Sowohl als auch

Wissenschaftspolitik in der DDR - in Dokumenten

  • Reinhard Mocek
  • Lesedauer: 4 Min.
Zur Wissenschaftspolitik der SED und der Sowjetischen Militäradministration nach 1945 gibt es inzwischen, vorsichtig geschätzt, rund 250 Monografien und Aufsätze. Um die dabei getroffenen Einschätzungen abzusichern, bedarf es der Auswertung der vorliegenden Quellen und Archivalien. 130 davon aus den ersten beiden Etappen der DDR-Wissenschaftspolitik, die er von 1945 bis 1961 datiert, legt Andreas Malycha, ein noch unter DDR-Verhältnissen sozialisierter Gesellschaftswissenschaftler, vor. Er verbindet damit den Anspruch einer solchen Absicherung. Die Dokumente - Briefe der DDR-Wissenschaftselite, Entwürfe von Reden und Berichten wissenschaftsleitender Organe, Planungsvorlagen zur Arbeit in den Wissenschaftseinrichtungen, Anweisungen und Beschlüsse der zuständigen übergeordneten Organe zu Forschung, Wissenschaft und Bildung - bieten nicht nur für den einschlägig Interessierten eine faszinierende Lektüre, sondern dürften auch jeden Bürger hier zu Lande, der Tonart und Stil der DDR-Politik sowie des Umgangs der Wissenschaftler mit dieser Politik nicht aus eigenem Erleben kennt, nachdenklich machen. Und das im doppelten Sinne. Denn neben den rüden Zurechtweisungen (an die Adresse der vermeintlichen oder potenziellen Feinde, aber auch an die der eigenen Genossen) und rigiden Anordnungen seitens der Politik gibt es überraschend viel Kooperatives und Konstruktives. Da ist es nahe liegend, dass Malycha gleich mit dem dritten Satz dieses Problem aufspießt. Dort stellt er fest, dass wohl der »Anspruch der Machtausübenden in der DDR auf totale Beherrschung der Gesellschaft, ihre Verstrickung in eine mit Repressalien und Verbrechen verbundene Entwicklung« nach 1990 heftig diskutiert (und betont) wurde, hingegen die besondere Rolle von Wissenschaft und Forschung in dieser Gesellschaft bislang unzureichend berücksichtigt worden sei. Es geht also um die inzwischen die neuere DDR-Literatur beherrschende Frage nach der besonderen formalen und inhaltlichen Lebenskultur in der DDR. In diesem Falle: Wissenschaft wurde nicht nur geplant, beherrscht, vor den Wagen der Parteioberen gespannt, politisiert und ideologisiert usw., sondern in ihr formte sich ein ganz bestimmter kognitiver Arbeits- und Lebensstil, der in Struktur und Resultat und trotz allem dem hehren Erkenntnisanliegen von Wissenschaft verpflichtet blieb. Nicht ein entweder oder, sondern ein sowohl als auch wäre nach diesem Einleitungssatz von Malycha zu erwarten gewesen. Doch Malycha belässt es leider nur bei dieser Feststellung; er selbst folgt doch ziemlich bedingungslos dem so genannten totalitarismustheoretischen Ansatz, der die SED-Oberen in eben diesem Lichte als machtbesessene Politfiguren hinstellt, denen sich die Wissenschaft ausliefern musste und - folgt man dieser Charakterisierung - gedemütigt in ideologischen Niederungen verdämmert ist. Aber so wörtlich darf man das auch nicht nehmen, denn über diese ganzen siebzehn Jahre, die Malycha dokumentiert, gab es trotz aller durchgreifenden Verwüstungen im Wissenschaftsleben stets Aufbau und Stabilisierung, Phasen der Autonomie, offene Wissenschaftskonkurrenz und sehr viel Selbstbewusstsein. Die neuen Ansätze werden aber nicht sichtbar gemacht. Die Einrichtung der Arbeiter- und Bauernfakultäten etwa wird allein unter dem Aspekt der Machterhaltung und der Schaffung einer Machtreserve für die Partei gesehen. Gewiss zählt das geförderte Arbeiterstudium heute nichts mehr im hochschulpolitischen Alltag (dafür hat sich die soziale Basis auch völlig verändert). Aber damals war das eine soziologisch überaus relevante hochschulpolitische Umwälzung, die in der deutschen Bildungsgeschichte kein Beispiel kennt. Weit entfernt von der Analyse bleibt jeglicher zeitgeschichtlicher Bezug. Etwa die Frage, ob es seinerzeit auch so etwas wie eine Aufbauintention gegeben hat; aus dem Nichts, aus Trümmern und auf dem Wege der Gewinnung einer verbitterten, in jeder Beziehung am Boden liegenden Bevölkerung eine neue, andere Gesellschaft zu gestalten? Und ob es vielen nicht nur darum ging, einfach die »braune Zwangsjacke« nun mit einer »roten Zwangsjacke« zu vertauschen, wie es Fritz Selbmann, zurückgekehrt aus dem KZ, in seiner ersten Rede in Leipzig 1945 vor dem antifaschistischen Block ausgerufen hat. Überhaupt ändert sich die Perspektive, wenn man auf die Politakteure schaut. Ich habe nie einen gerechteren, menschlicheren, gütigeren Menschen gekannt als meinen Betreuer und Doktorvater Gerhard Harig, der von 1951 bis 1958 - also in der Periode der »totalitär intendierten Politik« der SED gegenüber der Wissenschaft - Staatssekretär für das Hoch- und Fachschulwesen der DDR gewesen war; also, nach der hier vertretenen Theorie ein übler Mittäter, wenngleich ich Malycha zugute halte, dass er Harig in einem solchen Zusammenhang selbst nicht erwähnt. Hier stellt sich allerdings auch die Frage nach den Prinzipien der Dokumentenauswahl in vorliegendem Band. Harigs Nachlass ist nicht dabei. Diese kritische Anmerkung soll die enorme intellektuelle Leistung Malychas nicht schmälern; allein sein vorangestellter Literaturüberblick ist überaus verdienstvoll. Die Gliederung der DDR-Wissenschaft in fünf Phasen ist durch die Dokumente gut abgesichert, bedarf wohl noch der Verfeinerung, aber die Forschungsarbeit geht ja weiter. Man könnte mit der Lektüre des Dokumententeils beginnen. Von da aus wäre zu befinden, ob man mit Malychas Einleitung konform gehen kann. Andreas Malycha: Geplante Wissenschaft. Eine Quellenedition zur DDR-Wissenschaftsgeschichte 1945-1961. Beiträge zur DDR-Wissenschaftsgeschichte. Reihe A/Band 1. Herausgegeben von Clemens Burrichter und Gerald Diesner. Akademische Verlagsanstalt, Altenburg 2003. 706S., geb., 72 EUR.
Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal