhnlichen Situationen einsetzen. Der Fahrer muss über einen speziellen Schlüssel und über eine Chipkarte verfügen, die zur Legitimation bei Entgegennahme des Arbeitsauftrages dienen. Da aber die Triebfahrzeugführerin die ganze Zeit über im Führerstand war, wurden keine besonderen Sicherheitsvorkehrungen in Kraft gesetzt. Die S-Bahn wies jedoch die Vermutung zurück, es habe sich bei der illegalen Fahrt von Steffen B. um »Entführung« oder »Kidnapping« gehandelt. Gleichzeitig bestätigte sie, dass es sich bei dem Fahrer nicht um einen Mitarbeiter der S-Bahn gehandelt habe. Zu keiner Zeit der über zweistündigen Geisterfahrt hätten Gefahren für die Fahrgäste bestanden, erklärte das Unternehmen. Alle S-Bahn Züge seien durch eine Sicherung vor unbefugter Benutzung geschützt. Wie es dennoch dazu kam, müssen...

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