Höher - schneller - grausamer
Warum Weltrekordler die Plage des 21. Jahrhunderts sind. Eine Abrechnung
Mike konnte nichts dafür. Der Hahn hatte sich wahrscheinlich in seinem nur minimal voluminösen Hirn schon ein schönes, langes Leben auf und unter Hennen ausgemalt. Doch der 10. September 1945 machte alle seine Hoffnungen zunichte. An jenem Tag nämlich entschloss sich sein Besitzer, ein in Fruita im US-Bundesstaat Oregon residierender Lloyd Olsen, Mikes Lebenslinie zu kappen - er schlug dem Hahn kurzerhand den Kopf ab. Womit Olsen wohl nicht gerechnet hatte: Der erst fünfeinhalb Monate alte, aber schon vor der Zeit um einen Kopf kürzere Mike bewies einen schier unbändigen Lebenswillen. Er lebte, obwohl seines stolzen Hauptes auf brutalste Weise beraubt, noch 18 Monate weiter munter in den Tag. Hahnenhenker Olsen, den offenbar ein schlechtes Gewissen plagte, fütterte und tränkte sein Opfer mit einer Pipette direkt in die Speiseröhre. In einem Motel in Arizona erstickte Mike schließlich.
So weit die Legende, die sich seit Wunderhahn Mikes Aufstieg in himmlische Kratz- und Scharrgehege um das enthauptete Federvieh rankt. Der postmortale Ruhm war Mike, dem kopflosen Hahn, sicher: Er ist einer der skurrilsten und spektakulärsten Fälle, die es jemals in das Guinness-Buch der Rekorde geschafft haben. Für den »Hahn, der am längsten ohne Kopf lebte«, wurden die Seiten der alljährlich unters Leservolk geworfenen Rekordschwarte zum Pantheon. Der Eintrag ins Buch der Rekorde bescherte Mike eine weltumspannende Fangemeinde, was in einer eigenen Homepage seiner internationalen Jüngerschaft gipfelte: Unter www.miketheheadlesschicken.org finden sich Porträts von Mike (ohne Kopf), T-Shirts von Mike (mit Kopf) - der internationale Devotionalienhandel blüht, Guinness sei Dank. Bloß »Wienerwald« hat es bislang versäumt, den geköpften Hahn für Werbezwecke auszuschlachten.
Der lebensfrohe Mike hatte sicherlich anderes geplant als seine Verewigung in den Reihen der Weltrekordler. Diese Bescheidenheit geht so manchen irregeleiteten menschlichen Erdenbewohnern leider gänzlich ab. Sie scheinen stattdessen nur ein einziges Lebensziel im Kopf zu haben, der Wunderhahn Mike so unvermittelt abhanden kam: einmal im Leben einen Rekord aufstellen. Dabei schrecken diese Exemplare des homo sapiens mitunter auch nicht davor zurück, sich mit aller Gewalt zum Primaten zu machen. Wie zum Beispiel Uwe P. Bures aus Bremen. Der gute Mann ist, darf man den Fotos glauben, die vor zwei Jahren in der Republik kursierten, um die 30, vielleicht auch älter. Sein kindliches Gemüt hatte sich das Nordlicht allerdings bis dato erfolgreich bewahrt und nichts geringeres als eine Sesamstraßen-Sammlung beim Guinness-Team als Rekordanlass angemeldet. Mit Erfolg: Die Jury der Weltrekordverwalter war hin und weg. 460 verschiedene Exponate wie Plüschfiguren, T-Shirts, Spielzeuge zierten laut Eintrag in der Guinness-Buch-Ausgabe 2002 das traute Heim des Herrn Bures. Jetzt aber mal unter uns Rekordjägern: Wie kommt man als erwachsener Mensch bitteschön dazu, seine Butze zum Kinderzimmer umzugestalten? Und mit dieser Tatsache auch noch hausieren zu gehen? Ist das eine Obsession, die eigens für sexuelle Solisten entwickelt wurde? Mal ehrlich: Welche Frau wird es übermäßig erotisch finden, wenn beim Candlelight-Dinner ein Stuhl extra für Samson oder Bibo reserviert wird und am Ende die unausweichliche Ermahnung an sie ergeht, vom Mousse au chocolat auch etwas für Kermit übrig zu lassen? Wenn sie sich im gedimmten Boudoir neben den heiß begehrten Amor betten will - und dort schon Ernie und Bert Platz genommen haben? Wenn der Traumprinz ihr gegenüber von Tiffy schwärmt und dabei hingebungsvoll Keksreste auf der Bettdecke verteilt, um für krümelmonsterliche Romantik zu sorgen? Wer heute im Bremer Telefonbuch nach Uwe P. Bures forscht, findet keine Spur mehr von dem einst so kecken Weltrekordler. Weder unter der Sesam- noch unter einer anderen Straße ist er verzeichnet. Vielleicht, wer weiß, sind dem Rekord späte Einsicht, Reue und die Fügung in das unausweichliche Erwachsenwerden gefolgt. Vielleicht auch ist der einstige Weltrekordler nach Guatemala ausgewandert, um dort ein neues Leben zu beginnen, einen neuen Anfang zu wagen. Ohne Kermit & Co.
Andere Rekordverursacher zeigen sich da unbeirrt uneinsichtig. Frei von jeglichem Selbstzweifel, rekordlern sie, was das Zeug hält. Die Geschichte der Weltrekorde weiß von wahren Serientätern, die Jahr für Jahr ihren eigenen Vorjahresrekord noch zu übertrumpfen trachten. Ohne Rücksicht auf Verluste. Leif Boysen aus Harrislee etwa ist so jemand. Der Mann aus dem deutsch-dänischen Zonenrandgebiet strapaziert die Geduld und Nachsicht seiner Mitmenschen bereits seit Jahren auf besonders penetrante Art und Weise: In der Zeit von September 1983 bis März 2002 wurden nicht weniger als 1882 Leserbriefe aus seiner Feder in über 70 Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht. Deutschlandweit. Im Frühjahr 2001 hatte sein persönlicher Rekord noch bei 1570 Abdrucken gelegen. Im Dezember 2002 schließlich lag Boysen bereits bei 2018 veröffentlichten Briefen. Insgesamt hatte Leif Boysen, sozusagen das westdeutsche Pendant zu Dauer- und Vielschreiber-Ossi Werner Klopsteg aus Berlin, in all den Jahren über 7000 Leserbriefe geschrieben. Seinen bislang folgenreichsten Brief schrieb er an die Talentscouts vom Guinness-Komitee, um ihnen brühwarm von seinen Taten zu berichten. Seitdem ist ihm das Abo auf einen eigenen Rekordeintrag sicher. Die Zeit für 7000 plus x butterweiche Schwalltiraden zu allen möglichen und unmöglichen Themen der Weltgeschichte hat ihm bislang offenbar nicht gefehlt: Der Vielschreiber ist - quasi nebenberuflich - als Justizbeamter tätig.
Obwohl: Sollte er sozusagen als Mann vom Fach nicht wissen, welche Strafe auf groben Unfug in äußerst schwerem Fall steht? Und auch die Post sollte genau überlegen, ob sie sich mit der Beförderung von Boysens Briefen nicht in gewisser Weise der Komplizenschaft schuldig macht: Wie viele geschundene Redakteursnerven hat Leif Boysen auf dem Gewissen? 7000 Leserbriefe - 7000 arme Journalistenseelen? Und wenn jeder Brief gar von zwei ahnungslosen Redakteuren gelesen wurde? Nicht auszudenken! Von den Lesern, die nichts ahnend in ihrer Heim- und Stammgazette auf Boysens Gedanken zu Prinz Charles oder Shawne Borer-Fielding stoßen, ganz zu schweigen! Sie sind bei dieser Rechnung als literarische Kollateralschäden noch gar nicht mit berücksichtigt! Eigentlich ist die schreibende Stalinorgel aus Harrislee schon ein Fall für die Anti-Terror-Krieger der westlichen Allianz. Da diese zur Zeit allerdings noch anderweitig beschäftigt sind, haben einige Redaktionen in der Zwischenzeit mit einem Boysen-Boykott die Flucht in die Selbsthilfe angetreten. Verzweifelt - und mit zweifelhaftem Erfolg: Wenn Boysen beispielsweise zum Liebesleben in der schweizerischen Botschaft schreibt, tut er dies längst nicht mehr nur unter seinem Klarnamen, sondern auch unter Pseudonym. Der Stakkatogriffel, dessen Wochenproduktion bei rund 20 Leserbriefen liegt, kennt keine Gnade. Im Namen des Rekordes ist ihm jedes Mittel recht.
Wenn es um Rekorde geht, kennen aber nicht nur solche Menschen keine Verwandten mehr, deren Sadismus zumindest unzweifelhaft rekordverdächtig ist: Die neueren Annalen der Weltrekorde wissen auch von Vertretern zu berichten, bei denen sich Penetranz gegenüber ihren Mitmenschen mit Grausamkeit gegen den eigenen Körper vermischen. Nicht auszudenken ist in diesem Zusammenhang, was drei Amerikaner vor einigen Jahren dazu trieb, sich zwei Minuten und 35 Sekunden lang in einen Plexiglaswürfel mit den Maßen 65 x 65 x 60 Zentimeter sperren zu lassen. Wer musste danach als Organspender für diese Quetsch-Masochisten herhalten, fragt man sich da? Und, vor allem: Können Krankenkassen solche Akte der Selbstverstümmelung zulassen - aber sich hinterher über das Vakuum in ihren monetären Medizinschränken beklagen?
Besonders verwerflich erscheint das Beispiel eines Mannes aus Dülmen nahe der deutsch-niederländischen Grenze: Der laut Lokalpresse auch als »Iron Manni« bekannte Grenzfall fuhr vom 6. bis zum 8. Oktober 2001 auf der Kirmes seiner Heimatstadt in einer Gesamtfahrzeit von 24 Stunden 250 Mal in einem Karussell namens »Disco-Jet« und verlor dabei fünf Kilo Gewicht. Seinen Verstand muss der eiserne Manni schon vorher verloren haben. Der Lohn für seinen vollen Körpereinsatz: Er darf sich fürderhin »Rekord-Drehwurm« nennen. Toll. Wie oft aber Iron Mannis Magen nach dieser Selbstschädigung zu Hause über der Toilettenschüssel rotierte, bleibt ebenso im Dunkeln wie mögliche Folgeschäden solcher Aktionen, die den Vergleich mit einer unbehelmten Kanufahrt von Nichtschwimmern über die Niagara-Fälle nicht zu scheuen brauchen. Vielleicht sollte die uns alle gesund und munter sparende Ministerin Schmidt für Fälle wie den des eisernen Manfred oder jenes Franzosen, der binnen einer Minute 27 Mal in seinen Slip rein und wieder raus sprang, über eine Schnelle Eingreiftruppe nachdenken, um mögliche Schädigungen des eigenen Körpers auf Kosten der Allgemeinheit zu verhindern.
Gegen solche und andere Quälgeister, die uns mit ihren abstrusen Rekorden vor Augen führen, zu welchen Untaten der homo sapiens im 21. Jahrhundert fähig ist, ist Hahn Mike ein echtes Beispiel an Menschenliebe. Das bedauernswerte Tier konnte schließlich nichts für seine persönliche Höchstleistung. Sie kam ganz ohne Profilneurose zustande. Und sich selbst in seinem Rekord übertrumpfen kann der kopflose Mike sch...
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